Der Märtyrer im schwarzen Hemd

  • Piper
  • Erschienen: Januar 2007
  • 1
  • Palermo: Sellerio, 2005, Titel: 'Privo di titolo', Originalsprache
  • München: Piper, 2007, Seiten: 259, Übersetzt: Moshe Kahn
  • München: Piper, 2008, Seiten: 259
Der Märtyrer im schwarzen Hemd
Der Märtyrer im schwarzen Hemd
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Thorsten Sauer
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2007

Der Gesellschaftsroman im Krimigewand

Der Faschismus in Italien, der zeitgleich mit dem Nationalsozialismus eine Hochphase erlebte, hat viele Parallelen aber auch einige Unterschiede zu Deutschland. Ein wesentlicher Unterschied liegt darin begründet, dass es in Italien immer eine kommunistische Gegenbewegung gab. Prägend für das Italien der 20er Jahre waren daher Straßenschlachten der Kommunisten gegen die "Schwarzhemden", die organisierten Schläger der Faschisten.

In Deutschland kennt man diese Vergangenheit Italiens nur, soweit sie Berührungspunkte mit der deutschen Geschichte hat. Das mag unter anderem daran liegen, dass die innenpolitischen Hintergründe in Italien schon immer kompliziert, vielschichtig waren und daher von außen stehenden nur schwer zu durchschauen sind. Aber mit Camilleri hat sich jetzt ein Zeitzeuge dieses schwierigen Themas angenommen, der nicht nur ein fesselnder Erzähler ist, sondern auch mit einem gewissen Augenzwinkern die Eigenarten seiner Landsleute beobachtet.

Kommunisten, Schwarzhemden und ein Märtyrer

Für die jungen Burschen des kleinen sizilianischen Ortes Caltanisetta bieten die politischen Wirren der 20er Jahre eine willkommene Abwechslung und ein wenig Nervenkitzel im reichlich tristen Leben als Maurer, Schlosser oder Landwirt. Je nach Familientradition oder Berufsstand fühlt man sich entweder den faschistischen Schwarzhemden oder den Kommunisten verbunden. Diese Zugehörigkeit äußert sich jedoch nicht etwa in politischen Debatten, sondern in handfesten Straßenkämpfen und Überfällen, bei denen die Opfer einige Stockschläge und eine reichliche Portion Rizinusöl abbekommen. Genau so eine Aktion soll stattfinden, als drei faschistische Studenten einem Kommunisten auflauern, der auf dem Weg in sein Stammlokal ist.

Doch der - mehr oder weniger - harmlose Überfall, der sich so oder ähnlich Wochenende für Wochenende in vielen Orten Italiens im Jahre 1921 abspielt, endet in einer Katastrophe. In der Prügelei löst sich ein Schuss und einer der Studenten sinkt tödlich getroffen zu Boden. Das auserkorene Überfallopfer, der Kommunist Michele Lopardo, hatte einen Revolver dabei, mit dem er, wie er später zu Protokoll gibt, in die Luft schoss, um die Angreifer in die Flucht zu schlagen. Ein Querschläger muss den achtzehn jährigen Grattuso getroffen und tödlich verletzt haben.

Es beginnt eine beispiellose Propaganda der Faschisten. Der bis dahin politisch völlig unauffällige Grattuso wird zum faschistischen Märtyrer stilisiert, der beim Kampf für die "göttliche" Sache "bestialisch" ermordet wurde. Wenig Chancen für einen gerechten Prozess, zumal die Gerichtsverhandlung von der Machtübernahme Mussolinis nicht gerade positiv beeinflusst wird. Die Presse macht Stimmung und entscheidende Ämter - auch bei der Polizei und am Gericht - werden nach und nach mit linientreuen Personen besetzt. Das Schicksal Lopardos scheint besiegelt, wäre da nicht die 83 Jahre alte und seit langem erblindete Assunta Bartolomeo, die sich um Politik nicht schert und deren Gehör für Lopardo, in Zeiten der allgemeinen Verblendung, wertvoller ist, als alle Augen Sizilien.

Prächtige Kulissen für Mussolini

Camilleris neuer Roman ist eine kunstvolle Collage aus Zeitungsartikeln, Zeugenaussagen und Briefen, die durch Szenen miteinander verbunden sind. Dabei ist alles Fiktion, bis auf zwei historisch belegte Begebenheiten: Den stilisierten Märtyrer gab es, genauso wie das skurrile Stadtbauprojekt Mussolinia.

Camilleri enlarvt den italienischen Faschismus als trügerischen Schein, der nur an der Oberfläche existierte, genau wie die Stadt Mussolinia, die sich als Metapher durch große Teile seines Romans zieht. Die Stadt, für die Mussolini den Grundstein legte und mit der die faschistischen Bürgermeister Siziliens hofften Eindruck zu schinden bei dem Norditaliener Mussolini, ohne je ernsthaft daran zu denken, das Städtebauprojekt auch tatsächlich in die Tat umzusetzen. Nachfragen über den Baufortschritt werden mit kunstvollen Photomontagen beantwortet, die Mussolinia zu einer der zehn schönsten Städte Italiens machen, ohne dass es je existierte. Doch Camilleri setzt sich ohne Verbitterung oder Zorn mit der Zeit Mussolinis auseinander, sondern stets mit Respekt vor den Meschen und dem ihm eigenen Humor.

Aus Respekt vor dem erschossenen Faschisten Grattuso verwendet er beispielsweise dessen richtigen Namen Gigino Gatusso nur in den Kapiteln, die historisch belegbare Tatsachen enthalten. In allen anderen Abschnitten greift er auf den fiktiven Namen Lillino Grattuso zurück. Das macht seine Geschichte jedoch nicht gerade lesbarer, wie insgesamt angemerkt werden muss, dass Der Märtyrer im schwarzen Hemd alles andere ist, als eine leicht zu lesende Geschichte im Stile der Montalbano-Reihe, auch wenn ein verzwickter Todesfall die Hauptrolle spielt.

Man muss sich einlassen auf die ungewöhnliche Erzählweise und darf sich keine spannende Ermittlung mit großem Showdown erwarten, wohl aber einen amüsanten und aufschlussreichen Einblick in die Eigenheiten der Landsleute des Krimi-Altmeisters. Dann ist Der Märtyrer im schwarzen Hemd eine interessante Abwechslung zu den Romanen mit dem bekannten Commissario und der Beweis, dass Camilleri sehr viel mehr kann, als einfach nur spannende Geschichten zu erzählen.

Der Märtyrer im schwarzen Hemd

Andrea Camilleri, Piper

Der Märtyrer im schwarzen Hemd

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