Scarface

  • DuMont
  • Erschienen: Januar 1999
  • 1
  • New York: Edward J. Clode, 1930, Titel: 'Scarface', Seiten: 286, Originalsprache
  • Erftstadt: Area, 2006, Titel: 'Scarface', Seiten: 237, Übersetzt: Joachim Körber
  • Köln: DuMont, 1999, Seiten: 229, Übersetzt: Christian Jentzsch
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Michael Drewniok
25°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2010

Die Welt gehört mir – aber nicht lange

Anfang des 20. Jahrhunderts hat die aktuelle Einwanderungswelle aus Europa auch Chicago, die Stadt am Michigan-See im US-Staat Michigan, erreicht. Wie Millionen anderer hoffnungsfroher Immigranten haben sich die Guarinos ins angeblich Gelobte Land jenseits des Atlantiks aufgemacht, um dort feststellen zu müssen, dass man sie dort keineswegs mit offenen Armen aufnimmt. Trotz harter und ehrlicher Arbeit vegetiert die Familie in Armut und Elend im gesellschaftlichen Abseits dahin. Sohn Tony, Amerikaner der ersten Generation, ist nicht gebildet aber intelligent und ehrgeizig. Er kommt zu dem Schluss, dass kein legaler Weg aus dem Ghetto oder gar zu Ruhm und Reichtum führen wird. So beginnt er sich zu nehmen, was ihm die Gesellschaft seiner Meinung nach vorenthält.

Wie ein entschlossener Mann ohne Skrupel zwar nicht zu Ansehen, aber zu Geld kommen kann, lernt Tony nicht in der Schule, sondern auf den Straßen seiner Heimatstadt. Schon vor dem I. Weltkrieg ist Chicago eine Stadt, in der mächtige Gangsterbanden das Sagen haben. Eine durch und durch korrupte Stadtverwaltung duldet im perfekten Zusammenspiel mit den bestechlichen Justizbehörden und der käuflichen Polizei das organisierte Verbrechen und kassiert dafür ordentlich ab. Das Bandenwesen ist noch wild und ungeordnet, doch eine neue Verbrechergeneration steht bereits in den Startlöchern. Tony ist der Gangster der Zukunft; er hat Köpfchen, scheut vor Gewalt nicht zurück, wendet sie aber planvoll an: Der Verbrecher agiert als moderner Geschäftsmann.

Den letzten Schliff erfährt Junggangster Tony auf den Schlachtfeldern des I. Weltkriegs, wo ihm eine seiner waghalsigen Unternehmungen eine entstellende Gesichtsnarbe und den Spitznamen "Scarface" einträgt. Tony kehrt zurück nach Chicago, wo er als "Tony Camonte" als geschickter Stratege rasch zum Anführer einer eigenen Bande aufsteigt. Aber die Konkurrenz schläft nicht. Ein Bandenkrieg bricht aus, den Camonte mit allen Mitteln für sich zu entscheiden gedenkt ...

Nicht alle Geschichten reifen wie Wein

 Scarface, der Roman, gehört zu den oft zitierten (aber offensichtlich selten gelesenen) Klassikern der Kriminalliteratur. Zumindest in Deutschland war dies viele Jahre ohnehin schwer möglich: Stolze siebzig Jahre nach der Erstveröffentlichung in den USA brachte der DuMont Verlag Scarface 1999 in seiner kurzlebigen "Noir"‑Reihe heraus.

 Die Lektüre macht rasch deutlich, dass dem Krimifreund kein Verlust entstand. Scarface ist ein roher, ja primitiver Reißer, der seinen Ruhm ausschließlich der Tatsache verdankt, einer der ersten Romane zu sein, die im Milieu des organisierten Verbrechens spielen. Man muss bei der Lektüre berücksichtigen, dass Armitage Trail jene Szenen und Bilder, die heute reflexartig beim Stichwort "Gangster in Chicago" vor dem kollektiven geistigen Auge auftauchen, quasi erfunden hat. Schon wenige Jahre später waren die schweren Jungs und ihre leichten Mädchen zum Klischee verkommen.

 Da lebte Trail (alias Maurice Coons, 1902‑1930) bereits nicht mehr. Er versäumte den Augenblick, der seinen grobschlächtigen Erstling in den Olymp der Unterhaltung eingehen ließ: Howard Hawks´ filmisches Meisterwerk Scarface übersetzte 1932 das, was Trail ohne Wissen um seine mythische Kraft zusammengetragen hatte, in suggestive Bilder und eine mitreißende Geschichte, die noch im 21. Jahrhundert durch ihre Intensität überrascht und sich 1983 von Brian De Palma in seinem Scarface-Remake wiederbeleben ließ: Tony Camontes Welt ist vor allem die Welt des Kinos.

 Zwischen Realität und Mythos

 Der Roman von 1930 ist dagegen ein historisches Kuriosum, das primär den Genre-Experten ansprechen dürfte. Außerdem ist Scarface ein interessantes Zeitdokument. Trail schrieb seinen Roman auf dem Höhepunkt der ´Gangstermania´ in den USA. Die Presse liebte Männer wie Giacomo Colosimo, John Torrio oder Al Capone und ihre Mörder und Schläger, die romantisch‑verruchte Spitznamen wie "Machine Gun Kelly", Frank "The Enforcer" Nitti oder "Babyface Nelson" trugen und dem braven Bürger in seiner sicheren heimischen Stube angenehme Gruselschauer bescherten.

 Jenseits reißerischer Schlagzeilen gab es aber auch zu dieser Zeit bereits Bemühungen, hinter die Fassade zu blicken. Scarface spricht viele Realitäten an, die man in einem solchen Machwerk nicht vermuten würde und die erst viel später in fünffingerdicken, hoch gelehrten Sachbüchern wieder auftauchten. Dabei schreckt Trail, der diese Fakten angeblich persönlich in der Unterwelt recherchierte, auch vor unangenehmen Wahrheiten nicht zurück, die vor allem Politik und Justiz bigott und scheinheilig zu vertuschen suchten.

 Der Aufstieg des organisierten Verbrechens in den USA ist in erster Linie ein hausgemachtes Problem. Die Einführung der Prohibition, eines gut gemeinten, aber schlecht durchdachten und letztlich sinnlosen Gesetzes, das von der Mehrheit der Bürger nicht angenommen wurde, führte zwischen 1919 und 1932 zum Aufbau einer ´schwarzen´ Alkoholindustrie im Untergrund und quasi zur Entstehung illegaler Wirtschaftskonzerne; eine Entwicklung, die nicht mehr rückgängig zu machen war, was Trail recht schlüssig nachzeichnet.

 Schwere Jungs ohne echte Chancen

 Leider hat sich sein schriftstellerisches Geschick darin erschöpft. In den Faktenrahmen eingebettet wird eine einfache und an sich funktionstüchtige, jedoch hoffnungslos in Klischees und Moralismen erstickende und auf niedrigstem Erzählniveau dargebotene Geschichte, die bei allem Verständnis für einen Roman, der bereits 1930 entstand, die Geduld des Leser überstrapaziert.

 So ist Tony Camonte eine kaum verhohlene ´Hommage´ an den berühmten Gangsterboss Al(phonse) Capone (1899‑1947), gesehen allerdings durch die Augen eines "Pulp"‑Vielschreibers. Allen hellsichtigen Momenten zum Trotz sind Trails Gangster hässlich, verschlagen, eben böse (aber zeittypisch stets weiß) und daher ideales Futter für die Kanonen der "moralischen Mehrheit" ihrer Ära: Wer so offensichtlich wie ein wildes Tier lebt, um den ist es nicht schade, wenn ihn eine Kugel niederstreckt. Glücklicherweise bringen sich Verbrecher in der Regel selbst um, sodass der brave Bürger sich nicht die Hände schmutzig machen muss.

 Die Eindimensionalität der Charakterisierung setzt sich im Formalen ungebrochen fort. Trail schreibt die Worte offenbar nieder, wie sie gerade einfielen. An eine Überarbeitung des hastig heruntergeraspelten Textes mag man kaum glauben. Unklar bleibt auch die Qualität der Eindeutschung. Hält sie sich eng ans Original gehalten haben sollte, wäre zumindest dem Übersetzer kein Vorwurf zu machen. Lesenswerter wird Scarface durch die dabei gewonnene Authentizität aber nicht.

 Dicker Mann gerinnt zum verkannten Genie

 Maurice Coons war nach Auskunft von Martin Compart, der zur deutschen Scarface-Ausgabe ein Vor- und Nachwort schrieb, ein unkonventionelles, produktives Schriftstellergenie aus altem Südstaatenadel; schwergewichtig aber leichtlebig, in der Unterwelt ebenso zu Hause wie in der High Society gelitten und nach nur zwei Romanen und noch nicht dreißigjährig unter geheimnisvollen Umständen verstorben. Die zeitgenössischen Quellen ermöglichen allerdings auch eine andere, wesentlich prosaischer ausfallende Interpretation: Armitage Trail war ein 315 Pfund schwerer, alkoholkranker Zeilenschinder, der im Alter von 28 Jahren keineswegs unerwartet zu Grunde ging. Das klingt natürlich nicht so eindrucksvoll wie von Compart gesehen, für den Scarface nicht weniger als ein "Meisterwerk" darstellt.

 Erstaunen weckt in diesem Zusammenhang auch die subjektive Abwertung jeder Kritik, denn "Scarface" war und ist als Roman keineswegs unumstritten. W. R. Burnett (1899-1982), der mehr als einen echten Gangsterkrimi‑Klassiker (Little Caesar, 1929; High Sierra, 1940; The Asphalt Jungle, 1950) verfasst hat, machte seinem Unmut Luft, als er Scarface, den Roman, für das Drehbuch zum gleichnamigen Film bearbeiten musste. Compart stellt ihn als Neider hin, der einen toten Kollegen anschwärzte, der sich nicht mehr wehren konnte. Das ist so nicht nachvollziehbar. Profi, der er war, beschreibt Burnett nüchtern einen wahren Sachverhalt.

 Faktisch würde sich heute niemand mehr an Armitage Trail erinnern, hätten die beiden Scarface-Filme von 1932 und 1983 seinen literaturhistorisch interessanten aber kaum lesbaren Roman nicht mit sich in Klassiker-Höhen gezogen. Das ist eine Erkenntnis, die sich nach wenigen Lektüreseiten einstellt.

Scarface

Armitage Trail, DuMont

Scarface

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