Der Spucker

  • Erschienen: Januar 2006
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Das vornehme Geschlecht der Staffes steht vor dem Aussterben. Es gibt nur noch den alten Kapitän Horatio Staffe und seinen Neffen Jimmy Warrender, der zu seiner Überraschung nach High Matcham auf den einsam gelegenen Stammsitz der Staffes eingeladen wird. In der Hoffnung auf ein reiches Erbe will Warrender seinen zuvor nie gesehenen Onkel Horatio besuchen. Auf der nächtlichen Fahrt nach Südengland bleibt sein Wagen nach einem Unfall stecken. Als er zu Fuß und mit seinem Koffer das nächste Dorf ansteuert, gerät Warrender in eine unheimliche Szene: Zwei Männer heben im Wald ein Grab aus. Als er flüchtet, greift sich Warrender versehentlich den Koffer der Totengräber. Nach einem angstvollem Marsch erreicht er endlich High Matcham. Der Inhalt des Koffers: 250.000 Pfund aus einem Postraub, der seit vier Monaten Englands Polizei in Atem hält!

Horatio Staffe entpuppt sich als exzentrischer, selbstherrlicher Geselle, der seinem Neffen verbietet, die Polizei zu benachrichtigen: Er will den Räubern, die zweifellos nach ihrer verschwundenen Beute forschen werden, eine Falle stellen, um sie selbst festzusetzen. Warrender lässt sich darauf ein, bereut dies aber schnell, als man in seinem liegengebliebenen Wagen die Leiche aus dem Waldgrab findet: Ein erster "Gruß" der Schurken, die seine Spur schnell aufgenommen haben.

Der Leichenfund veranlasst Scotland Yard Chefinspektor Bill "Old Iron" Cromwell und seinen Assistenten Johnny Lister auf den Fall anzusetzen. Der misstrauische Polizist erkennt, dass ihm Neffe und Onkel etwas verschweigen. Doch nicht einmal Warrender ahnt, wie verrückt der alte Staffe tatsächlich ist, bis die Ereignisse auf eine finale Schlacht zwischen konkurrierenden Gaunern und dem Gesetz zusteuern, während Warrender sich zu allem Überfluss in die Tochter des Dorfpolizisten verliebt …

Mord muss & Spaß darf sein

Wenn ein Krimi-Autor seit anderthalb Jahrzehnten seine Serienhelden in neue Abenteuer schicken muss, geht dabei mit ziemlich großer Sicherheit die ursprüngliche Begeisterung verloren, während sich die Suche nach neuen Fällen zunehmend schwieriger gestaltet. Manchmal lässt er dann alle Fünfe gerade sein, bricht mit den strengen Konventionen des Genres und schöpft daraus ein Vergnügen, das die Serien-Fron wieder erträglicher macht. Dies ist jedenfalls eine Erklärung für die Existenz eines Werkes wie Der vertauschte Koffer, das als Kriminalroman selbst den nachsichtigsten Leser zu ratlosem Kopfschütteln veranlasst: So eine Häufung absurder Zufälle und vorsätzlicher Verstöße gegen den gesunden Menschenverstand kann einfach nur humorvoll gemeint sein.

Bereits die Ausgangssituation ist Klischee pur. "Es war eine dunkle, stürmische Nacht …" – und es wird keineswegs realistischer. Der Sturm wirft dem erblustigen Neffen einen dicken Ast genau dort vor den Autokühler, wo zwei Gauner ihrer Friedhofsarbeit nachgehen. Einen Koffer mit geraubtem Geld haben sie in einiger Entfernung zum Grab hingestellt, damit der nächtliche Augenzeuge – der selbst einen Koffer mit sich herumschleppt – darüber stolpern und unbemerkt das falsche Exemplar greifen kann.

So geht es ungehemmt weiter, während der Leser entscheiden muss, ob er verärgert oder amüsiert reagieren soll. Gunn geht jedenfalls keine Kompromisse mehr ein. Seine solide aber simpel gestrickten Kriminalgeschichten befanden sich nie auf der Höhe der Zeit, doch mit Der vertauschte Koffer legt er es offenbar auf eine echte Parodie der klassischen "Whodunits" an.

Jeder Einfall kommt sofort in die Suppe

Des Onkels Landsitz entpuppt sich selbstverständlich als verfallenes Spukschloss voller Winkel und Schatten, in dem Zugluft einen Schlüssel zu Pfeifen bringen kann, wie der Originaltitel zu entschlüsseln ist. Der Hausherr erscheint als verschrobene Wiedergeburt eines Feudalherren, der auch im 20. Jahrhundert über seine "Untertanen" herrscht und die Aufklärung eines Raub- und Mordfalls umgehend zur Privatsache erklärt. Der Neffe, ein ansonsten angeblich "moderner" junger Mann, verfällt dem seltsamen Zauber, den Gunn über ihn wirft, und beugt sich dem "Plan", obwohl er sich dessen Irrwitzes bewusst ist.

Die Räuber reihen sich nahtlos in ein generell bemerkenswertes Figurenpersonal ein. Am Eingang des Dörfchens, über das der alte Horatio herrscht, scheint eine Zeitmaschine zu stehen. Sie bewahrt die Bürger vor den zweifelhaften Segnungen der Moderne. Selbst gestandene Posträuber benehmen sich wie Trottel. Falls ihre obskuren Einfälle zur Rückeroberung der abhanden gekommenen Beutel wider Erwarten doch zu fruchten scheinen, löst Gunn dieses "Problem" mit einer zünftigen Slapstick-Prügelei in finsterer Nacht, bei der sich die Hüter des Gesetzes selbst außer Gefecht setzen, sodass die Schurken wieder ins Gebüsch entkommen können.

Nicht einmal "Old Iron" Cromwell ist immun gegen die verwirrenden Schwingungen in und um High Matcham. Obwohl der erfahrene Kriminologe genau weiß, dass man ihn an der Nase herumführt, spielt er nur aus einem zwingenden Grund mit: Verfasser Gunn würde mit seiner Geschichte sofort auf der Strecke bleiben, sollte auch nur einer der Beteiligten dem Rat des gesunden Menschenverstandes folgen!

Wenn man an keine Steigerung mehr glaubt …

Die Stringenz des Plots ist eine Kardinaltugend des Kriminalromans. Selbst der verwickeltste, mit Tricks und Finten aufgeladene Fall muss einem logischen roten Faden folgen. Den können wir auch in diesem Roman finden, aber wir müssen ihn sehr sorgfältig suchen! Endgültig jenseits von Gut & Böse ist ein Geschehen, das Horatio Staffe als übergeschnappten Hüter familiärer Werte zeigt. Es hat mit der eigentlichen Handlung rein gar nichts zu tun und wird vom ansonsten allwissenden Cromwell nicht einmal wahrgenommen.

Gunn opfert dem Effekt scheinbar jegliche Krimi-Klarheit – und er kommt durch damit, weil er dennoch zu überraschen vermag. So bricht die Kette der wiederholten Attacken durch die düpierten Gauner plötzlich ab. Dieses Ende ist kurios, die Auflösung bizarr. Wundert sich jemand, dass sie in diesem kruden "Krimi" problemlos funktioniert?

Auf einen anderen Nebenstrang hätte Gunn verzichten können. Wie üblich gibt er einer Liebesgeschichte breiten Raum. Sie trieft vor altmodischen Klischees, die einen Mann in einen stammelnden Trottel und eine junge Frau in ein "Mädchen" verwandeln, das aufkeimende Liebe primär durch eiliges Fortlaufen signalisiert: Ausgerechnet hier, wo Ironie nottäte, bleibt Gunn ernst und wird langweilig – eine Sünde, die er ansonsten zu vermeiden weiß.

Der Spucker
Der Spucker
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Platz 1 beim Agatha-Christie-Krimipreis 2006. Veröffentlicht in der Anthologie "Gefährliche Gefühle"

Es ist besser gelaufen, als er gedacht hat, wie am Schnürchen ist es gelaufen. Einmal nichts dem Zufall überlassen, einmal streng nach Plan vorgegangen, und schon hat alles geklappt, am liebsten würde er es hinausschreien in die Welt, seht mich an, mich, Josh, den ewigen Versager, ein Meisterstück habe ich vollbracht, intelligent durchdacht, minutiös vorbereitet, kaltblütig ausgeführt, nur eine einzige kleine Unsicherheit gibt es noch, eine winzige Schwachstelle, nur ein Quäntchen Glück brauche ich noch und ich habe es geschafft, aber auch das wird klappen, er ist sich ganz sicher, es schwellt ihm die Brust, dieses Gefühl, kann es wahr sein, wirklich wahr sein, da, schon meldet sich die fiese Ratte Zweifel, fängt leise an zu nagen an der Gewissheit, an der Siegesgewissheit, das alte Programm, das alte Versagerprogramm, es sitzt tief, er schluckt, schluckt Speichel, was ist, wenn er doch etwas übersehen hat, wenn der andere nicht in die Falle tappt, die er so geschickt ausgelegt hat, aber nein, das ist nicht möglich, es kann nichts mehr schief gehen, er braucht nur abzuwarten, er muss nur Ruhe bewahren. Er sitzt im Dunkel, die Musik so leise, dass er sie kaum hört, Aïcha, écoute-moi, drüben, bei den Mülltonnen, an der Mauer zum Nachbarhof, eine schwarze Gestalt am Boden, reglos, gekrümmt, schemenhaft wie die Musik, nur für ihn wahrnehmbar.

Die Ratte, sie kommt wieder, sie kommt um zu nagen, er lässt die Schultern fallen, er schluckt, schluckt Speichel, schluckt Eimer voll Speichel, es ist widerlich, er spuckt ihn aus, spuckt ihn auf den Boden, wie soll einer Eimer voll Speichel schlucken, die Speichelpfützchen, kleine feuchte Kreise im fleckig grauen Teppich, verblassen, zergehen im Nu. Dunkel und still der Hinterhof, aber schon hängt das fahle Licht der Morgendämmerung in der Luft, kündigt das Surren und Klingen der Wecker an, das Stöhnen und Ächzen der Frühaufsteher, das Schlurfen, Gurgeln, Murmeln und Fluchen, die Toilettenspülungen, das Töpfegeklapper, eine halbe Stunde noch, vielleicht eine ganze, dann ist es so weit. Wer hat hier überhaupt noch Arbeit, wer steht überhaupt noch auf so früh am Morgen, der türkische Gemüsehändler, der zur Markthalle fährt, die zeternde Dicke mit ihren plärrenden Kindern, die dem Sozialamt ihre Putzstellen verschweigt, der von der Straßenreinigung, der eine oder andere Gelegenheitsarbeiter. Und die im Quergebäude natürlich. Die verdienen so gut, dass sie sich eine luxusmodernisierte Wohnung leisten können, anders als die armen Schlucker im Vorderhaus, wo der Standard weit niedriger ist, die Sanierung schon Jahre her, und für den Seitenflügel hat das Geld gleich gar nicht mehr gereicht, die Stadt ist bankrott.

Jetzt wohnt der Pöbel im Seitenflügel, der brave Bürger im Vorderhaus und die Schickeria ganz hinten, mit Blick ins Grüne, weil die Rückseite des Blocks an den Park grenzt, dort wird man von Vogelgezwitscher begrüßt am Morgen, von frischer kühler Luft, vielleicht noch von Ziegengemecker aus dem Tiergehege, nicht vom Straßenlärm wie er, Josch, der Versager, der einmal ein Gewinner ist, der sie alle hinters Licht führen wird, gerade die da hinten, die sich für etwas Besseres halten, weil sie studiert haben, einen guten Job haben, man sieht es an der Kleidung, der Haltung, den Uhrzeiten, zu denen sie den Hinterhof durchqueren, Selbständige, schätzt Josch, Leute aus der Hightechbranche, vielleicht noch eine erfolgreiche Modedesignerin, vielleicht ein aufstrebender Anwalt, Kinder sind keine darunter, aber eine Schwangere, dazu der schwule Kellner aus dem Nobelrestaurant, mit dem er sich ein wenig angefreundet hat obwohl er ihn verabscheut, den schwulen Gecken, der sich für einen Dandy hält, sich etwas einbildet darauf, dass er sie alle kennt im Regierungsviertel, dass er beim Vornamen genannt wird von denen, dass er weiß was vor sich geht in der großen Politik, noch bevor es in den Zeitungen steht, und dass er auch das weiß, was nie darin stehen wird, seine Trinkgelder sind in Wirklichkeit Schweigegelder, wie sonst soll er sich die Luxuswohnung leisten können, den Porsche. Und dann wohnt noch sie da hinten. Sie passt so wenig dazu wie der Kellner, aber es stört niemanden, keiner stört sich hier am anderen. Er richtet den Blick hinauf zum dritten Stock, sie hat das Licht gelöscht, sie schläft jetzt, wird den ganzen Morgen verschlafen, den halben Nachmittag, wenn sie nicht vorzeitig geweckt wird, er zögert, gewiss hat er sie hineingezogen in die Sache, wird es ihm Leid tun, er weiß es nicht.

Er schaut hinüber zu den Mülltonnen, zu dem schwarzen lang gestreckten Klumpen, der dort liegt, langsam schält er sich heraus aus der Finsternis, er spürt den Triumph, die Genugtuung in der Brust, aber die Ratte, sie nagt, wenn er nun doch einen Fehler begangen hat, er muss sich ablenken, sonst verliert er die Nerven, er geht den Weg noch einmal zurück in Gedanken, fängt noch einmal ganz von vorne an. Gleich am Tag seines Einzugs hat er sie entdeckt, am offenen Fenster stand er als sie auftauchte, über den Hinterhof stolzierte auf ihren Highheels, es war wie ein Stromstoß, was für ein Gang, eine Haltung, eine Art sich zu kleiden, die hatte Klasse, Türkin oder Araberin, Augen und Haare schwarz wie Kohle und die Figur einer Göttin. Eine Edelnutte, kein Zwei fel, er hat sich vorgebeugt und gewittert wie ein Tier, gierig nach dem Duft ihrer Olivenhaut, nach dem Moschusgeruch zwischen ihren Beinen.

Aïsha, Aïsha, écoute-moi, Aïsha, Aïsha, t'en vas pas. Von da an war sein Platz am Fenster zum Hinterhof, aus dem er Tag und Nacht hinausstarrte, hin und wieder goss er sich eine Cola ein mit einem Schuss Whisky, das hielt ihn wach, er war kein Trinker. Sie hatte nicht viele Kunden, Stammkunden die meisten, gepflegte ältere Herren, die auf einem dicken Bankkonto saßen und ganz oben auf der Karriereleiter und im schwarzen Daimler mit eigenem Chauffeur. Was verlangten die von ihr, gewiss hatten sie perverse Wünsche, wie weit ging sie, für Geld konnte man alles haben und sie war eine Nutte. Seine Phantasie schlug Kapriolen, während er zu ihrem Fenster hinaufschaute, Speichel schluckend, einmal dieses Weib unter sich haben, einmal ihr Olivenfleisch kneten, einmal das Gesicht hineinstecken in ihren Geruch, aber es war zu spät, er kriegte keinen mehr hoch bei den Frauen und so eine würde sowieso die Beine nicht breit machen vor ihm. Was ihm blieb, war, die Hose zu öffnen und selbst Hand anzulegen, was ihm blieb, war der Platz am Fenster einer Parterrewohnung, immer im Halbdunkel, am Tag erreicht ihn kein Sonnenstrahl, und nachts erhellt die Straßenbeleuchtung die Wohnung.

Wann hat er ihn zum ersten Mal bemerkt, durch den Hof ist er geschlichen, nicht geradewegs darüber wie die anderen Heimlichen, nein, an den Seiten entlang schlich er, in die Schwärze geduckt, sogar das düstere Grau der Hofmitte, dort, wo der lichtgetränkte Nachthimmel der Millionenstadt noch ein schwaches Echo findet, scheute er. Er, Josch, hat ein merkwürdiges Gefühl gehabt bei seinem Erscheinen, an irgendetwas hat sie gerührt, die schwarze Gestalt, doch er hat nicht weiter nachgedacht. Was kümmerte es ihn, wenn einer noch heimlicher als heimlich zur Nutte ging, er schluckte Spucke, er öffnete die Hose.

Erst als die anderen wegblieben, erst als er der Einzige war, der noch zu ihr kam, immer an den Seiten entlang, im Schatten der Mauern, wurde er unruhig, was war los mit ihr, sie war teuer, warum nur noch einer, warum nur noch er. Erst da ist ihm aufgefallen, wie sehr ihn die Gestalt von Anfang an irritiert hat, wie sehr sie an irgendetwas rührte in ihm.

Er hat sich ans Fenster zur Straße gesetzt, er liebt diesen Platz nicht, zu hell ist es da, zu dünn der Abstand zwischen ihm und denen da draußen, er fühlt sich ertappt, wenn einer den Kopf im Vorbeigehen nach ihm dreht, aber der andere ist aus der entgegengesetzten Richtung gekommen, wie immer weit nach Mitternacht, ganz leise hat er das Tor zur Einfahrt geöffnet, war schon im Quergebäude verschwunden, bevor er, Josch, reagiert hatte und ans Fenster zum Hinterhof geeilt war. Dann hat er ihm draußen auf der Straße aufgelauert, in den dunklen Eingang des Nebenhauses gedrückt, drei Nächte musste er warten, der andere kam unregelmäßig.

Das Erkennen durchzuckte ihn wie ein scharfer Schmerz, vielleicht hat er es sogar geahnt, nicht wahrhaben wollen, dass er es war, die Knie sind ihm weich geworden, er ist zurückgewankt an seinen Platz am Fenster zum Hinterhof, er hat heftig gespuckt, gespuckt, um nicht zu weinen, gespuckt, um nicht zu kotzen.

Er hat gewusst, dass der andere nicht weit war, er hat immer gewusst, wo er sich aufhielt, es war nicht schwer gewesen, seinen Weg zu verfolgen.

Schon in der Schule war der andere der Gewinner gewesen und Josch, der Freund, in Wirklichkeit sein Lakai, der ihm die Steigbügel hielt, wenn er hinaufstieg auf sein hohes Ross, der ihm die Stiefel leckte, damit sie noch schöner glänzten, der in seinem Schatten stand und nach der Sonne gierte, die auf den anderen herabschien, und nach den Mädchen, die ihn umschwirrten, der sich klein und hässlich fühlte, weil er bei der Großmutter aufwuchs, die immer dieselbe fleckige Kittelschürze trug, die aufs Taschentuch gespuckt hatte, als er noch ein Kind war, um ihm den Dreck aus dem Gesicht zu wischen, komm her zur Oma, Joschi, kleiner Dreckspatz, sodass auch er das Spucken anfing und sein Leben lang nicht mehr aufhören konnte aus Ekel vor dem Großmuttergeruch in seinem Gesicht, der sich für alle Zeiten dort festgefressen hat und ihm das Wasser in den Mund schießen lässt, wenn er nur ein bisschen unsicher, ein bisschen nervös, ein bisschen wütend wird, sodass sie ihn das Lama nannten, und weil er blass war und aufgedunsen und pickelig und das Gymnasium vorzeitig verlassen musste, weil der Vater starb und die Mutter schwere Alkoholikerin war und weil er es sowieso nicht bis zum Abitur gebracht hätte.

Und nun sitzt er in einer heruntergekommenen Parterrewohnung und giert nach einer Edelnutte, in deren Geruch sich ein anderer vergräbt, und der andere ist der, den er zeitlebens beneidet hat, der immer auf der Sonnenseite stand, der sich jetzt durch die Dunkelheit schleicht, die doch Joshs Revier ist, hinauf zu dem Licht, in dessen Abglanz er sich eingerichtet hat hier unten, und Josh fühlt sich so ohnmächtig in seiner Niederlage, dass er nicht einmal mehr die Hose öffnen und sich seinen Anteil holen kann, und er sitzt da und spürt einen brennenden Klumpen Hass in seiner Brust und weiß plötzlich, er wird ihn töten, und das ist das Größte, was er je gefühlt hat in seinem armseligen Leben.

Von da an zweifelt er keine Sekunde mehr an seinem Vorhaben, dieses eine Mal lässt sie ihn in Ruhe, die fiese Ratte, das konnte kein Zufall sein, das war eine Fügung des Schicksals, dass er ihm noch einmal so nahe kam nach all den Jahren. Nie zuvor hat er daran gedacht, einen anderen zu töten, sich selbst 16 ja, in seinen schwärzesten Zeiten hat er an Selbstmord gedacht, als die Frau ihn verließ, die Kinder nichts mehr von ihm wissen wollten, als er einer der ersten war in seiner Firma, die die Kündigung in der Hand hielten, als sie ihn in der Partei mieden, in der auch er eine Heimat zu finden gehofft hatte, und jetzt die Gewissheit, er wird einen Mord begehen, der in allen Zeitungen stehen wird, er ist wie verwandelt, der dumpfe Hass, der zeitlebens in ihm gärte, er wird zur eiskalten Wut, sein träges Gehirn fängt an zu arbeiten, während er am Fenster sitzt und hinausstarrt in den Hinterhof, der widerhallt vom Keuchen und Rotzen und Grölen und Fluchen seiner Bewohner, vom Töpfegeklapper und von den Toilettenspülungen bis spät in die Nacht, und wenn dann alles ruhig ist, schleicht der andere durch die Dunkelheit hinauf zu ihr, Aïsha, Aïsha, écoute-moi, Aïsha, Aïsha, t'en vas pas, aber das hört er nicht, das hört nur er, Josch.

Und dann kommt ihm die Vorsehung zur Hilfe, auf eine solche Gelegenheit hat er gelauert, während sein rotierendes Gehirn Szenen probte und änderte und verwarf und wieder neue erfand, während es Wahrscheinlichkeiten berechnete und Distanzen abmaß und Sekunden zählte, und plötzlich weiß er, was er zu tun hat, und er handelt ohne zu zögern. Er stockt in seiner Erinnerung, als die Dicke im Morgenlicht aus dem Seitenflügel kommt und hinübergeht zu den Mülltonnen mit ihrem watschelnden Gang, während ihr Jüngstes in der Wohnung oben zu quäken beginnt, und plötzlich bleibt sie stehen, als sei sie von einem Bannstrahl getroffen oder als würde der Film angehalten, noch bevor sie ihren Schritt zu Ende gemacht hat, und dann scheint es eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Mülltüten fallen lässt und schreit. Und von Josch fällt die ganze Anspannung ab, die ihn seit Wochen aufrecht gehalten hat, er greift nach der halb vollen Whiskyflasche auf der Fensterbank und trinkt, er spürt ein Brennen durch seine Kehle rinnen bis hinunter in seinen Magen, und dann spürt er eine Müdigkeit wie nie in seinem Leben. Er taumelt hinüber zu seinem Bett und kann gerade noch denken, eine einzige kleine Unsicherheit gibt es noch, eine winzige Schwachstelle und ich habe es geschafft, nur ein Quäntchen Glück brauche ich noch, dann umfängt ihn Schwärze und er schwebt hinauf zu ihr und hält eine blutrote Rose in der Hand und dann schwebt er immer weiter bis in den Himmel und in seinem Gesicht haftet jetzt der Duft ihrer Olivenhaut und ihr Moschusgeruch und sein Speichel liegt schwer und süß wie Honig in seinem Mund.

BERLINER POLITIKER ERMORDET IN HINTERHOF AUFGEFUNDEN. TÄTER NOCH AM SELBEN MORGEN GEFASST.

Rainer-Maria Pausewang, Direktkandidat der linken Liste in Kreuzberg, wurde gestern am frühen Morgen erstochen in einem Hinterhof am Rande seines Wahlbezirks aufgefunden. Der Politiker, der den Kontakt mit dem Wahlvolk suchte, war wie üblich bis spät in der Nacht im Kiez unterwegs gewesen und hatte Handzettel verteilt. Offenbar wurde er von Joseph A., einem polizeibekannten, jedoch zu den Mitläufern zählenden Arbeitslosen aus der rechtsextremen Szene, in einen Hinterhalt gelockt und mit mehreren Messerstichen getötet. Obwohl Joseph A. in seiner Wohnung mit dem blutbeschmierten Messer in der Hand überrascht wurde, leugnet er die Tat. Er soll bei seiner Festnahme einen verwirrten Eindruck gemacht und unter Alkoholeinfluss gestanden haben.

Ein Mord im Hinterhof und der eigene Nachbar der Mörder, es lässt einen schaudern, sagt der Kellner und schüttelt sich. Man hätte selber zum Opfer werden können. Geheuer sei der Kerl ihm sowieso noch nie gewesen, man habe ihm die Gesinnung ja von weitem angesehen. Ein Glück, dass er so schnell gefasst worden sei. Mit der Tatwaffe in der Hand, als habe er auf seine Verhaftung gewartet. Wer weiß, was so einen treibt, dass er zum Verbrecher wird, sagt der Kellner. Aber um den sei es gewiss nicht schade. Erstaunlich nur, dass er jetzt hartnäckig leugne, wo doch alles offen auf der Hand liege. Es bleibt unter uns, was ich Ihnen jetzt erzähle, sagt er plötzlich mit gedämpfter Stimme und sieht sich um, als fürchte er einen ungebetenen Lauscher. Offiziell sei das nämlich nicht, und er müsse eigentlich Stillschweigen wahren. Aber der Mord habe für gewaltigen Wirbel gesorgt im Regierungsviertel, von nichts anderem sei dort mehr die Rede. Der Kerl behaupte nämlich, er habe das Messer in seinem Flur gefunden und das Blut habe er zuerst nicht gesehen. Er habe es aufgehoben, als er im Halbschlaf zur Wohnungstür gestolpert sei, weil es hartnäckig klingelte. Er wisse nicht, wie es da hingekommen sei. Es sei ihm Tage zuvor gestohlen worden, da habe er im Hinterhof seinen Rausch ausgeschlafen. In aller Herrgottsfrühe sei er aufgewacht und der Wohnungsschlüssel habe auf einer Mülltonne gelegen und das Messer sei weg gewesen. Glauben würde ihm das natürlich keiner, und Zeugen gäbe es nicht. Merkwürdig bei der ganzen Geschichte sei aber, und jetzt würde es interessant, dass in der Mordnacht tatsächlich einer in der Dunkelheit gewartet haben musste; der gespuckt habe wie ein Lama. Die Mülltonnen seien regelrecht zugespuckt gewesen, habe die Spurensicherung ergeben, und die Spucke stamme nicht von der Glatze.

Der Kellner schaut jetzt sehr nachdenklich. Das passt nicht zusammen, sagt er und wiegt den Kopf. Er sagt nicht, dass die da oben sehr zufrieden sind mit dem gefassten Mörder. Dass sie sogar so zufrieden sind mit ihm, dass die Untersuchungen eingestellt wurden. Gerade wegen des geheimnisvollen Spuckers. Weil es nämlich immer besser ist, wenn nicht zu lange im Trüben gefischt wird. Schon gar nicht vor den Wahlen. So manches könnte ans Tageslicht kommen, was besser im Dunkeln bleibt. Zum Beispiel, dass für den einen oder anderen der werten Herren der Tatort keine unbekannte Adresse ist. Dass er bis vor kurzem sogar eine hoch gehandelte Adresse war über die Grenzen der Parteizugehörigkeiten hinweg. Nein, das verrät der Kellner nicht. Stattdessen sagt er, bei ihm seien Geheimnisse sicher aufgehoben, wenn er wolle, und zwar bis zu seinem Tod. Das kommt halb verschwörerisch, halb drohend aus seinem Mund, dieses Bis-zu-seinem-Tod, und er sieht irgendwie verschlagen aus dabei. Und dann sagt er noch, er habe eine anstrengende Arbeit, und er müsse auf seine Gesundheit achten. Schließlich sei er nicht mehr der Jüngste. Da wäre es doch schön, wenn es einen gäbe, der sich ein wenig um ihn kümmere. Nach seiner Wäsche sähe zum Beispiel, und die Wohnung sauber halte, ab und zu ein paar Einkäufe tätige, vielleicht auch mal ein nettes Abendessen bereite, und natürlich die Schuhe putze, das sei überhaupt wichtig in seinem Beruf, immer glänzendes Schuhwerk. Er schaut schon wieder recht freundlich, als er das sagt.

Und Josch schluckt. Schluckt Speichel. Schluckt Eimer voll Speichel.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Fischer Taschenbuch Verlags.

Der Spucker

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