Dunkler Dämon

  • Knaur
  • Erschienen: Januar 2006
  • 23
  • New York: Doubleday, 2005, Titel: 'Dearly devoted Dexter', Seiten: 292, Originalsprache
  • München: Knaur, 2006, Seiten: 378, Übersetzt: Frauke Czwikla
  • Daun: TechniSat Digital, Radioropa Hörbuch, 2007, Seiten: 7, Übersetzt: Alexander Bandilla
Dunkler Dämon
Dunkler Dämon
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Bernd Neumann
89°1001

Krimi-Couch Rezension vonMär 2006

Das Dunkle hinterm Augenlid

 

"Welches Raubtier lässt Fleisch herumliegen, zumal, wenn es noch zuckt?"

 

bzw.:

 

"Eine ordentliche Zerstückelung ist vor allen Dingen sauber: keine Blutlachen und kein festgetrocknetes Fleisch an den Wänden. Das beweist einen Mangel an Klasse." 

 

Vorweg: Harter Tobak, ein sehr, sehr befremdlicher Psychothriller, dessen Magnetismus man sich aber nur schwerlich entziehen kann! Die Mischung macht´s: Es gibt kaum einen vergleichbaren Autor zu Jeff Lindsay, der die Gratwanderung zwischen äußerster Brutalität und sarkastischem Humor so ausgereift beherrscht und mit großem Gespür für das richtige Mass an der passenden Stelle scheinbar traumsicher wechseln kann. Und dieser Balanceakt schwebt absturzsicher auf überdurchschnittlich hohem sprachlichem Niveau. Glückwunsch, Mr. Lindsay!

Schon sein Thriller Des Todes dunkler Bruder war ein zu Recht hochgelobtes Erstlingswerk und stand in diesem Forum deshalb in der Auswahlliste zum "Krimiblitz 2005". Es ist kein Zufall, dass in den USA "Des Todes dunkler Bruder" als bestes Debüt des Jahres 2004 ausgezeichnet wurde. Und noch ein Hinweis: Für den "alten Hasen" und Krimi-Couch-Rezensenten Wolfgang Weninger ist es von seinen bislang 150 hier bewerteten Krimis noch immer das mit der höchsten Gradzahl:

 

"Für alle, die gerne ein Mal einen Krimi lesen, der aus dem üblichen Rahmen fällt, kann 'Des Todes dunkler Bruder' als Lektüre wärmstens ans Herz gelegt werden"

 

, resümierte Weninger 2004.

Dexter Morgan und sein Dunkler Passagier sind wieder da!

Das es möglich ist, Dexter Morgan mit seiner gespaltenen Persönlichkeit kriminalistisch am Leben zu erhalten, erschien schreibtechnisch schwer machbar. Aber wie es der Zufall will: Pünktlich zum 150. Geburtstag von Siegmund Freud sind sie in trauter Einigkeit wieder da: Dexter Morgan, das ICH, der Spezialist für Blutanalysen bei der Polizei von Miami und sein ES, der dunkle Bruder, der immer wieder erwartungsvoll mit seiner trockenen Echsenzunge schnalzt und ihn in mörderische Vollmondaktivitäten treibt.

Der ganze Stolz der beiden ist die Trophäensammlung: ein kleiner Kasten voller Objektträger mit jeweils einem Tropfen Blut, welche die erregende Erinnerung an jedes einzelne Abenteuer wach halten. Die stattliche Anzahl von neununddreißig, zwei weitere sollen die Tropfensammlung zügig ergänzen. Dexters Lieblingsgeräusch ist das "Reißen von Paketband, das Lieblingspräludium zu einem Konzert für Klinge und Schneide." Dexter Morgan ist immer noch der nach Aussen hin saubere, schwarzhumorige, aber ungesellige gute Amerikaner.

Aber er fühlt sich berufen zum Robin Hood für Wahrheit und Gerechtigkeit mit der antrainierten Fähigkeit, sich in Geduld zu üben und keine Gefühle zu haben. Und im passenden Moment gerecht zu rächen.

Und auch das menschliche Umfeld des Erstlings hat Fortbestand

Erinnert wird an Harry, seinen Adoptivvater, der ihn dazu formte, ausschließlich Mörder zu morden. Garstige Mörder, die ohne jeden Kodex töteten und die es verdient haben, endgültig und grausam abgestraft zu werden. Immer pünktlich, nett zu den Kollegen und in jeder Hinsicht unauffällig sein, das hatte ihm Harry eingebläut.

Stiefschwester Deborah, ehemals bei der Sitte als Ködernutte in Hotpants und Schlauchtops zur Bekämpfung gegen illegale Prostitution eingesetzt, hat es nun doch endlich zum Sergeant innerhalb der Mordkommission gebracht und ist Kollegin von Sergeant Doakes.

Aber Doakes spürt immer mehr, dass mit Dexter irgendetwas nicht stimmt, und er startet eine unentwegte Observation mit seinem braunen Taurus.
Um der Beschattung zu entgehen, flüchtet Dexter in die unfreiwillige Leibeigenschaft auf das Sofa von Rita, einer langjährigen Freundin, der er in harten Zeiten seelischen Beistand gegeben hat.

Trautes Glück, trautes Heim, tagaus, tagein...

Rita ist das Produkt der katastrophalen Ehe mit einem Mann, dessen Vorstellung von Vergnügen darin bestand, Crack zu rauchen und sie zu prügeln. Aus der Ehe stammen der einsilbige und eine befremdliche Vorliebe habende Sohn Cody und seine ältere Schwester Astor:

 

"Die Zwänge ihrer mit einem gewalttätigen Oger als Vater verbrachten frühen Kindheit hatten zwischen ihnen eine symbiotische Beziehung geschaffen, die so eng war, dass sie aufstieß, wenn er Soda trank."

 

Ein absolutes Glanzstück des Kriminalslapsticks ist eine Episode, als das zufällige Auftauchen einer diamantenen Klunker von Rita plötzlich als Verlobungsantrag gedeutet wird! Aber Dexter will die unbedingte Vermeidung dieser lebenslangen Seligkeit, die sich von hinten an ihn angeschlichen hatte und seinen Hals fest umklammerte. Er hat Panikvorstellungen,

 

"zu dem Ding zu werden, der mit den Kindern zum Fußball ging, Blumen mitbrachte, wenn er zuviel Bier getrunken hatte, Waschmittel und Sonderangebote verglich, statt die Verkommenen von ihrem überflüssigen Fleisch zu befreien."

 

Denn das ist seine Berufung, bei der ihm Sergeant Doakes durch sein misstrauisches und ununterbrochenes Beschatten schon genug Probleme bereitet und den Fortgang der natürlichen Dinge erheblich verzögert.

Die Vergangenheit fordert ihre Opfer

Da wird Miami von einer bisher nicht gekannten brutalen Gewaltserie eines gefährlichen Psychopathen mit offensichtlicher chirurgischer Fachkenntnis heimgesucht.
Der Fall wird muss unter strengster Geheimhaltung dem FBI übertragen werden. Die Spur führt nach El Salvador und hat mit den ehemaligen Machenschaften der US-Army dort zu tun. Und das Verrückte: Widersacher Sergeant Albert Doakes steckt bis über beide Ohren mittendrin...

Sicher, wie der skrupellose Dr. Danco medizinisch vorgeht, ist so neu nun wieder nicht ("Der Blinde von Sevilla", "Die Chirurgin" und "Cupido" lassen grüßen!), aber es ist die brutale Ausdrucksweise der Lindsay'schen Akteure, die so tief erschüttert und auf dem Drahtseil des unerträglich Vorstellbaren balanciert:

 

"Was er will, ist, seine Opfer vollkommen zu zerstören. Sie innerlich und äußerlich zu vernichten, ohne Möglichkeit der Wiederherstellung. Er will sie in tönende Sitzsäcke verwandeln, die niemals mehr etwas anderes empfinden werden als absolutes, endloses, wahnsinniges Grauen."

"Das Blut der Opfer ist deshalb der reinste Cocktail mit der Absicht, die Opfer wach zu halten und zugleich ihren Schmerz auszuschalten...". "Es ist die Injektion von psychotropen Drogen, um sein Gefühl hilflosen Schreckens zu verstärken."

 

Widerlich auch, wenn der völlig gefühlslose Dexter von "Dem Ding Auf Dem Tisch" spricht, das "jemand in eine jodelnde Kartoffel verwandelt hatte...", oder vom "menschlichen Türstopper...". Mit solchen Zitaten, die abscheulich, aber ganz offensichtlich Mittel zum Zweck sind, gelingt Jeff Lindsay eine an Intensität kaum mehr zu übertreffende Darstellung des Dunklen Dämons, der zur eigentlichen Lebensantriebskraft von Dexter Morgan mutiert ist. 

Das beunruhigende, schauerlich-faszinierende an diesem Psychothriller sind die so häufigen Stimmungswechsel: unmenschliches, kaum nachvollziehbares und völlig emotionsloses, selbst den Leser schmerzendes Gemetzel wechselt mit Passagen, wo das laute Lachen unvermeidlich ist:

 

"Dann setzte der Wagen hart auf, und der Beifahrerairbag explodierte in mein Gesicht. Ich fühlte mich wie nach einer Kissenschlacht mit Mike Tyson."

 

Aber dann, in kürzester Zeit und unverhofft wird der Leser auf dieses schnellen Achterbahn der Gefühle wieder so richtig runtergezogen und ständig durchgerüttelt.
Der Roman ist in der ICH-Form geschrieben, so dass die Chance zum distanzierten, unbeteiligten Lesen gering gehalten wird: Man steckt in den Schuhen des kühlen "Gerechtigkeitskillers" Dexter Morgan und seinem dominanten ES.

Das in diesem Buch mehrere Handlungsstränge parallel und zugleich fusionierend zu einem stimmigen Ganzen verwoben werden, ist eine Glanzleistung auf hohem sprachlichen Niveau und macht "Dunkler Dämon" zu einer unbedingten Empfehlung für Alle, die sich trauen.
Die Personenanzahl ist übersichtlich, so dass nach (hier eher lästigen!!) Lesezwangspausen der Wiedereinstieg erfreulich problemlos ist. Selbst das Vorablesen des Lindsay-Vorgängers ("Des Todes dunkler Bruder") ist für das Gesamtverständnis nicht erforderlich, aber aufgrund von dessen Qualität (s. W. Weninger) ein unbedingter Krimitipp!

Allein das Superkapitel 23 ist des Lesens wert und ein belletristisches Highlight für die Beschreibung einer inszenierten Verlobungsparty:

 

"Was ich von der Party sehen konnte, wirkte wie ein Arrangement von Hieronymus Bosch", "...einer Bande tanzender Derwische...", wo "... die Menge heulte als wäre Vollmond bei einer Tollwutversammlung."

 

Dagegen verhalten sich die polizeilichen "Chorknaben" von J.Wambaugh wie eine gesittete Pfadfindergruppe beim heimeligen Lagerfeuer mit Gitarrenklang und Stockteig.

Das Buch wimmelt vor ausgezeichneten bildhaften Vergleichen (garantiert auch Resultat einer großartigen Übersetzung durch Frauke Czwikla!) sowie von plastischen Schilderungen, die teilweise haarscharf an der moralischen Eigenzensur entlangschrammen und psychische Kollisionen hervorrufen.

Moralisch halbwegs unbeschadet kommt man aus diesem ständigen Wechsel von Abscheu und ansatzweisem Selbstjustizverständnis zur krankhaft gespaltenen Persönlichkeit des Sauberkeitsfanatikers Dexter Morgan nur davon, wenn man sich einredet, dass es sich "nur" um die Phantasiewelt eines belletristischen Fegefeuers handelt und mit der Wahrheit nichts am Hut hat. Jedoch: El Salvador gab und gibt es, und Amnesty International hat alle Hände voll zu tun.

Auch wenn dieses Buch nicht diesen absoluten Thrill der letzten Seite hat, erfahren wir eines mit ziemlicher Gewissheit: die mittlerweile auf zweiundvierzig angewachsene Trophäensammlung des Dexter Morgan wird weiter ergänzt werden — und er spekuliert langfristig auf tatkräftige Unterstützung...

Und Dexter Morgan hat ein Ziel:

 

"Ich wollte, dass er zu jemandem heranwuchs, der so war wie ich — vor allen Dingen deshalb, weil ich ihn formen und seine winzigen Füße auf den Harry-Pfad lenken wollte."

 

Dunkler Dämon

Jeff Lindsay, Knaur

Dunkler Dämon

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