SMS - Short Mortal Service

  • Erschienen: Januar 2006
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Platz 2 beim Agatha-Christie-Krimipreis. Veröffentlicht in der Anthologie "Gefährliche Gefühle"

Als wir das Krankenhauszimmer betreten, entzieht der Junge mir seine Hand und bleibt bei der Türe stehen. Der Geruch von Desinfektionsmitteln sticht in meiner Nase. Beatrice sieht aus wie eine wächserne Puppe. Ihr ausgemergelter Brustkorb wird von der Beatmungsmaschine gehoben und gesenkt. Sonst regt sich nichts an ihr.

Ich winke Benni zu mir: »Begrüße deine Mutter, mein Schatz!« Zögernd tritt er auf das Bett zu. »Hallo, Mutter.« Ich tätschele seinen Kopf. Benni verabscheut diese Besuche. Ich weiß das. Mir geht es genauso.

Ich rücke zwei Stühle ans Bett heran. Benni setzt sich und sieht bittend zu mir herauf: »Darf ich jetzt meinen Gameboy, Mama?« Ich lächle milde und ziehe das Gerät aus meiner Tasche. Während der Junge in andere Welten abtaucht, betrachte ich meine frühere Freundin.

Beatrice war das schönste Mädchen an der ganzen Schule. Groß gewachsen, schlank, mit langen braunen Haaren, die niemals unordentlich aussahen, und einem ebenmäßigen Gesicht. Ich hingegen war dicklich, mein Kraushaar nicht zu bändigen, und zu allem Überfluss saß ein mächtiges Kassenbrillengestell auf meiner Nase. Als ich in der Pubertät auch noch Pickel bekam, gelangte ich zu der Überzeugung, dass es sich nicht lohne, noch irgendwelche Anstrengungen in mein Äußeres zu investieren. Neben Beatrice war ich ohnehin für alle unsichtbar. Trotzdem fühlte ich mich wohl in ihrer Nähe. Die Tatsache, dass sie sich mit mir abgab, schmeichelte mir. In ihrem Schlepptau wurde ich zu Partys eingeladen, und manch ein Junge bemühte sich sogar um ein Gespräch mit mir, um Beatrice zu imponieren.

Meine Mutter war sehr stolz auf unsere Freundschaft, denn Beas Eltern waren »bessere Leute«, wie sie zu sagen pflegte. Beas Vater war leitender Bankangestellter, meiner bloß Kfz- Mechaniker.

Die Eltern von Beatrice hatten große Pläne mit ihrer Tochter. Sie sollte Jura studieren oder Medizin. Bea hingegen träumte von einer Karriere als Filmstar. Und ich ließ sie bei mir abschreiben, damit sie die Schule schaffte. Nach dem Abitur beschlossen wir, gemeinsam fortzugehen. Wir wollten raus aus dem Kleinstadtmief. Bea hatte sich heimlich bei verschiedenen Schauspielschulen beworben und einen Platz in Hamburg ergattert. Ich begleitete sie, und wir teilten uns eine kleine Wohnung. Ihre Eltern, denen sie weisgemacht hatte, sie würde Zahnmedizin studieren, überwiesen ihr regelmäßig Geld. Wir lebten ganz gut davon. Ich half Beatrice beim Auswendiglernen ihrer Texte, freute mich mir ihr über die ersten kleinen Erfolge und stand tröstend zur Seite, wenn mal etwas schief gelaufen war. Außerdem versorgte ich den Haushalt. Ich regte mich nicht darüber auf, wenn ihre langen Haare den Abfluss der Badewanne verstopften oder sie wieder einmal ihre schmutzige Wäsche auf dem Boden liegen ließ. Ich war einfach froh, bei ihr zu sein. Bea fing an, Männer mit nach Hause zu bringen. Schauspielschüler erst, später einige Dozenten. Sie verzogen sich in ihr Zimmer, wo ich sie kichern hörte. Oder stöhnen. Sie blockierten stundenlang das Badezimmer und hinterließen große Pfützen auf dem Fußboden. An diesen Tagen war ich Luft für Beatrice.

Wir wurden uns fremd. Sie kam immer seltener nach Hause, schlug sich die Nächte auf Partys oder in fremden Betten um die Ohren. Ich vermisste sie. Um mich abzulenken, begann ich ein Mathematikstudium.

Eines Tages brachte Bea Laurent Marceau mit nach Hause. Monsieur Marceau war ein Geschäftsmann aus Paris. Er leitete eine Textilfirma für Herrenmode. Sie hatten sich in einer Cocktailbar kennen gelernt. Laurent war Anfang vierzig, gut aussehend, reich und sehr charmant. Er war verheiratet, hatte eine Frau und zwei Töchter in Paris, was er »Beatriiiice«, wie er sie nannte, auch gleich in der ersten Nacht gestand. »Abär isch liebä nuur disch!!!«, fügte er hinzu.

Laurent kam alle drei Wochen für ein paar Tage vorbei. Er schenkte Bea teure Kleider und Schmuck, führte sie in die besten Restaurants aus, und einmal überraschte er sie sogar mit zwei Flugtickets nach Mailand, wo die beiden einen luxuriösen Kurzurlaub verbrachten.

Laurent ging davon aus, dass Beatrice die Pille nähme. Er fragte nie danach. Beatrice ging davon aus, dass wahre Liebe Früchte tragen sollte. So wurde Benni gezeugt. Als sie Laurent von der Schwangerschaft erzählte, schwankte er zwischen Freude und Bestürzung. Ob sie sicher sei, dass sie das Kind behalten wolle? Bea war sich sicher, so wie sie sich sicher war, dass Laurent eines Tages seine Familie in Paris verlassen und mit ihr zusammen leben würde.

Es ging ihr nicht besonders gut in der Schwangerschaft. Sie musste sich täglich übergeben, war gereizt und müde. Ich umsorgte sie. Wir verbrachten die Abende gemeinsam vor dem Fernseher, fütterten uns gegenseitig mit Pralinen und sahen uns kitschige Videofilme an. Sie ließ mich alle Anrufer abwimmeln. Es gab nur uns beide. Ich war selig.

Laurent überschüttete Bea mehr als zuvor mit teuren Geschenken, ließ aber andererseits immer mehr Zeit zwischen seinen Besuchen verstreichen. Er müsse vorsichtig sein, seine Frau sei misstrauisch geworden, erzählte er ihr. Sie glaubte ihm halbherzig.

Es wurde Winter, und Beas Gereiztheit schlug in depressive Verstimmungen um. War Laurent da, dann schrie sie ihn an, wenn er nicht bereit sei, seine Frau zu verlassen, könne er auch gleich verschwinden. War er nicht da, so heulte sie nach ihm.

Eines Tages kamen Beas Eltern, die noch immer alle Rechnungen bezahlten, überraschend zu Besuch. Der Zustand ihrer Tochter, die ganz offensichtlich weit davon entfernt war, als Zahnärztin Karriere zu machen, schockierte sie. Als Beatrice sie daraufhin hochkant aus der Wohnung warf, stellten sie die monatlichen Zahlungen mit sofortiger Wirkung ein.

Ich nahm einen Job als Hilfswissenschaftlerin bei der Uni an. Nächtelang saß ich vor dem Computer und erstellte Tabellen für meinen Professor, der mir dies mit einem knappen Nicken dankte. Da das Geld trotzdem nicht ausreichte, um uns beide zu finanzieren, stand ich außerdem frühmorgens auf und trug Zeitungen aus. Der Schlafmangel, die ungewohnten Anstrengungen und die ständige Sorge um Beatrice ließen mein Übergewicht verschwinden. Sie hingegen wurde immer runder. Der Bauch wuchs, und auch auf den Hüften und Oberschenkeln sammelten sich Fettpölsterchen an. Ich stand ihr trostspendend zur Seite und freute mich heimlich über jedes Pfund, das sie ansetzte.

Beatrice vernachlässigte ihr Aussehen. Ihre Haare wurden fettig, das Gesicht von der Schwangerschaft aufgequollen. Es war eigenartig, sie so zu sehen. Einerseits tat sie mir Leid, andererseits erfüllte mich ihr Anblick mit Genugtuung. Je mehr sie verkam, desto mehr blühte ich auf. Ich besorgte mir Kontaktlinsen und warf die alte Brille in den Mülleimer. Die Haare ließ ich mir glätten und probierte eine kastanienbraune Tönung aus. Bea überließ mir ihre zu eng gewordenen Klamotten, die tatsächlich passten wie angegossen. Plötzlich fanden die Männer mich attraktiv. Einen Kommilitonen, der sich besonders angestrengt um mich bemühte, ließ ich erst eine Weile zappeln und dann eiskalt abblitzen. Das Gefühl war unbeschreiblich. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Macht über andere.

Auch Laurent zeigte sich beeindruckt von meinem neuen Aussehen. Während ich zuvor ein Neutrum für ihn gewesen war und er allenfalls kumpelhaft mit mir gescherzt hatte, begann er nun, mit mir zu flirten. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, und nach kurzer Zeit gab ich seinem Werben nach. Beatrice war zum Glück zu sehr mit ihrem elenden Zustand beschäftigt, als dass sie es mitbekommen hätte.

Dann wurde der Junge geboren. Ich war bei der Geburt dabei, Laurent konnte erst zwei Tage später kommen. Ich erledigte alle Formalitäten. Beim Standesamt wurde der Vater als »unbekannt« eingetragen.

Ich holte Laurent am Bahnhof ab und gratulierte ihm zu seiner Vaterschaft. Auf der Fahrt im Leihwagen, den er wie immer gleich am Bahnhof geordert hatte, beendete er unser Verhältnis. Er hatte anscheinend etwas wie Verantwortungsbewusstsein Bea und dem Kind gegenüber entwickelt. Ich heuchelte Verständnis. Den Rest der Fahrt schwiegen wir. Es tat mir Leid, Laurent wieder abgeben zu müssen. Aber zum Trauern blieb mir nicht viel Zeit, weil ich jetzt das Baby umsorgen musste. Bea war von Bennis Ansprüchen völlig überfordert. Sie hatte keine Übung darin, sich um jemand anderen als sich selbst zu kümmern. Also nahm ich das in die Hand. Stundenlang trug ich den schreienden Säugling nachts durch die Wohnung und sang ihm Lieder vor, damit er sich beruhigte. Ich war glücklich. Benni brauchte mich. Als das Baby drei Wochen alt war, kam Laurent zum nächsten Besuch. Er hatte Champagner mitgebracht und überraschte uns mit der Idee, eine kleine inoffizielle Tauffeier zu veranstalten. Bea lud ein paar frühere Schauspielfreunde ein. Ich rief den Kommilitonen an, den ich hatte abblitzen lassen. Er freute sich über die Einladung.

Wir schmückten die Wohnung mit Luftballons und Girlanden wie zum Kindergeburtstag. Nachdem alle versammelt waren, erhob Laurent sein Glas und hielt eine feierliche Ansprache auf seinen Sohn, die er mit den Worten »Isch taufe disch iermit auf den Naam Bendschamään!« abschloss. Dann goss er dem Baby das halbe Glas Champagner über den Kopf. Nachdem Bennis empörtes Schreien abgeebt war, wandte Laurent sich mir zu. Er erzählte allen, wie aufopfernd und fürsorglich ich mich um Bea gekümmert habe, besonders in den schweren Zeiten der Schwangerschaft, und dass es Beatrice und ihm eine große Freude sei, mich zur Taufpatin des Kindes zu ernennen. Sollte ihnen beiden jemals etwas zustoßen, dann wäre Benni bei mir in den besten Händen. Sie umarmten mich, und Bea ließ sich sogar zu einem »Vielen Dank für alles!« hinreißen, was mich zu Tränen rührte.

Dann kündigte Laurent eine weitere Überraschung an. Er überreichte Bea feierlich einen Stadtplan, auf dem er an einer Stelle ein kleines Kreuz eingezeichnet hatte. Dort befände sich eine Wohnung, die er für sie gekauft habe. Dazu gab er ihr den passenden Schlüssel. Wir machten uns alle gleich auf den Weg zur Besichtigung. Es war eine hübsche Dachgeschosswohnung mit Blick auf die Elbe. Bea war überwältigt vor Glück und begann sofort, ihren Umzug zu planen. Die Wohnung befand sich in einem anderen Stadtteil, was bedeutete, dass ich von Bea und Benni getrennt wurde. Das musste Laurent so beabsichtigt haben. Er wollte mich ausbooten. Bea erholte sich schnell von der Schwangerschaft. Sie wurde entspannter, was ihre Schönheit wieder zum Vorschein kommen ließ. Sie schien auch gereift zu sein, war weniger ungeduldig und nicht mehr so schnippisch wie früher. Kein Wunder also, dass Laurent seine Liebe zu ihr neu entdeckte. Das führte dazu, dass er ihr in einem Anfall von Reue gestand, sie mit mir betrogen zu haben. Beatrice tobte vor Wut, wobei ihr Zorn sich gar nicht so sehr gegen ihn, sondern vor allem gegen mich richtete. Sie brach jeden Kontakt mit mir ab.

Ich habe gelitten wie noch nie. Den ganzen Tag über saß ich in der einsamen Wohnung und dachte an Bea und Benni. Mein Leben kam mir ohne sie plötzlich so leer und sinnlos vor. Ich vernachlässigte meine Jobs, vernachlässigte mich selbst. Wenn ich es daheim nicht mehr aushielt, ging ich zu Beas Haus und starrte stundenlang auf die Eingangstür, in der Hoffnung, sie und das Baby wenigstens aus der Ferne zu Gesicht zu kriegen. Begegneten wir uns tatsächlich, dann drehte Beatrice sich demonstrativ weg.

Und während ich mir noch Vorwürfe machte und vor Kummer nichts essen wollte, ging ganz langsam eine Veränderung in mir vor. Die Zuneigung und Bewunderung, die ich Bea all die Jahre über entgegengebracht hatte, erlosch. Ich musste mir eingestehen, dass sie eigentlich nichts weiter als ein egoistisches, selbstherrliches Miststück war. Trotzdem schrieb ich ihr weiterhin lange Briefe, in denen ich sie um Verzeihung bat. Aber das tat ich nur, um Benni wieder zu sehen. Er war der Einzige, nach dem ich mich noch sehnte.

So vergingen mehrere Monate. Eines Tages rief Beatrice bei mir an. Sie sei zwar noch immer nicht über den Vertrauensbruch hinweg, den ich ihr angetan hätte, aber sie wolle einmal Gnade walten lassen. Ich musste mir noch etliche Vorwürfe anhören, ehe sie mit ihrem Anliegen herausrückte. Sie und Laurent hätten vor, das Wochenende an der Nordsee zu verbringen. Ohne Benni. Da ihre Eltern noch immer nichts mit dem Enkelkind anzufangen wüssten und sonst auch niemand als Babysitter infrage käme, wolle sie mir diese Chance zur Wiedergutmachung geben. Ich willigte sofort ein. Bis zum Wochenende blieben noch ein paar Tage Zeit. Ich freute mich wahnsinnig darauf, Benni endlich wieder in den Armen halten zu dürfen. Ich vermisste seinen Geruch, seine Nähe, sogar sein Geschrei. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihn immer bei mir haben zu können. Das brachte mich auf eine Idee.

Ich wusste, dass Laurent schon am Freitagabend ankommen sollte. Kurz nach Mitternacht machte ich mich auf den Weg zu Beas Haus. Ich musste ein wenig suchen, ehe ich den Mietwagen entdeckte. Er war in einer Seitenstraße geparkt. Mit einer kleinen Taschenlampe zwischen den Zähnen kroch ich rücklings unter den Wagen. Nicht umsonst hatte ich früher manchmal in der Werkstatt meines Vaters ausgeholfen. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich die Schrauben der Bremshydraulik löste.

Am nächsten Morgen kam ich pünktlich vorbei, um Benni zu übernehmen. Ich sollte mit ihm in seiner vertrauten Umgebung bleiben, auch wenn es Bea bestimmt nicht leicht fiel, mir die Wohnung zu überlassen. Benni brauchte ein wenig Zeit, um sich wieder an mich zu gewöhnen. Dann aber lächelte er mich an, und die beiden machten sich auf den Weg. Wir verbrachten einen schönen Tag, obwohl ich eine gewisse innere Unruhe kaum unterdrücken konnte. Immer wieder starrte ich auf das Telefon. Als Beatrice abends anrief und fragte, wie es mit Benni gelaufen sei, wusste ich nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein sollte.

Die Bremsen versagten erst am nächsten Tag, auf der Rückfahrt. Der Wagen raste gegen einen Betonpfeiler. Laurent war sofort tot.

Fünf Jahre ist das her. Seitdem komme ich mit Benni zweimal die Woche ins Krankenhaus. Mittlerweile sind wir die Einzigen, die noch regelmäßig vorbeischauen. Ein Richter hat mir Bennis Pflegschaft übertragen. Alle, die damals bei der Tauffeier anwesend waren, konnten bestätigen, dass dies in Beas Sinne gewesen wäre.

Der Junge schaut von seinem Spiel auf. »Können wir jetzt gehen?« Ich nicke, und gemeinsam verlassen wir den Raum.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Fischer Taschenbuch Verlags.

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Platz 3 beim Agatha-Christie-Krimipreis. Veröffentlicht in der Anthologie "Gefährliche Gefühle" 

Ich habe sie in bester Hollywoodmanier auf ihren geliebten antiken Queen-Anne-Stuhl gefesselt. Selbst jetzt, mit dieser purpurfarbenen Maske angstvollen Nichtverstehens auf ihrem Gesicht und dem Knebel im Mund, ist sie hinreißend schön. Verglichen mit ihr verkommt das betörende Antlitz der Aphrodite zum schlangennestigen Fratzenhaupt von Gorgo Medusa.

Aber wie sagte schon Napoleon Bonaparte: »Eine schöne Frau gefällt den Augen, eine gute dem Herzen. Die eine ist ein Kleinod, die andere ein Schatz.«
Der wusste noch, wovon er sprach, der Mann. Ich war nie auf der Suche nach einem Kleinod gewesen; was mich umgetrieben hatte, war ein Schatz. Vor vier Jahren fand ich ihn dann endlich. Meine Franziska. In fünf Wochen ist ihr zweiunddreißigster Geburtstag. Aber ich glaube nicht, dass sie ihn noch wird feiern können. Weder mit mir noch mit diesem Kerl. Denn sie ist kein Schatz, wie ich seit einigen Wochen weiß. Sie ist auch nur ein Kleinod wie so viele andere. Hätte Gott sie doch bloß mit dem Gesicht einer Dörrpflaume bedacht, wir wären wohl nie in diese Situation geraten.
mmmhhhmmm mmmhhhmmm mmmhhhhhh

Aha, sie summt wieder.
»Hast du mir was zu sagen?«
Natürlich hat sie etwas zu sagen, eine ganze Menge, schätze ich. Aber ich kenne das alles noch gut von Petra. Oder vor ihr Silke. Was soll ich ihr den Knebel aus dem Mund nehmen und mir die immer gleiche Litanei jetzt noch anhören?
mmmhhhmmm mmmhhhmmm mmmhhhhhh

»Dann halt nicht.«
Wie sie die Augen aufreißt, das kleine Unschuldslamm.
»Ich weiß alles.«
Sie schafft es tatsächlich, die getuschten Jalousien noch eine Winzigkeit weiter nach oben zu ziehen. Du meine Güte, wie armselig; Franziska wäre selbst in einer drittklassigen Tragödienaufführung auf einer Hinterhofbühne die reine Fehlbesetzung.
Das zieht einfach nicht, mein ... Schatz.

Was hatte sich das vor zwei Monaten doch ach so harmlos angehört, und ich Idiot habe ihr geglaubt. Ich war damals früher von der Arbeit heimgekommen, und noch im Flur hörte ich die beiden lauthals lachen. Franziska saß in der Küche mit einem mir fremden Mann. Der Kerl war ein eleganter, sportlicher Typ und hieß Frank. In solchen Momenten stutzt wohl jeder erst einmal, oder? Aber Franziska konnte es mir später am Abend »erklären«.
»Frank ist ein alter Schulfreund. Wir haben uns heute zufällig in der Stadt getroffen und wollten nur zwei Stündchen ungestört schwatzen und einen Kaffee trinken. Bist du sauer?«
»Nein, bin ich nicht.«
War ich tatsächlich nicht. Verunsichert, ja, wer wollte es mir auch verdenken, aber sauer? Was war denn letztlich schon dabei? Ein alter Schulfreund eben.

Dennoch sah ich nach, ob sie das Laken gewechselt hatte (Fehlanzeige), ob es im Bad nach übermäßigem Gebrauch von Duschgel roch (Fehlanzeige), und als Franziska mich umarmte und fest an sich drückte, schnüffelte ich heimlich an ihrem Hals wie ein Drogenspürhund (und siehe da: Fehlanzeige).

Zwei Wochen nach dieser Begegnung mit Frank - den ich in meiner grenzenlosen Naivität leider viel zu schnell vergessen hatte - fasste ich mir endlich ein vor Aufregung wild klopfendes Herz. Wir hatten zuvor viel darüber gesprochen, daher wusste ich um ihre Zustimmung, und doch stiefelte ich an jenem Sonntagabend wie Zappelphilipps totgeschwiegener Zwilling durch die Wohnung. Kaum war Franziska dann zur Haustür herein - noch verschwitzt von ihrem Nordic-Walking-Kurs -, schnappte ich sie mir, legte ihr beide Hände von hinten auf die Augen und führte sie ins Wohnzimmer. Ich hatte mein Bestes gegeben: ein siebenarmiger Kerzenleuchter auf dem Tisch, Chili con Carne, serviert auf unserem besten Porzellan, zwei Gläser Bordeaux, rote Rosen in dieser elend teuren Kristallvase, und im Kühlschrank warteten zum Nachtisch noch eine Schüssel Tiramisu und zwei Liter vom edelsten Tropfen der Champagne.

Dazu unser Lied: »Just like heaven« von The Cure.
Ich ging nach alter Väter Sitte vor ihr auf die Knie und hielt stammelnd wie ein pubertierender Junge um ihre Hand an. Dann kam der Hammer - nicht etwa ein zartes Uhrmacherhämmerchen, sondern gleich mit ungebremster Brachialgewalt
Thors Mjölnir.
»Es ist zu früh«, sagte sie und sah mich verlegen an. »Das kommt zu überraschend, Martin. Ich kann es dir nicht erklären, es ist einfach zu früh.«
Ich kann nicht mehr sagen, wie lange ich noch vor ihr gekniet habe. In solchen Momenten, in denen man mit der Bewegungsfreude und dem Sprachvermögen eines Steins vor seiner Liebsten hockt, verliert die Zeit jedwede Bedeutung.

Sie stand unbeweglich da, hielt meine Hand und starrte mich an. Wortlos. Immerhin ersparte sie mir dadurch sedative Floskeln im Stile von »Es tut mir Leid«. Ich glaube, dann wäre ich schon vorher gewarnt gewesen. Vor den SMS. Die kamen wenige Tage später. Beinahe jeden Abend ein halbes Dutzend - mindestens. Gut, es sind moderne Zeiten, aber Franziska? Das Handy hatte ich ihr vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt, der klassische Fehlgriff, wie sich zeigen sollte. Monat um Monat immer der gleiche Überweisungsbetrag auf ihrer Mobilfunkrechnung: 9,95 Euro. Die Grundgebühr. Und jetzt plötzlich diese Aktivität? Ständig  tanzte das vibrierende Handy über unseren Tisch. Pünktlich um halb acht ging es los, und dann kamen die Nachrichten im Viertelstundentakt. Am zweiten Abend fragte ich Franziska, wer es denn sei. Veronica, meinte sie. Ha, dass ich nicht lache! Es war kein einziges Mal Veronica - wahrscheinlich kann die mit ihren Wurstfingern nicht mal ein Handy bedienen -, aber ein Mann glaubt, was ein Mann glauben will, und wenn er sich dabei vollends zum Affen macht, bitte schön.

Rückblickend kann ich immer noch nicht fassen, wie unverhohlen sie bei all dem war. Dazu gehört ein Maß an Abgebrühtheit, das meine Vorstellungskraft übersteigt und das ich ihr nie zugetraut hätte.
Dieses Miststück!

Vor einem Monat wurden mir dann mit einem Ruck die Augen geöffnet. Es war der Abend vor Tante Helgas Grillparty. Franziska war zum Nordic Walking, ich fuhr zum Getränkemarkt, um noch einen Kasten Bier und Lampions zu kaufen. Beim Einladen warf ich einen beiläufigen Blick über die Straße, und da sah ich die beiden, draußen vor dem Eiscafé Leonardo - Franziska und Frank. Sie hatten sich über einen Prospekt auf dem Tisch gebeugt, redeten, lachten und aßen ihr Eis.

Mein erster Impuls war, hinüberzulaufen und die beiden zur Rede zu stellen. Aber ich bin immer noch froh, dass ich es nicht getan habe, auch wenn mich die Enttäuschung und die Wut an den Rand des Wahnsinns brachten. Ich wäre dem Rest des Spiels wohl nicht mehr auf die Schliche gekommen - jedenfalls nicht, bevor es zu spät war.

Ich fuhr nach Hause, kümmerte mich unterwegs nicht um die Menschen, die mich mit seltsamen Blicken bedachten, weil ich flennend am Steuer des Wagens saß. Franziska kam an jenem Abend spät zurück, und irgendwie gelang es mir tatsächlich, mich so zu geben wie immer. Noch war die Zeit nicht reif, das spürte ich.

Als sie duschen ging, nahm ich mir ihr Handy. Es war eingeschaltet, nicht mal an die Tastensperre hatte sie gedacht. Ich habe nie, nicht ein einziges Mal in ihren privaten Sachen gestöbert, vielleicht fühlte sie sich deswegen auf diese schon an Unverschämtheit grenzende Art und Weise sicher. Aber nach diesem ihrem Vertrauensbruch war ich nicht länger gewillt, mich an die Spielregeln zu halten.
Die SMS, die ich da lesen konnte, waren höchst aufschlussreich.
Jede einzelne war von Frank. Nicht gerade poetische Worte, die er für sie gefunden hatte. Wie war das noch gleich: »komme morgen um 11 zu dir, dann reden wir darüber« - »meinst du, er hat Wind davon bekommen?« - »mach dir keine sorgen, das schaffen wir schon«.

Von diesem Kaliber fand ich sechs Nachrichten. Die verräterischsten hatte sie natürlich längst gelöscht. Sei’s drum, die wichtigste SMS von allen entging mir nicht. Sie kam vor zwei Wochen, am Sonntag, den 7. August. Ein solches Datum vergisst man so wenig wie den ersten Kuss.
»morgen um 12.30 am haupteingang der post. kannst du?«
Natürlich konnte sie. Und ich konnte auch. Meinem Chef quatschte ich einen Arztbesuch an die Backe, dann fuhr ich zur Post. Franziska trug den blauen Rock, den sie auch getragen hatte, als wir in unserem ersten Sommer mit einer Decke und schmachtenden Lenden in einem Weizenfeld verschwunden waren. Die beiden gaben sich ordentlich Mühe, dass ihr Beisammensein unverfänglich aussah, aber ich hatte keine Tomaten auf den Augen. Vorsichtig pirschte ich ihnen hinterher. Erst zum Juwelier. Mann, es war derselbe Juwelier, bei dem wir uns die Freundschaftsringe gekauft hatten. Unser Eiscafé. Das Kleid. Der Juwelier. Mir war schlecht, aber noch hasste ich sie nicht. Noch nicht.

Das kam kurz darauf. Sie flanierten durch die Stadt, gingen im Dubrovnik essen, und danach ... ja, danach verschwanden sie bei Josefines Brautmoden. Fast auf den Tag genau vier Jahre, nachdem sie mich gefragt hatte, wie der Fahrkartenautomat in der Bahnhofshalle funktioniert. Sechs Wochen, nachdem sie mir ihr Nein an den Kopf geworfen hatte. Ging einfach mit diesem Kerl ins Brautgeschäft, als hätte es mich nie gegeben.
Diese Schlampe!
»Ich weiß alles«, halte ich ihr erneut vor. »Ja, da machst du Augen, ne?«
mmmhhhmmm mmmhhhmmm mmmhhhhhh

Sie summt wie ein ganzer Bienenstock. Soll sie ruhig, ich bin kein Imker.
»Morgen ist unser vierter Jahrestag. Ich wollte mit dir nach Schottland. Drei Wochen, du weißt, wie ich mich darauf gefreut habe. Aber du hattest immer wieder eine andere Ausrede parat, wolltest partout nicht fahren.«
Zeit für eine Zigarette. Diesmal wird Franziska nicht darauf bestehen, dass ich auf den Balkon gehe. Ich nehme einen tiefen Zug und blase den Rauch in Richtung ihres Gesichts.
»Na, mein Schatz, magst du nicht, richtig? Aber das wir dich schon nicht umbringen. Bleib einfach locker, okay?«

Ihre Augen schimmern feucht. Hinter dem salzigen Schleier haben sich die Kapillargefäße geweitet - als wolle sie blutige Tränen weinen. Einerlei, ich habe in den letzten Wochen meinen Teil unbemerkt geflennt, jetzt ist sie an der Reihe. Das ist nur fair.
Ich krame einen zerknitterten Bon aus meiner Jeans und wedele damit vor ihrer Nase herum.
»Das hier habe ich letzte Woche in deinem Portemonnaie gefunden. Kennst du die noch? Eine Quittung über zwei Hartschalenkoffer. Passt sicher dein halber Kleiderschrank rein. Wo hast du die Koffer eigentlich deponiert? Und wann hättest du es hinter dich gebracht, hm? Weißt du schon, wo du bei ihm schlafen wirst? Wieder auf der Fensterseite, so wie hier? Ich kann dir versprechen, du wirst bald sehr, sehr lange schlafen, und dein neues Bett wird kein einziges Fenster haben. Er muss dir nur eine SMS schicken, und dann aber Gute Nacht, mein Schatz.«

Die theatralische Kunstpause gelingt mir ausgesprochen gut. »Gleich ist es halb acht. Das war doch immer eure Zeit. Freust du dich schon auf seine Nachricht?«
Ich gehe vor ihrem Stuhl auf und ab. Sie folgt mir lediglich mit dem Blick; den Kopf wagt sie nicht zu bewegen, sie ist ja nicht dumm. Das Handy könnte herunterfallen, und dann ...

Zugegeben, meine Methode ist nicht gerade professionell, aber trotz allen Aufwands finde ich sie gelungen. Der schwierigste Teil schien mir zu sein, Franziska auf dem Stuhl zu fesseln, aber da sie mit dem Argwohn eines Engels ausgestattet ist, funktionierte dieser Teil meines Plans überraschend gut.

Der Rest war dann ein Kinderspiel. Ich habe das große Planschbecken - eigentlich für Franziskas Neffen gedacht, aber der Kleine hat eine Sonnenallergie - aus dem Keller geholt, es aufgeblasen und mit Wasser gefüllt. Mittendrin befindet sich jetzt der Stuhl mit Franziska. Ihre nackten Füße sehen in dem Wasser aus wie blasse Fische. Um dem Ganzen den nötigen Nachdruck zu verleihen, habe ich sie so lange mit Wasser bespritzt, bis sie völlig durchnässt war.

Der Clou aber ist das Handy auf ihrem Kopf. Daran habe ich mittels einer Drahtschlinge das eine Ende eines Verlängerungskabels befestigt, dessen abisolierte Drähte sich wie magere Totenfinger über dem Display in die Höhe recken. Das andere Ende steckt unter dem Tisch in der Steckdose. Ich weiß, dass Franziskas Handy immer noch auf Vibration eingestellt ist. Davon habe ich mich selbst überzeugt. Und jetzt warten wir beide mit Spannung (ihre mit einem exakten Wert von 220 Volt) auf Franks SMS.

Fünf nach halb acht. Der Kerl ist spät dran. Plötzlich klingelt es an der Tür.
Wer zum Teufel ...?
mmmhhhmmm mmmhhhmmm mmmhhhhhh

Glaubt sie wirklich, jemand könnte sie hören? Lächerlich.
»Hör bloß auf mit dem Gesumme. Ich bin gleich wieder da.«
Es klingelt erneut. Auf Zehenspitzen schleiche ich durch den langen Flur zur Haustür. Durch den Spion sehe ich einen Mann, halb verdeckt von einem großen Blumenstrauß - Frank. Das gibt’s doch nicht! Der Arsch hat vielleicht Nerven. Meine sind nicht halb so gut. Vergessen ist die Sache mit Franziska in der Küche, ich will jetzt nur noch eines: dem Kerl die Kauleiste einschlagen.

Mit einem Ruck ziehe ich die Tür auf. Da steht er und grinst mich an. Kein Erschrecken, kein blödsinniger Versuch einer Ausrede, weil er mich so unerwartet doch zu Hause vorfindet. Von wegen schlechtes Gewissen - nicht die Bohne. Bevor ich noch auf ihn losgehen kann, drückt er mir den Blumenstrauß in die Hand. Ich komme kaum dazu, den Kerl für völlig meschugge zu halten, da reicht er mir auch schon einen üppig gefüllten Umschlag.
»Alles Gute euch beiden«, sagt er vergnügt, macht auf dem Absatz kehrt und geht davon.

Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Den Blumenstrauß unter die Achsel geklemmt, öffne ich den Umschlag. Meine Hände zittern. Oh Himmel, meine Hände zittern, weil ... In dem Umschlag stecken zwei Flugkarten nach Las Vegas. Abflug: morgen um 15.45 Uhr. Und eine Hotelbuchung, ausgestellt auf Franziskas und meinen Namen.
Mein Gott!
Der Umschlag und die Tickets flattern auf den Boden, die Blumen stürzen darauf.
Ich muss zurück in die Küche. Zurück zu meiner Franziska. Ein letzter Blick auf Franks Rücken. Er hat seinen rechten Arm angewinkelt. Ich kenne diese Haltung nur zu gut. Ich weiß, was er da tut.

»Um Himmels willen, nicht!«, brülle ich und renne hinter ihm her.
Er dreht sich um und blickt mir verständnislos entgegen. In seiner rechten Hand hält er ein Handy. »Was ist denn ...«
»Keine SMS!«, schreie ich wie von Sinnen. »Du darfst keine SMS ...«
Ich reiße ihm das Handy aus der Hand. Er hat die SMS bereits geschrieben.

»brautkleid im großen koffer bei deiner mutter, ringgravur hat noch geklappt. viel spaß, und: bis dass der tod euch scheidet *zwinker*. dein wedding-planer«
Mir droht der Kopf zu zerspringen. »Hast du sie abgeschickt? Verdammt, hast du die Nachricht abgeschickt?«
Es sieht fast so aus, als würde er den Kopf schütteln. Ich bin nahe daran, vor Erleichterung irre aufzulachen. Bis ich begreife:
Dieser Mann nickt leise.

Und irgendwo hinter mir, weit, weit weg in dem Haus, das ich mit Franziska vor zwei Jahren gemietet habe und das wir unsere kleine Schatzinsel zu nennen pflegten, knallt entsetzlich laut eine Sicherung durch.
Es klingt beinahe wie ein tödlicher Schuss.

Platz 2 beim Agatha-Christie-Krimipreis. Veröffentlicht in der Anthologie "Gefährliche Gefühle"

Als wir das Krankenhauszimmer betreten, entzieht der Junge mir seine Hand und bleibt bei der Türe stehen. Der Geruch von Desinfektionsmitteln sticht in meiner Nase. Beatrice sieht aus wie eine wächserne Puppe. Ihr ausgemergelter Brustkorb wird von der Beatmungsmaschine gehoben und gesenkt. Sonst regt sich nichts an ihr.

Ich winke Benni zu mir: »Begrüße deine Mutter, mein Schatz!« Zögernd tritt er auf das Bett zu. »Hallo, Mutter.« Ich tätschele seinen Kopf. Benni verabscheut diese Besuche. Ich weiß das. Mir geht es genauso.

Ich rücke zwei Stühle ans Bett heran. Benni setzt sich und sieht bittend zu mir herauf: »Darf ich jetzt meinen Gameboy, Mama?« Ich lächle milde und ziehe das Gerät aus meiner Tasche. Während der Junge in andere Welten abtaucht, betrachte ich meine frühere Freundin.

Beatrice war das schönste Mädchen an der ganzen Schule. Groß gewachsen, schlank, mit langen braunen Haaren, die niemals unordentlich aussahen, und einem ebenmäßigen Gesicht. Ich hingegen war dicklich, mein Kraushaar nicht zu bändigen, und zu allem Überfluss saß ein mächtiges Kassenbrillengestell auf meiner Nase. Als ich in der Pubertät auch noch Pickel bekam, gelangte ich zu der Überzeugung, dass es sich nicht lohne, noch irgendwelche Anstrengungen in mein Äußeres zu investieren. Neben Beatrice war ich ohnehin für alle unsichtbar. Trotzdem fühlte ich mich wohl in ihrer Nähe. Die Tatsache, dass sie sich mit mir abgab, schmeichelte mir. In ihrem Schlepptau wurde ich zu Partys eingeladen, und manch ein Junge bemühte sich sogar um ein Gespräch mit mir, um Beatrice zu imponieren.

Meine Mutter war sehr stolz auf unsere Freundschaft, denn Beas Eltern waren »bessere Leute«, wie sie zu sagen pflegte. Beas Vater war leitender Bankangestellter, meiner bloß Kfz- Mechaniker.

Die Eltern von Beatrice hatten große Pläne mit ihrer Tochter. Sie sollte Jura studieren oder Medizin. Bea hingegen träumte von einer Karriere als Filmstar. Und ich ließ sie bei mir abschreiben, damit sie die Schule schaffte. Nach dem Abitur beschlossen wir, gemeinsam fortzugehen. Wir wollten raus aus dem Kleinstadtmief. Bea hatte sich heimlich bei verschiedenen Schauspielschulen beworben und einen Platz in Hamburg ergattert. Ich begleitete sie, und wir teilten uns eine kleine Wohnung. Ihre Eltern, denen sie weisgemacht hatte, sie würde Zahnmedizin studieren, überwiesen ihr regelmäßig Geld. Wir lebten ganz gut davon. Ich half Beatrice beim Auswendiglernen ihrer Texte, freute mich mir ihr über die ersten kleinen Erfolge und stand tröstend zur Seite, wenn mal etwas schief gelaufen war. Außerdem versorgte ich den Haushalt. Ich regte mich nicht darüber auf, wenn ihre langen Haare den Abfluss der Badewanne verstopften oder sie wieder einmal ihre schmutzige Wäsche auf dem Boden liegen ließ. Ich war einfach froh, bei ihr zu sein. Bea fing an, Männer mit nach Hause zu bringen. Schauspielschüler erst, später einige Dozenten. Sie verzogen sich in ihr Zimmer, wo ich sie kichern hörte. Oder stöhnen. Sie blockierten stundenlang das Badezimmer und hinterließen große Pfützen auf dem Fußboden. An diesen Tagen war ich Luft für Beatrice.

Wir wurden uns fremd. Sie kam immer seltener nach Hause, schlug sich die Nächte auf Partys oder in fremden Betten um die Ohren. Ich vermisste sie. Um mich abzulenken, begann ich ein Mathematikstudium.

Eines Tages brachte Bea Laurent Marceau mit nach Hause. Monsieur Marceau war ein Geschäftsmann aus Paris. Er leitete eine Textilfirma für Herrenmode. Sie hatten sich in einer Cocktailbar kennen gelernt. Laurent war Anfang vierzig, gut aussehend, reich und sehr charmant. Er war verheiratet, hatte eine Frau und zwei Töchter in Paris, was er »Beatriiiice«, wie er sie nannte, auch gleich in der ersten Nacht gestand. »Abär isch liebä nuur disch!!!«, fügte er hinzu.

Laurent kam alle drei Wochen für ein paar Tage vorbei. Er schenkte Bea teure Kleider und Schmuck, führte sie in die besten Restaurants aus, und einmal überraschte er sie sogar mit zwei Flugtickets nach Mailand, wo die beiden einen luxuriösen Kurzurlaub verbrachten.

Laurent ging davon aus, dass Beatrice die Pille nähme. Er fragte nie danach. Beatrice ging davon aus, dass wahre Liebe Früchte tragen sollte. So wurde Benni gezeugt. Als sie Laurent von der Schwangerschaft erzählte, schwankte er zwischen Freude und Bestürzung. Ob sie sicher sei, dass sie das Kind behalten wolle? Bea war sich sicher, so wie sie sich sicher war, dass Laurent eines Tages seine Familie in Paris verlassen und mit ihr zusammen leben würde.

Es ging ihr nicht besonders gut in der Schwangerschaft. Sie musste sich täglich übergeben, war gereizt und müde. Ich umsorgte sie. Wir verbrachten die Abende gemeinsam vor dem Fernseher, fütterten uns gegenseitig mit Pralinen und sahen uns kitschige Videofilme an. Sie ließ mich alle Anrufer abwimmeln. Es gab nur uns beide. Ich war selig.

Laurent überschüttete Bea mehr als zuvor mit teuren Geschenken, ließ aber andererseits immer mehr Zeit zwischen seinen Besuchen verstreichen. Er müsse vorsichtig sein, seine Frau sei misstrauisch geworden, erzählte er ihr. Sie glaubte ihm halbherzig.

Es wurde Winter, und Beas Gereiztheit schlug in depressive Verstimmungen um. War Laurent da, dann schrie sie ihn an, wenn er nicht bereit sei, seine Frau zu verlassen, könne er auch gleich verschwinden. War er nicht da, so heulte sie nach ihm.

Eines Tages kamen Beas Eltern, die noch immer alle Rechnungen bezahlten, überraschend zu Besuch. Der Zustand ihrer Tochter, die ganz offensichtlich weit davon entfernt war, als Zahnärztin Karriere zu machen, schockierte sie. Als Beatrice sie daraufhin hochkant aus der Wohnung warf, stellten sie die monatlichen Zahlungen mit sofortiger Wirkung ein.

Ich nahm einen Job als Hilfswissenschaftlerin bei der Uni an. Nächtelang saß ich vor dem Computer und erstellte Tabellen für meinen Professor, der mir dies mit einem knappen Nicken dankte. Da das Geld trotzdem nicht ausreichte, um uns beide zu finanzieren, stand ich außerdem frühmorgens auf und trug Zeitungen aus. Der Schlafmangel, die ungewohnten Anstrengungen und die ständige Sorge um Beatrice ließen mein Übergewicht verschwinden. Sie hingegen wurde immer runder. Der Bauch wuchs, und auch auf den Hüften und Oberschenkeln sammelten sich Fettpölsterchen an. Ich stand ihr trostspendend zur Seite und freute mich heimlich über jedes Pfund, das sie ansetzte.

Beatrice vernachlässigte ihr Aussehen. Ihre Haare wurden fettig, das Gesicht von der Schwangerschaft aufgequollen. Es war eigenartig, sie so zu sehen. Einerseits tat sie mir Leid, andererseits erfüllte mich ihr Anblick mit Genugtuung. Je mehr sie verkam, desto mehr blühte ich auf. Ich besorgte mir Kontaktlinsen und warf die alte Brille in den Mülleimer. Die Haare ließ ich mir glätten und probierte eine kastanienbraune Tönung aus. Bea überließ mir ihre zu eng gewordenen Klamotten, die tatsächlich passten wie angegossen. Plötzlich fanden die Männer mich attraktiv. Einen Kommilitonen, der sich besonders angestrengt um mich bemühte, ließ ich erst eine Weile zappeln und dann eiskalt abblitzen. Das Gefühl war unbeschreiblich. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Macht über andere.

Auch Laurent zeigte sich beeindruckt von meinem neuen Aussehen. Während ich zuvor ein Neutrum für ihn gewesen war und er allenfalls kumpelhaft mit mir gescherzt hatte, begann er nun, mit mir zu flirten. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, und nach kurzer Zeit gab ich seinem Werben nach. Beatrice war zum Glück zu sehr mit ihrem elenden Zustand beschäftigt, als dass sie es mitbekommen hätte.

Dann wurde der Junge geboren. Ich war bei der Geburt dabei, Laurent konnte erst zwei Tage später kommen. Ich erledigte alle Formalitäten. Beim Standesamt wurde der Vater als »unbekannt« eingetragen.

Ich holte Laurent am Bahnhof ab und gratulierte ihm zu seiner Vaterschaft. Auf der Fahrt im Leihwagen, den er wie immer gleich am Bahnhof geordert hatte, beendete er unser Verhältnis. Er hatte anscheinend etwas wie Verantwortungsbewusstsein Bea und dem Kind gegenüber entwickelt. Ich heuchelte Verständnis. Den Rest der Fahrt schwiegen wir. Es tat mir Leid, Laurent wieder abgeben zu müssen. Aber zum Trauern blieb mir nicht viel Zeit, weil ich jetzt das Baby umsorgen musste. Bea war von Bennis Ansprüchen völlig überfordert. Sie hatte keine Übung darin, sich um jemand anderen als sich selbst zu kümmern. Also nahm ich das in die Hand. Stundenlang trug ich den schreienden Säugling nachts durch die Wohnung und sang ihm Lieder vor, damit er sich beruhigte. Ich war glücklich. Benni brauchte mich. Als das Baby drei Wochen alt war, kam Laurent zum nächsten Besuch. Er hatte Champagner mitgebracht und überraschte uns mit der Idee, eine kleine inoffizielle Tauffeier zu veranstalten. Bea lud ein paar frühere Schauspielfreunde ein. Ich rief den Kommilitonen an, den ich hatte abblitzen lassen. Er freute sich über die Einladung.

Wir schmückten die Wohnung mit Luftballons und Girlanden wie zum Kindergeburtstag. Nachdem alle versammelt waren, erhob Laurent sein Glas und hielt eine feierliche Ansprache auf seinen Sohn, die er mit den Worten »Isch taufe disch iermit auf den Naam Bendschamään!« abschloss. Dann goss er dem Baby das halbe Glas Champagner über den Kopf. Nachdem Bennis empörtes Schreien abgeebt war, wandte Laurent sich mir zu. Er erzählte allen, wie aufopfernd und fürsorglich ich mich um Bea gekümmert habe, besonders in den schweren Zeiten der Schwangerschaft, und dass es Beatrice und ihm eine große Freude sei, mich zur Taufpatin des Kindes zu ernennen. Sollte ihnen beiden jemals etwas zustoßen, dann wäre Benni bei mir in den besten Händen. Sie umarmten mich, und Bea ließ sich sogar zu einem »Vielen Dank für alles!« hinreißen, was mich zu Tränen rührte.

Dann kündigte Laurent eine weitere Überraschung an. Er überreichte Bea feierlich einen Stadtplan, auf dem er an einer Stelle ein kleines Kreuz eingezeichnet hatte. Dort befände sich eine Wohnung, die er für sie gekauft habe. Dazu gab er ihr den passenden Schlüssel. Wir machten uns alle gleich auf den Weg zur Besichtigung. Es war eine hübsche Dachgeschosswohnung mit Blick auf die Elbe. Bea war überwältigt vor Glück und begann sofort, ihren Umzug zu planen. Die Wohnung befand sich in einem anderen Stadtteil, was bedeutete, dass ich von Bea und Benni getrennt wurde. Das musste Laurent so beabsichtigt haben. Er wollte mich ausbooten. Bea erholte sich schnell von der Schwangerschaft. Sie wurde entspannter, was ihre Schönheit wieder zum Vorschein kommen ließ. Sie schien auch gereift zu sein, war weniger ungeduldig und nicht mehr so schnippisch wie früher. Kein Wunder also, dass Laurent seine Liebe zu ihr neu entdeckte. Das führte dazu, dass er ihr in einem Anfall von Reue gestand, sie mit mir betrogen zu haben. Beatrice tobte vor Wut, wobei ihr Zorn sich gar nicht so sehr gegen ihn, sondern vor allem gegen mich richtete. Sie brach jeden Kontakt mit mir ab.

Ich habe gelitten wie noch nie. Den ganzen Tag über saß ich in der einsamen Wohnung und dachte an Bea und Benni. Mein Leben kam mir ohne sie plötzlich so leer und sinnlos vor. Ich vernachlässigte meine Jobs, vernachlässigte mich selbst. Wenn ich es daheim nicht mehr aushielt, ging ich zu Beas Haus und starrte stundenlang auf die Eingangstür, in der Hoffnung, sie und das Baby wenigstens aus der Ferne zu Gesicht zu kriegen. Begegneten wir uns tatsächlich, dann drehte Beatrice sich demonstrativ weg.

Und während ich mir noch Vorwürfe machte und vor Kummer nichts essen wollte, ging ganz langsam eine Veränderung in mir vor. Die Zuneigung und Bewunderung, die ich Bea all die Jahre über entgegengebracht hatte, erlosch. Ich musste mir eingestehen, dass sie eigentlich nichts weiter als ein egoistisches, selbstherrliches Miststück war. Trotzdem schrieb ich ihr weiterhin lange Briefe, in denen ich sie um Verzeihung bat. Aber das tat ich nur, um Benni wieder zu sehen. Er war der Einzige, nach dem ich mich noch sehnte.

So vergingen mehrere Monate. Eines Tages rief Beatrice bei mir an. Sie sei zwar noch immer nicht über den Vertrauensbruch hinweg, den ich ihr angetan hätte, aber sie wolle einmal Gnade walten lassen. Ich musste mir noch etliche Vorwürfe anhören, ehe sie mit ihrem Anliegen herausrückte. Sie und Laurent hätten vor, das Wochenende an der Nordsee zu verbringen. Ohne Benni. Da ihre Eltern noch immer nichts mit dem Enkelkind anzufangen wüssten und sonst auch niemand als Babysitter infrage käme, wolle sie mir diese Chance zur Wiedergutmachung geben. Ich willigte sofort ein. Bis zum Wochenende blieben noch ein paar Tage Zeit. Ich freute mich wahnsinnig darauf, Benni endlich wieder in den Armen halten zu dürfen. Ich vermisste seinen Geruch, seine Nähe, sogar sein Geschrei. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihn immer bei mir haben zu können. Das brachte mich auf eine Idee.

Ich wusste, dass Laurent schon am Freitagabend ankommen sollte. Kurz nach Mitternacht machte ich mich auf den Weg zu Beas Haus. Ich musste ein wenig suchen, ehe ich den Mietwagen entdeckte. Er war in einer Seitenstraße geparkt. Mit einer kleinen Taschenlampe zwischen den Zähnen kroch ich rücklings unter den Wagen. Nicht umsonst hatte ich früher manchmal in der Werkstatt meines Vaters ausgeholfen. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich die Schrauben der Bremshydraulik löste.

Am nächsten Morgen kam ich pünktlich vorbei, um Benni zu übernehmen. Ich sollte mit ihm in seiner vertrauten Umgebung bleiben, auch wenn es Bea bestimmt nicht leicht fiel, mir die Wohnung zu überlassen. Benni brauchte ein wenig Zeit, um sich wieder an mich zu gewöhnen. Dann aber lächelte er mich an, und die beiden machten sich auf den Weg. Wir verbrachten einen schönen Tag, obwohl ich eine gewisse innere Unruhe kaum unterdrücken konnte. Immer wieder starrte ich auf das Telefon. Als Beatrice abends anrief und fragte, wie es mit Benni gelaufen sei, wusste ich nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein sollte.

Die Bremsen versagten erst am nächsten Tag, auf der Rückfahrt. Der Wagen raste gegen einen Betonpfeiler. Laurent war sofort tot.

Fünf Jahre ist das her. Seitdem komme ich mit Benni zweimal die Woche ins Krankenhaus. Mittlerweile sind wir die Einzigen, die noch regelmäßig vorbeischauen. Ein Richter hat mir Bennis Pflegschaft übertragen. Alle, die damals bei der Tauffeier anwesend waren, konnten bestätigen, dass dies in Beas Sinne gewesen wäre.

Der Junge schaut von seinem Spiel auf. »Können wir jetzt gehen?« Ich nicke, und gemeinsam verlassen wir den Raum.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Fischer Taschenbuch Verlags.

SMS - Short Mortal Service

Agatha Christie -Krimipreis,

SMS - Short Mortal Service

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