Die Totensammler

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2008
  • 13
  • London: HarperCollins, 2007, Titel: 'The Resurrectionists', Originalsprache
  • München: Heyne, 2008, Seiten: 412, Übersetzt: Christine Naegele
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2008

Leichen pflastern seinen Weg

Die "Bow Street Runners" sind Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten 'richtigen' Polizisten auf den Straßen von London. Zwar steckt die kriminalistische Arbeit noch in ihren Kinderschuhen, doch Männer wie der ehemalige Soldat und nun Sonderermittler Matthew Hawkwood kennen immerhin schon den Wert von Indizien und wissen, wie man sie deutet.

In diesem Winter des Jahres 1811 führt sein aktueller Fall Hawkwood zum alten Friedhof Cripplegate. Gehenkt und gekreuzigt fand man dort der Körper des Fleischträgers Edward Doyle. Der junge Mann verdiente sich offenbar ein Zubrot als Leichendieb und war dabei Konkurrenten in die Hände gefallen, die nicht lange fackelten. Leichen sind eine begehrte und gut bezahlte, weil immer knappe Ware für angehende Ärzte, die sezieren müssen, um den menschlichen Körper zu verstehen. Deshalb werden Londons Friedhöfe des Nachts von "Auferstehungsmännern" heimgesucht, die möglichst frische Leichen stehlen.

Ein zweiter Fall führt zur Verzögerung der Ermittlungen. Im "Bethlehem Royal Hospital", genannt "Bedlam", dem uralten Irrenhaus der Stadt, hat ein Insasse, der ehemalige Feldchirurg Colonel Titus Hyde, einen Gast, den Reverend Tombs, nicht nur getötet, sondern sein Gesicht gehäutet, bevor er die Flucht ergriff. Nach Auskunft des behandelnden Arztes stellt Hyde eine große Gefahr für die Allgemeinheit dar. Der auf den Schlachtfeldern des englisch-französischen Krieges wahnsinnig gewordene aber überaus intelligente Mann will in Freiheit ein groteskes 'Projekt' verwirklichen, für das er diverse Frauenkörper benötigt.

Die soll ihm der skrupellose Rufus Sawney beschaffen, der zusammen mit seinem Partner Abel Maggett und den beiden Ragg-Brüdern stets liefern kann. Wie der Zufall (gelenkt durch Verfasser McGee) spielt, steckt Sawneys Bande hinter dem Mord an Doyle, was Matthew Hawkwood auf den Plan ruft. Sawneys Schergen kann er leicht abwehren, doch Hydes Attacken sind ungleich hinterlistiger, zumal der irre Schlächter protegiert wird. Als Hyde damit beginnt, noch lebendigen Frauen nachzustellen, ist der Zeitpunkt gekommen, das Gesetz zu vergessen und zur Gegenattacke anzusetzen ...

Schmutzige Gewerbe und irre Zeitgenossen

Die Vergangenheit hat in der Unterhaltungsliteratur viele Gesichter. Bei James McGee sind sie gleichermaßen schmutzig wie blutig. Selten gab es einen Historienroman wie diesen, der sich in Moder, Verwesung und Körperflüssigkeiten aller Art förmlich suhlt. McGees Geschichte spielt nicht im Bauch von London, sondern noch mindestens eine Etage tiefer.

Die hygienischen Probleme Londons im frühen 19. Jh. beruhen auf Tatsachen. Zwar wuchs die Stadt bereits dem Industriellen Zeitalter entgegen, doch die Infrastrukturen stammten quasi noch aus dem Mittelalter und waren der anschwellenden Einwohnerzahl nicht gewachsen. Niemand fühlte sich zuständig, was auch damit zusammenhing - McGee führt es uns immer wieder vor Augen -, dass dies eine Zeit ohne soziales Netz war. Wer es nicht schaffte, sich einen Platz an der Sonne zu schaffen, hatte Pech gehabt und verdiente ein jämmerliches Dasein in den Slums oder gar ein Ende, das durchaus Tod durch Verhungern bedeuten konnte.

In die Sanierung der Armenviertel oder gar in grundsätzliche Maßnahmen zur Besserung des ungeheuren Elends wollten diejenigen, die sich nicht betroffen fühlten, keinen Penny investieren. Armut, Krankheit, Gewalt und Wahnsinn wurden in Bezirke abgedrängt, die zu gewaltigen Ghettos verkamen, in die sich die ohnehin zahlenschwachen und kaum ausgebildeten Stadtwachen nicht trauten.

In dieser Welt, die McGee anschaulich als Hölle auf Erden schildert, ist ein "Beruf" wie der des professionellen Leichendiebs normal. Wie Rufus Sawney es in klare Worte fasst, ist dieser Job immer noch besser als Sickergruben zu leeren. Drakonische Strafen schrecken nicht, denn permanente Entbehrung und Gewalt stumpfen ab. Das zu verdeutlichen ist wichtig, denn nur auf diese Weise gewinnt die Handlung ihre Überzeugungskraft: Die von McGee geschilderten Verbrechen können nur im London von 1811 geschehen.

Außerhalb des historischen Umfelds rollt die Geschichte vom psychopathischen aber genialen Serienkiller ab. Die kennen wir Krimileser zur Genüge (oder bis zum Überdruss), aber im gewählten Rahmen kann McGee den abgegriffenen Plot plausibel aufpolieren: Das Phänomen des Serienmords liegt jenseits des Verständnisses der Zeitgenossen. Den Wissensstand fasst ein 'Fachmann' aus dem Bedlam-Irrenhaus zusammen, und er ist kärglich und steckt voller Trugschlüsse. So kann sich Colonel Hyde schwungvoll ans grausige Werk machen, denn es fehlt das geistige Rüstzeug, ihm in die Parade zu fahren.

Bei nüchterner Betrachtung fällt Die Totensammler nicht durch inhaltliche Originalität auf. Im Grunde weiß der erfahrene Leser, in welche Richtung die Handlung laufen wird. Auch das Finale ist primär grässlich aber nicht wirklich überraschend. Irgendwann brechen die Ermittlungsarbeiten ab, Hawkwood ruft wie weiland "El Mariachi" seine bizarren und hochprofessionellen Kameraden zusammen, und dann bestimmt brutale Gewalt die Szene.

Das Zusammenspiel zwischen Krimi und Historienroman ergibt die eigentliche Faszination, wobei McGee sich atmosphärisch ausgiebig beim Horror-Genre bedient. Dunkelheit, huschende Schatten, stinkende Grüfte, bizarre Unterwelten, Splatter, grandiose Bluttaten - die Liste ist lang, und um sie abzukürzen, sei an Filme wie "From Hell" (2001) oder "The Elephant Man" (1980, dt. "Der Elefantenmensch") erinnert, die diese morbide Stimmung in entsprechende Bilder fassen. (Ist übrigens die auf dem deutschen Cover als Matthew Hawkwood abgebildete Person nicht die halbe Silhouette von Johnny Depp in der Titelrolle des ebenfalls im historischen England spielenden Mord-Musicals "Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street"? Vielleicht fallen ja einige Leser = Käufer darauf herein ...)

Edel aber geheimnisvoll: ein Held für die Serie

Wie konstruiere ich eine serientaugliche Figur? James McGee zeigt es uns vielleicht ein wenig zu deutlich. Matthew Hawkwood - schon der Name suggeriert Gewicht oder besser Wichtigkeit - ist wie jeder gute (Serien-) Held vor allem einem persönlichen Kodex unterworfen. Zwar arbeitet er gut als "Bow Street Runner", ohne sich der Institution wirklich verpflichtet zu fühlen. Dem stehen traumatische Erlebnisse im Krieg (gemeint ist der Feldzug Napoleón Bonapartes auf der iberischen Halbinsel 1807-1814, in dem auch englische Truppen den französischen Kaiser bekämpften) entgegen, die Hawkwood an einem System zweifeln lassen, das seine Soldaten auf den Schlachtfeldern verbluten ließ. Auch an der 'Heimatfront' muss er Ungerechtigkeiten schlucken. Definitiv schuldige Männer schlüpfen dem Gesetz durch die Finger, weil sie von hoher Stellung sind. Nur den einfachen Mann und die einfache Frau trifft die Härte der Justiz.

Hinzu kommt eine mysteriöse Vergangenheit, die nur Stück für Stück enthüllt wird und die noch für einige Bände gut sein dürfte. Der wahre Held ist stets auch Außenseiter. So geht Hawkwood immer wieder auf Konfrontationskurs und schont die Reichen und Privilegierten nicht. Glücklicherweise kann er sich auf die Fürsprache seines Vorgesetzten, des Richters James Reed, verlassen, der auf geheimnisvolle Weise das System manchmal unterlaufen kann und seine schützende Hand über Hawkwood hält, der bei aller Ernüchterung ein guter Polizist ist.

Spaß muss sein, selbst wenn die Leichen purzeln

Realität ist James McGees Sache nur bedingt. In einem Nachwort klärt er über die realen Hintergründe seiner grotesken Schauermär auf. Leichendiebe, die nicht nur Tote stahlen, sondern sie sogar zu Seife verkochten, wenn sie allzu 'reif' wurden, sind demnach nicht auf seinem geistigen Mist gewachsen. Dennoch ist die Häufung absonderlicher Persönlichkeiten natürlich dem Faktor Unterhaltung geschuldet. Im Grunde tritt kein "normaler" Mensch auf. Alle haben sie - gelinde ausgedrückt - ihre Macken. 'Frankenstein' Hyde ist nicht einmal ihr König. Mit Rufus Sawney und seinen Kumpanen ist McGee ein wahres Höllengezücht gelungen. Die Schauerlichkeit ihrer Taten wird geschickt durch die gemütliche Selbstverständlichkeit konterkariert, mit der sie ihrer Tätigkeit nachgehen. Maggett klagt über arbeitsbedingte Rückenschmerzen, und armen Sawney möchte man manchmal bedauern, wenn er mit tropfigen Leichen durch London irrt und unter der ausgeprägten Dämlichkeit seiner Spießgesellen leiden muss.

Überhaupt schreibt McGee den Humor größer als man meinen möchte. Das Schwelgen im Unappetitlichen ist dermaßen übertrieben, dass es nur bedingt ernst genommen werden kann. Zwar kippt die Stimmung gern ins wirklich Bitterböse, doch zwischenzeitlich geht es vor allem derb zu. Geistliche sind garantiert Betrüger und noch geiler als der übelste Leichendieb; an Dünkel und Heuchlerei werden sie nur von Politikern und anderen selbst ernannten Stützen der Gesellschaft übertroffen, und Adel verpflichtet zu rein gar nichts.

So bereiten Die Totensammler viel politisch unkorrekten Lesespaß, was immer für ein Sonderlob gut ist. McGee schreibt flott und trotzdem dicht, die deutsche Übersetzung kann Schritt halten, auch wenn die Zahl der durch die Endredaktion - falls es so etwas heute noch gibt - gerutschten Flüchtigkeits- und Rechtschreibfehler unerquicklich hoch ist. Auf ein Neues also - die Reihe wird fortgesetzt, was zur Abwechslung einmal eine gute Nachricht ist.

Die Totensammler

James McGee, Heyne

Die Totensammler

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