Das Gesicht

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2005
  • 1
  • London: Headline, 2003, Titel: 'The Know', Originalsprache
  • München: Heyne, 2005, Seiten: 527, Übersetzt: Anja Schünemann
  • München: Heyne, 2009, Seiten: 528
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76°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2008

Erschüttert durch schonungslose Authentizität

Ines Dietzsch: Eva, beide haben wir jeweils zwei Bücher von der britischen Erfolgsautorin Martina Cole gelesen. Du den im April erschienenen Roman Die Schwester und ich Die Gefangene, gemeinsam nun Das Gesicht. Mich hat Martina Cole mit beiden Büchern gepackt, ich wollte nur lesen, lesen, lesen - um zu erfahren, wie sich die Dinge ereigneten. Ging Dir das auch so?

Eva Bergschneider: Mit dem Roman Die Schwester ging es mir nur zum Teil so, denn der hatte einfach zu viele Längen. Das Gesicht wiederum ist tatsächlich sehr spannend aufgebaut und ab der ersten Seite ergreifend. Es fängt mit einer Szene an, in der eine Mutter erfährt, dass ihr Kind einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Schon die Aussage

 

Ich habe Ihnen doch gesagt, sie wäre niemals weggelaufen, aber sie wollten ja nicht auf mich hören. [...] Mein Baby hätte mich nie verlassen. Nie! Aber keiner von Ihnen hat auf mich gehört

 

zeigt, worum es sich drehen wird. Man hat sofort den Eindruck, dass eine liebevolle Mutter offensichtlich vergeblich gekämpft hat und nicht ernst genommen wurde. Den Grund für diese Missachtung erfährt man ebenfalls recht schnell.

Joanie Brewer wohnt mit ihren drei Kindern in einem Sozialwohnungsviertel und verdient ihren Unterhalt als Prostituierte. Der fast erwachsene Sohn Jon Jon, die pubertierende Jeannette und die elfjährige Kira sind ihr ein und alles. Gelegentliche Heimaufenthalte und Kontakte zur kriminellen Szene konnte Joanie bei ihren älteren Kindern nicht verhindern; doch der Kleinen soll es besser ergehen. Das Mädchen ist stark lernbehindert und versteht noch nichts von den Problemen ihrer Umgebung. Außer den Brewers steht noch ein weiterer, augenscheinlich zwielichtiger Charakter im Vordergrund.

Ines Dietzsch: Das ist der extrem übergewichtige "Little Tommy" Thompson, der mit seinem tyrannischen Vater ein zurückgezogenes Leben führt. Kira Brewer ist sein einziger Kontakt zur Außenwelt. Als Vater Joseph beschließt, zu seiner Freundin zu ziehen, beginnt für Tommy eine Zeit voller Spiel und Spaß mit seiner kleinen Freundin. Und man gönnt es den beiden. Es geht einem das Herz auf und auch der bemitleidenswerte Tommy weckt sofort Beschützerinstinkte. Die kleine Kira, ihre kindliche Naivität, der Charakter des Mädchens ist so liebevoll dargestellt, dass ich mir gewünscht habe, sie wäre am Ende nicht tot. Die Figuren tragen auf jeden Fall dazu bei, dass dieser Roman die emotionale Seite sofort anspricht, oder?

Eva Bergschneider: Ganz sicher, denn Joanie Brewer zieht den Leser sofort auf ihre Seite. Bereits am Anfang lässt sie ihrer aufgestauten Trauer und Wut freien Lauf. Das Rätsel um das Verbrechen, das ihrem Kind angetan wurde, beschwört eine beklemmend wirkende Atmosphäre herauf. Man begleitet die Familie auf der Suche nach der bitteren Wahrheit mit wachsendem Unbehagen.

Ines Dietzsch: Auch ich habe Joanie Brewer als eine starke Persönlichkeit empfunden. In einem Ghetto der Verlierer hat sie nie aufgegeben zu kämpfen. Sie hat sich Achtung erworben in ihren Kreisen, ihr Wort hat Gewicht. Die Sorge um ihr Nesthäkchen, die sie fast wahnsinnig macht, wird in dem Roman Zeile für Zeile deutlich.

Eva Bergschneider: Kira und überwiegend Joanie sind die mit positiven Attributen belegten Protagonisten in "Das Gesicht". Gut gefallen hat mir, dass die Autorin die meisten Figuren weder schwarz noch weiß gezeichnet hat, trotz der Umgebung in der kriminellen Szene Londons.
Allerdings sind sich die Verhaltenschemata ziemlich ähnlich und dadurch auch vorhersehbar.
Die Rache, das Gesetz der Straße und die Interessen der Familie rechtfertigen jede gewalttätige Aktion, die der Brewer-Clan unternimmt. Schade, dass es sich alle Mitglieder der Familie so einfach machen. Eine Figur, die aus diesem scheinbar vorgezeichnetem Verhaltenskreis ausbricht, hätte der Geschichte mehr Tiefe verliehen.

Ines Dietzsch: Für mich war Jon Jon klar negativ belegt, schließlich verübt er unter dem Deckmäntelchen, die Familie zu beschützen grausame Lynchjustiz. Gewalt ist das einzige Mittel für den Jungen, der viel zu früh erwachsen werden musste. Jon Jon sucht auf seine Art für die Familie zu sorgen und an das große Geld zu kommen. Der tägliche Kampf um die Existenz wird von Martina Cole ungeschönt beschrieben, was die Story so real und den Leser betroffen macht. Wie schon bei "Die Gefangene" hatte ich immer im Hinterkopf, dass sich solche Geschichten im wahren Leben genau so abspielen. Eva, Du fandest "Das Gesicht" ja fesselnder als "Die Schwester". Warum?

Eva Bergschneider: Mir hat gefallen, dass Martina Cole Das Gesicht so klar strukturiert hat. Auch diesen Roman schrieb die Autorin im Stil einer Familiensaga, die Handlung baute sie hier allerdings in einem stringenten Spannungsbogen auf. Die chronologische Reihenfolge, in der zuerst die Geschehnisse vor Kiras Verschwinden und im zweiten Teil des Buches die Suche nach dem Kind erzählt werden, vermittelt eine Art Echtzeit-Gefühl. Man hat den Eindruck, einen Leidensweg zu verfolgen und bekommt eine Ahnung von der stetig schwindenden Hoffnung, Kira lebend zu finden.

Weniger gelungen ist, dass fast jedes Kapitel mit einem Cliffhanger endet. Einige entfalten eine spannungssteigernde Wirkung, andere scheinen die Handlung unnötig in die Länge zu ziehen. Das Ende war jetzt nicht wirklich überraschend, das musste es aber auch nicht sein. Martina Cole erspart dem Leser weder die fatalen Folgen gängiger Vorurteile, noch die perfide Doppelmoral derjenigen, die sich an dem Gewinn des Geschäfts mit Kindern bereichern. Der Roman hält uns einen Spiegel vor, der einen Blick in die tiefsten Abgründe der Gesellschaft eröffnet.

Ines Dietzsch: Für mich war das Ende nicht vollkommen überzeugend. Der Roman verliert ein bisschen seine Glaubwürdigkeit. Der Schluss steht im Gegensatz zu einer durchweg authentischen Handlung. Martina Cole folgt damit ihrem bewährten Muster, den Leser nicht total deprimiert zurück zu lassen. Trotzdem bleibt ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube.

Das Gesicht

Martina Cole, Heyne

Das Gesicht

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