Ticket nach Tanger

  • Fischer
  • Erschienen: Januar 2006
  • 5
  • New York: Henry Holt, 2004, Titel: 'Flashback', Seiten: 259, Originalsprache
  • Frankfurt am Main: Fischer, 2006, Seiten: 320, Übersetzt: Susanne Goga-Klinkenberg
Ticket nach Tanger
Ticket nach Tanger
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Thomas Kürten
72°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2006

Extralob für Schauplätze und Schnitzeljagd

Manchmal kann man bei Kriminalromanen den Eindruck gewinnen, neben Diabetes, grippalen Infekten und Schnupfen gäbe es eine weitere Volkskrankheit: retrograde Amnesie. Gerade dieser Gedächtnisverlust wird immer wieder von Autoren zu einem Hauptmotiv ihrer Krimis erwählt. Die Suche nach einem kriminellen Hintergrund einer Tat kann so gepaart werden mit der Suche nach der eigenen Identität des Ich-Erzählers. Und weil dieses Motiv schon so oft durch den Kakao gezogen worden ist, scheitern die meisten Versuche, auf diesem Krankheitsbild noch einen unterhaltsamen Krimi aufzubauen.

Soviel vorab: Jenny Siler ist es mit "Ticket nach Tanger" gelungen, eine Ausnahme unter den vielen amnestischen Romanen zu schreiben. Ihre Heldin - ihren Namen hat sie natürlich vergessen, aber sie wird mitunter Eve genannt - wurde angeschossen in einem französischen Straßengraben gefunden und in einem nahen Nonnenstift wieder aufgepäppelt. Ein Jahr lebt sie dort, ohne Erinnerung an ihr vorheriges Leben zu finden. Und dann passiert unfassbares: während Eve in der nahen Stadt bei ihrem Psychiater ist, werden alle Nonnen bis auf eine von erbarmungslosen Killern niedergemetzelt. Die einzige Überlebende kann Eve verraten, dass die Mörder einzig und allein hinter ihr, der Frau ohne Gedächtnis, her waren. Eves Suche nach der eigenen Vergangenheit beginnt von diesem Moment an und sie fährt mit der Fähre nach Tanger in Marokko, da das einzige, was sie seinerzeit bei sich hatte, ein Ticket für die Fähre aus Tanger war. Dort angekommen merkt sie, dass sie offenbar so manchen Leuten vor Ort gut bekannt ist - besser als ihr lieb sein kann, denn ihr Leben ist bald wieder gefährdet.

Kommen wir ohne Umschweife zum Wesentlichen: der Roman ist gut und hat eigentlich nur 2 Schwächen, nämlich das Ende und dadurch bedingt rückblickend auch der Anfang. Jenny Siler hat sich einen spannungsgeladenen und temporeichen Thriller ausgedacht, der zwischen den Kasbahs und Basaren des nordwestlichen Afrikas eine Jagd nach der eigenen Identität beschreibt. Dabei versteht es die Autorin, die geheimdienstlichen Aktivitäten der USA im Orient mit sehr kritischem Blick zu beleuchten und anzuprangern. Sie spielt ebenfalls gut mit der typisch amerikanischen Thrillerfrage, welcher Person man sich anvertrauen darf und welcher nicht. Genau dadurch schafft sie nämlich einige unterhaltende Situationswendungen und Überraschungen.

Doch bei aller Erwartungshaltung, die die Autorin dadurch aufbaut, verlässt sie im Finale der Mut, hier ebenfalls eine politische Auflösung zu präsentieren. Das Finale ist ein Ultraweichspüler, der nach den vielen guten Kapiteln Erstaunen und Unverständnis provoziert. Und durch dieses Finale wird irgendwie die Metzelei im Kloster, bei der eine Nonne nach der anderen abgeschlachtet wurde, zu einer fad schmeckenden Angelegenheit, die die rechte Glaubwürdigkeit plötzlich vermissen lässt.

Immerhin schafft es Jenny Siler, ihrer Protagonistin durch die stetige Auseinandersetzung mit sich selbst, ein mit jedem Kapitel schärfer werdendes Profil zu geben. Zwar hat man zwischendurch bei den Selbstreflexionen an einem jeden Kapitelanfang auch schon mal das Gefühl, genau so etwas kurz zuvor schon einmal gelesen zu haben, aber unter dem Strich sammelt Eve mit jedem neuen Tag weitere Erkenntnisse über sich selbst. Hierin kann Siler insgesamt überzeugen.

Wofür sich die junge Autorin aber ein Extralob verdient hat, sind die Schauplätze ihrer Schnitzeljagd. Egal ob marokkanische Hotels, Zugabteile, die Kasbah oder ein Casino, in jedem Kapitel versteht es Siler, die spezifische Atmosphäre eines einzelnen Schauplatzes individuell zu vermitteln. Somit wird "Ticket nach Tanger" auch zu Liebeserklärung an das Marokko, wie Touristen (bzw. amerikanische Geheimagenten) es zu Gesicht bekommen. Und die ein oder andere Jagd über Hinterhöfe oder durch die engen Gassen bekommt erst durch die gute Beschreibung der Lokalitäten ihre spezielle Würze.

Wenn nur das Ende nicht wäre... So bietet der Roman spannende Unterhaltung und ist wirklich einer der wenigen Romane mit einem unter retrograder Amnesie leidenden Helden, der insgesamt als gelungen zu bezeichnen wäre. Aber bei dem gegebenen Ende muss man der Autorin einfach vorwerfen dürfen, das eigentlich mehr drin gewesen wäre. Tja, wenn das Ende nicht wäre...

Ticket nach Tanger

Jenny Siler, Fischer

Ticket nach Tanger

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