Die Raubmöwen besorgen den Rest

  • Nagel & Kimche
  • Erschienen: Januar 2006
  • 1
  • Oslo: Det Norske Samlaget, 2005, Titel: 'Flytande bjørn', Originalsprache
  • München: Nagel & Kimche, 2006, Seiten: 240, Übersetzt: Ina Kronenberger
  • München: dtv, 2009, Übersetzt: Ina Kronenberger
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Bernd Neumann
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2006

Mord am Fjord

Das ist ein Krimi aus dem Land der Schären und Fjorde, hier verläuft die Zeit langsamer. Und im Gegensatz zum einem Miami-Thriller hat man beim Lesen nicht das Bedürfnis, vor lauter lauernden Gefahren ständig den Kopf einziehen zu müssen.

Frode Grytten (geboren 1960 in Odda) ist für Deutschland ein noch relativ unbekannter Name aus der gestandenen norwegischen Krimigarde um Anne Holt, Karin Fossum, Gunnar Staalesen und Bernhard Borge. Obwohl: Für seinen ersten Roman Was im Leben zählt erhielt er den höchstdotierten Literaturpreis Norwegens (Brageprisen) und wurde weltweit in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Der deutsche Verlag Nagel & Kimche erkannte diesen Goldstaub, sicherte sich die deutschen Veröffentlichungsrechte und präsentiert mit Die Raubmöwen besorgen den Rest einen Kriminalroman des Norwegers.

Der gelernte Journalist Grytten begibt sich nicht auf unbekanntes Terrain, wo er ins Stolpern geraten könnte. Er schreibt von dem, was er kennt und kann: Odda im Fokus der Regenbogenpresse. Das macht seinen Krimi so authentisch. Der gut gewählte Titel des Buches hat dabei nicht nur wörtlichen, sondern in mehrfacher Hinsicht allegorischen Charakter. Raubmöwen sind sie alle, jene, die sich über die jungen Enten hermachen ebenso wie die, welche die vor dem Konkurs stehende Fabrikschmelzerei ausweiden oder als norwegische Rassisten die Asylantensiedlung weghaben wollen.

Nur Tote bringen Quote

Robert Bell, die tragische Figur des Romans, ist Reporter und steht wie alle in dieser schnelllebigen Branche unter dem Druck einer möglichst hohen Auflage, um gegenüber den anderen Pressehaien weiterhin zu überleben. Getreu dem Erfolgskonzept "Tote bringen Quote" muss er sich wie alle anderen Reporter eigentlich auf jede halbwegs spektakuläre Neuigkeit stürzen, um die Leser seines Provinzblattes bei der Stange zu halten. Diese Art der Schmierenjournaille ist ihm zuwider, aber Bell ist nun mal eines der kleinen Rädchen in diesem Getriebe der Yellowpress, das zu funktionieren hat. Sein Fotopartner Martinsen ist schon wesentlich ausgebuffter wenn es darum geht, in der Achttausend-Seelen-Gemeinde aus Mücken Elefanten zu machen.

Doch dann passiert es - endlich: Odda bekommt seinen Toten: Guttorm Petersen heißt das Opfer, blühende neunzehn Jahre alt, arbeitslos und Sohn des hiesigen Eismannes. Er war aktives Mitglied der ortsansässigen rassistischen Bürgerwehr, welche die Bewohner des Asylantenheimes als Übel für den fortschreitenden Verfall verantwortlich machen und deshalb als ihre Gegner auf dem Kieker haben. Die Ausländer passen hier nicht hin, höchstens noch abgeschoben nach Oslo, und damit basta:

 

"Das ist ja so, als würden die Bauern am Fjord anfangen, Oliven anzupflanzen". 

 

Der Buschfunk verbreitet schnell die Kunde, dass wohl drei Serben Petersens Opel mit voller Absicht in den Fluss gedrängt haben. Das ist das Signal zum Hubschraubereinflug der sensationslüsternen Pressearmada, die einen sprunghaften Anstieg besagter Auflagenquote wittert. Endlich wieder Stoff für eine Story, die man nur noch schnell zusammenschustern muss. Wie jene damals über die Engländer, als die Oddaer Natur noch eine Goldgrube war! Geschäftstüchtige Engländer hatten die blauen Eisblöcke vom Gletscher abgebrochen und mitgenommen, um in den snobistischen Londoner Clubs mit diesem Hardangereis den Whisky zu kühlen. Aber diese Zeit ist längst vorbei. Damals war schließlich auch das Rathaus noch ein Ort für Politik, Verwaltung und Kultur. Jetzt gab es Risse im Putz, Löcher im Linoleum und Zigaretten in den Blumentöpfen nebst einem Bürgermeister, der abwiegelt und Zweckoptimismus verbreitet...

Der müde Ortschronist und sein gehörnter Bruder

Robert Bell, 38, ist der Lokalreporter in Odda. Alle wissen, wer er ist, alle wissen, was er tut und alle meinen, sie könnten alles Mögliche zu ihm sagen. Das hat ihn im Laufe der Jahre zermürbt und apathisch gemacht.
Und ein weiteres Problem macht seine Verfassung nicht leichter: er liebt die Frau seines Bruders Frank, der Polizist in Odda ist. Es ist eine ewig dauernde heimliche, verheimlichte Liebe, die seitens Ingrid mal heftig erwidert, dann wiederum gemieden wird. Das verunsichert, macht müde und schlaucht:

 

"Ich versuchte, sie vor mir zu sehen. Ihr Gesicht verblasste. Ich dachte zu viel an sie. Ich dachte sie kaputt." 

 

Als Journalist der Ortspresse hat er zudem oft genug erfahren müssen, dass viele seiner Artikel umsonst geschrieben waren. Sie wurden nicht gedruckt und versandeten irgendwo im internen Archiv, weil er sich dem notwendigen Übel eines Sensationsreporters einfach nicht anpassen will. Dennoch ist er fasziniert von Weegee, dem Wegbereiter der Boulevardfotografie, dessen Biografie er gelesen hat und dessen Spürhundqualitäten sowie aufdringliche Hartnäckigkeit er mit seiner indolenten Grundeinstellung nie erreichen wird.

Trost und innere Ruhe findet Robert Bell im Alkohol und im fiktionären Pokercasino an seinem PC. Da kann ihm keiner das Wasser reichen, hier ist er aktiv.

Verschlimmert wird die Verfassung von Bell noch durch die Tatsache, dass ihm zur journalistischen Unterstützung ein übereifriger und neunmalkluger Kollege der übergeordneten Zeitung zur Seite gestellt wird. Die Probleme sind vorprogrammiert.

Nur wenn das Verbrechen groß genug ist, kommt man damit durch

Mehr durch Zufall als journalistisches Feingespür entdeckt Bell dann einen Waisenjungen aus dem Asylantenheim, der offenbar Zeuge des Unfalls war und schließlich selbst zum Opfer wird. Bell fühlt sich schuldig, weil er mal wieder zu lasch an eine Sache rangegangen ist und ihm nicht die nötige Beachtung geschenkt hat.

Ebenso verwirrend ist das anonyme Video über irgendwelche Machenschaften in dem vom Stacheldraht umzäunten alten Schmelzwerk, das seit kurzem in Konkurs gegangen ist und nicht mehr produziert.
Warum hatte ein Unbekannter ihm dieses nicht zu deutende Video geschickt? Sollte er benutzt werden, aber wozu?

Zu allem Übel verschwindet auch noch seine Schwägerin und Geliebte Irene. Ist ihr etwas zugestoßen, sind ihre heimlichen Treffs aufgeflogen, will ihn jemand erpressen oder sich rächen? Und überhaupt: Gibt es irgendwelche Zusammenhänge zwischen all' den plötzlichen Vorkommnissen?

Frode Grytten ist mit seinem Kriminalroman Die Raubmöwen besorgen den Rest ein trost- und hoffnungsloses Stück Zeitgeschichte über eine einstmals blühende Gegend gelungen, deren Zeit abgelaufen ist. Die Menschen sind stumpfsinnig geworden, die Übertragungen der Fußball-WM im Fernsehen, die Treffen in den Kneipen, der verzweifelte Wunsch nach einem Gewinn im Tele-Bingo bestimmen den tristen Alltag. Die jahrzehntelangen Schwermetalldämpfe über der Stadt haben deren Einwohner gelähmt.

Mit Genauigkeit in der psychologischen Zeichnung wird uns die verzweifelte, illusionslose, ja in Resignation erstarrte Hauptfigur in all ihrer Tragik menschlich sehr nahe gebracht. Bell erinnert in seiner grenzenlosen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sowie mit seinem provokantem Widerstand an den Polizisten Kleber in Derek Raymonds Alptraum in den Straßen, nur fehlt ihm halt die Kraft zum letzten Kampf bis auf Messers Schneide.

Auf den 230 Seiten wird mit intelligent hintergründigem und auch zynischem Humor gespielt, der das Lesen zum Spaß werden lässt. Frode Grytten hat zudem die große Gabe, Land und Leute atmosphärisch eindrucksvoll und zu schildern und im Gedächtnis des Lesers zu verankern. Man sieht sie bildlich vor sich, die desillusionierten Einheimischen in ihren Gärten und auf den Terrassen, wie sie sich am Wochenende einlullen lassen vom Rauschen der Rasensprenger und dem Geruch nach Grillfleisch.

Ein offener Schluss lädt ein zum Weitergrübeln, selbst, wenn das Buch schon wieder im Regal steht.

Die Raubmöwen besorgen den Rest

Frode Grytten, Nagel & Kimche

Die Raubmöwen besorgen den Rest

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