Nicht totzukriegen

  • btb
  • Erschienen: Januar 2009
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  • München: btb, 2009, Seiten: 380, Übersetzt: Eva Bonné
  • New York: Scribner, 2002, Titel: 'The resurrectionists', Seiten: 304, Originalsprache
Nicht totzukriegen
Nicht totzukriegen
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Jochen König
87°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2008

Spannendes Kaleidoskop und fast surreale Reise - David Lynch lässt grüßen

Eigentlich sind Michael Collins Romane nur an der Schwelle zum Krimi angesiedelt. So gibt es in seinem erst jetzt auf deutsch erschienen Roman mit dem, eher an einen Steven Seagal-Film erinnernden, Titel Nicht totzukriegen (vermutete) Morde, Betrugsdelikte, Autodiebstahl und einen als göttliche Intervention getarnten Raubüberfall. Doch ist polizeiliche Ermittlungsarbeit kein Thema, das den Roman an irgendeiner Stelle beherrscht. Verbrechen geschehen, werden manchmal gesühnt, manchmal nicht. Ab und an verlieren Unschuldige den Verstand, während nicht nur der Protagonist Frank Cassidy vehement an seiner geistigen Gesundheit zweifelt.
In Collins Buch geht es vielmehr um Gruppen von Menschen, ihre Beziehungen unter- und miteinander, den Einfluss der individuellen und kollektiven Vergangenheit und der Brüchigkeit von Realitäten.
Im Focus von Nicht totzukriegen stehen Frank Cassidy und seine Familie. Zu Beginn noch Burgerbrater in Chicago, macht er sich mit Ehefrau Honey, dem leicht gestörten Robert Lee, Honeys 14-jährigem Sohn aus erster Ehe und dem gemeinsamen Kind Ernie auf den Weg nach Copper in Michigan, um mehr über den Mord an seinem Onkel und Ziehvater Ward zu erfahren. Und dabei vielleicht einen Teil des möglichen Erbes einzusacken.
Was als verzweifelter Trip aus der schleichenden Armut, und gegen die Widerstände seines Stiefbruders und dessen Frau beginnt, wird für die Familie Cassidy ein Ausflug in eine bessere Zukunft, die sogar noch einiges Licht ins Dunkel von Franks Vergangenheit bringt.

Collins macht es dem Leser nicht leicht, verweigert er ihm doch zu Beginn eine Identifikationsfigur - geschweige denn mehrere. Frank ist ein Loser aus dem Lehrbuch, zwar versehen mit Potenzial, doch ohne Ausbildung versauert er in elenden Aushilfsjobs, ein Gefangener seiner traurigen Vergangenheit. Die Eltern verbrannt im eigenen Haus, als er gerade Fünf war, danach eine Odyssee durch Psychiatrien, immer mit dem mulmigen Gefühl im Bauch, möglicherweise selbst für den Brand, der zum Tod seiner Eltern führte, verantwortlich gewesen zu sein.
Nie wird klar, ob Frank eine multiple Persönlichkeit ist, Collins lässt bis zum Ende im Vagen, welche von Franks empfundenen Wirklichkeiten tatsächlich stattgefunden haben. Wenn man Nicht totzukriegen als klinische Studie liest, könnte sogar zutreffen, dass alle positiven Erlebnisse, die Frank, Honey und den Kindern zuteil werden, nur im Wahn geboren werden. Denn Frank hat es schwer getroffen; nicht nur dass er seine Eltern im frühen Kindesalter verlor, sein sorgeberechtigter Onkel entpuppte sich als mittleres Ekel, sein jüngerer Stiefbruder als körperlicher Riese und geistiger Zwerg. Dann heiratet er eine Frau, deren erster Gatte in der Todeszelle auf seine Hinrichtung wartet, ein Fakt, der vor allem die winterlichen Tage zwischen November 1978 und Februar 1979 überlagert.

Franks Verhalten schwankt zwischen leidender Passivität und wildem Aktionismus. Nie schreitet er ein, wenn Honey ihren Sohn Robert Lee in stiller, aber berserkerhafter Wut körperlich züchtigt. Stattdessen verkriecht er sich in seine Gedanken und fügt seinem geschundenen Ego neue Narben hinzu. Passiv bleibt er auch in Bezug auf seinen tumben Bruder Norman und dessen Frau. Manchmal sind selbst wenige Kilometer unüberbrückbar.
Andererseits verfolgt er seine Pläne gerade heraus und zögert dabei auch nicht, Verbrechen zu begehen. Ob er ein Auto stiehlt oder einem Krebskranken einen Raub als Akt göttlicher Vorsehung verkauft; wenn es um das Wohl seiner Lieben geht, kennt Frank keine Skrupel. Besonders jener dreiste und eigenwillige Diebstahl, der die Cassidys für gewisse Zeit finanziell saniert, ist einer der Höhepunkte des Romans. Zwischen Surrealismus und tiefer Traurigkeit angesiedelt, bekommt der Finger Gottes eine ganz neue Bedeutung.
Nicht totzukriegen schafft die Balance ein (familiäres) Universum in Auflösung zu zeigen und trotzdem der Hoffnung auf eine bessere Zukunft Raum zu geben.
Das mögliche Erbe als vorgeschobenen Grund ermöglicht es Frank, sich den Ängsten und Rätseln seiner, ihm selbst nur bruchstückhaften bewussten, Vergangenheit zu stellen und einige Lücken zu füllen.
Doch nicht nur Frank kämpft gegen die Dämonen seiner Vergangenheit an, er ist umgeben von Menschen, die am Ballast ihrer Geschichte zu zerbrechen drohen. Seien es Honey, die in verzweifelter Hassliebe noch an ihrem, wegen zweifachen Mordes zum Tode verurteilten, Ex-Mann Ken hängt, oder Franks Kollege im Uni-Wachdienst Baxter, den nicht nur sein Vietnam-Aufenthalt in die Drogen- und Sexsucht getrieben hat, und der immer manischere Pläne entwickelt, wie man die expandierende Universität des kleinen Kaffs namens Copper durch Betrug und Manipulation schröpfen kann. Was natürlich schief geht. Am Ende bekommt er immerhin eine Entziehungskur spendiert.
Denn als Gegenentwurf ist Collins eingeschneites Provinznest mit freundlichen Lebewesen besiedelt, die den mentalen Grenzgängern helfen und Perspektiven für das Weiterleben bieten. Selbst Frank ist am Ende in der Lage anderen Stütze zu sein. Zumindest in seinen lichten Phasen.

Michael Collins gelingt das Kunststück mit Nicht totzukriegen einen enorm spannenden Roman vorzulegen, der seinen größten Reiz nicht in der Aufklärung von möglichen Verbrechen findet, sondern in der Entwicklung seiner Protagonisten. Collins verleiht selbst Nebenfiguren, die nur in Erzählungen und Zeitungsartikeln vorkommen, Gesicht und Gewicht, er behandelt noch seine unleidlichsten Schöpfungen mit Respekt; alleine das eine Eigenschaft, die ihn als exzellenten Autoren kennzeichnet.
Vor der stimmungsvollen Kulissen, der von Schneemassen eingehüllten Kleinstadt im Norden der USA, entwickelt Collins ein faszinierendes Kaleidoskop menschlicher Begehrlichkeiten, Ängste und Hoffnungen. Eine mitunter fast surreale Reise, voller Episoden zwischen Traum und Alptraum, die trotzdem tief in der Realität verwurzelt ist. Was Collins geschickt kommentierend betont, in dem er reale Geschehnisse, Persönlichkeiten und das laufende Fernsehprogramm in den Verlauf seines Romans einbezieht.
Bislang seine überzeugendste Veröffentlichung.

Nicht totzukriegen

Michael Collins, btb

Nicht totzukriegen

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