Citizen Sidel. New York knallhart

  • Rotbuch
  • Erschienen: Januar 2008
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  • New York: Mysterious Press, 1999, Titel: 'Citizen Sidel', Seiten: 218, Originalsprache
  • Berlin: Rotbuch, 2008, Seiten: 188, Übersetzt: Jürgen Bürger
  • Zürich; Berlin: Diaphanes, 2017, Seiten: 237, Übersetzt: Jürgen Bürger
Citizen Sidel. New York knallhart
Citizen Sidel. New York knallhart
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Jochen König
92°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2008

Ein faszinierendes, witziges und auf eigenwillige Art spannendes literarisches Vexierspiel

Captain Knight soll seinen Sohn Doug erschossen haben. Der vom Polizisten zum Bürgermeister und Kandidaten um das Amt des Vizepräsidenten aufgestiegene Isaac Sidel glaubt nicht daran und begibt sich auf die Suche nach dem wahren Täter und den Hintergründen, die zu Doug Knights Ermordung führten. Gleichzeitig steckt er tief im Wahlkampf, muss Punkte sammeln für einen ungeliebten Präsidentschaftskandidaten, dessen Weste dreckiger ist als ein durchschnittlicher Abwasserkanal des Hudson Rivers. Außerdem ist er verrückt nach den Karamellkeksen Mariannas, der hochintelligenten 12-jährigen Tochter des Präsidentschaftsanwärters. Die ist verliebt in das abtrünnige Gangmitglied Aljoscha, dessen Wandmalereien in halb New York zu bewundern sind. Nicht genug damit, muss sich Sidel noch mit KamikazInnen, selbstgerechten Cops, dem Boss des FBI, dem amtierenden Präsidenten und allerhand anderen finsteren Figuren rumschlagen.

Im wahrsten Sinne des Wortes, denn so oft wie Isaac Sidel nach Fausthieben zu Boden geht, dürfte kein amtierender Bürgermeister New Yorks je malträtiert worden sein. Ein großer "Bursche mit einer Glock im Hosenbund", der Prügel bezieht und immer wieder aufsteht, das sind Stoffe aus denen Heldenepen gestrickt werden und so wächst Isaacs Popularität ins Legendenhafte, während die J. Michael Storms, des eigentlichen Kandidaten, schrumpft. So macht man sich keine Freunde - vor allem nicht in der eigenen Partei. Aber das ist Sidel egal, er kämpft seinen eigenen Kampf.

Citizen Sidel missachtet fast ziemlich jede Regel, die beflissene Creative-Writing-Lehrmeister für das Schreiben von Spannungsromanen aufstellen mögen. Er baut Spannungsbögen auf, die einfach fallen gelassen werden, weil die Hauptfigur an anderer Stelle einer Imagination folgen muss, die sich ihm gerade aufdrängt. Marianna wird entführt und taucht relativ beiläufig wieder auf. Auch die Attentatsversuche auf Sidel und den amtierenden Präsidenten werden wie Lappalien abgehandelt, die im Alltag eines Politikers leichthin passieren können. Nur die Auswirkungen - vor allem im Hinblick auf Sidels Popularität - spielen eine größere Rolle.

Charyn marschiert mitunter durch das Geschehen wie mit der Axt durch das Unterholz. Dass er dabei weder die Übersicht verliert, noch seine Figuren und ihre literarischen Äquivalenzen zu einer reinen Farce werden, ist große Kunst. Charyns New York ist eine Welt der Doppelungen, fast jede Person, jede Lokalität hat ihr literarisches Gegenstück. Sei es Dougy Knights selbstgewählte Rolle als Benya Krik, Isaak Babels Verbrecherkönig aus der Maldavanka (Moldawanka), dem jüdischen Viertel Odessas, das seine Widerspiegelung in dem "Ödland" genannten Abrissviertel New Yorks findet; Sidels Träume von Sindbad dem Seefahrer, seine Herzkönigin Margaret "Anastasia" Tolstoi und nicht zuletzt die fliegende Kampfratte Raskolnikow, das waghalsigste Symbol für Schuld und Strafe, das man sich nur vorstellen kann - da ist auch Tex Avery nicht weit.

Charyn kennt keine Grenzen, er übertreibt maßlos, das aber mit Gelassenheit und einem originären Stil, der selbst die unglaublichsten Wendungen realistisch erscheinen lässt. So ist Citizen Sidel ein wahrhaft psychedelisches Buch voller flirrender Farben und Facetten, frönt einer nahezu wahnhaften Überhöhung, die aber mitten ins Herz der Realität zielt. Die Ähnlichkeiten mit dem jüngst vergangenen Wahlkampf in den USA sind geradezu frappierend und auch die Koalitionen und Intrigen innerhalb verschiedener Staatsdienste und Parteien wirken jederzeit glaubwürdig.

Wenn Charyn an anderer Stelle mit James Ellroy verglichen wird, so löst das zumindest gelindes Erstaunen aus. Mag die Grundkonzeption, eine Art Back-Door-History der USA zu verfassen, ähnlich sein, sind die Ergebnisse grundverschieden. Ellroy verfasst in seinen besten Momenten grimmige Noirs, die als irrlichternde Chronik des 20. Jahrhunderts durchgehen; Charyn gestaltet einen eigenen Kosmos, in dem sich Verweise auf Literatur, bildende Kunst, Film und Realität treffen, zersplittern und den Leser wieder hinauswerfen in seine eigene Welt, die gar nicht allzu weit entfernt und doch gänzlich woanders ist. Mittelpunkt ist dabei die Figur Isaac Sidels in all ihren Schattierungen, Entwicklungen und Brechungen.

Citizen Sidel (dessen deutscher Ober- bzw. Untertitel "New York knallhart" ziemlich daneben ist) ist ein wunderbares Buch, ein faszinierendes, witziges und auf eigenwillige Art spannendes literarisches Vexierspiel, der Beleg, dass knapp zweihundert Seiten reichen, eine eigene Hemisphäre zu erschaffen und darüber hinaus zu weisen. Wer allerdings halbwegs traditionell erzählte und aufgebaute Spannungsliteratur erwartet, der könnte dezent enttäuscht werden.

Citizen Sidel. New York knallhart

Jerome Charyn, Rotbuch

Citizen Sidel. New York knallhart

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