Die Anstalt

  • Knaur
  • Erschienen: Januar 2006
  • 116
  • München: Knaur, 2006, Seiten: 748, Übersetzt: Anke Kreutzer
  • New York: Ballantine Books, 2004, Titel: 'The madman's tale', Seiten: 438, Originalsprache
  • Berlin: Argon, 2007, Seiten: 6, Übersetzt: Simon Jäger; Thomas Danneberg
  • München: Knaur, 2009, Seiten: 748
Die Anstalt
Die Anstalt
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Bernd Neumann
77°1001

Krimi-Couch Rezension vonMär 2006

Und immer schön die Nerven behalten!

Eine Anstalt für Geisteskranke ist ebenso wie ein Gefängnis (eindrucksvoll nachlesbar z.B. bei Die Gefangenen von Green River von Tim Willocks) ein befremdender Mikrokosmos, eine graue Welt befremdender Anonymität. Hier werden Menschen weggeschlossen, damit das Alltagssystem der Menschheit in normalen 08/15-Bahnen unberuhigt und halbwegs sicher weitertrotten kann.

Wer Die Anstalt von John Katzenbach liest, erinnert sich natürlich an Ken Keseys Roman Einer flog übers Kuckucksnest und die großartige Verfilmung unter Regie von Milos Forman. Dieses 1975 gedrehte Filmdrama wurde fünfach Oscar-prämiert und zählt immer noch zu den 100 bedeutendsten Filmen aller Zeiten. Wie Jack Nicholson als unbequemer und aufmöpfiger Korea-Kämpfer a.D. unter der Fuchtel einer despotischen Oberschwester (Louise Fletcher) und der solidarisierten Schar brutaler Wärter pharmazeutisch gebrochen wird, vergisst man einmal gesehen wahrscheinlich nie mehr. Es bleibt der mulmige Verdacht, dass es wesentlich leichter ist, in die Klappse zu kommen als jemals wieder heraus.

Der schnelle Weg in die Klappsmühle oder "Silence is golden"

 

"Francis Xavier Petrel traf weinend im rückwärtigen Teil eines Krankenwagens im Westerm State Hospital ein. Es regnete stark, die Dunkelheit brach schnell herein, und seine Arme und Beine steckten in Fußfesseln und in einer Zwangsjacke. Er war einundzwanzig Jahre alt und hatte so große Angst wie in seinem ganzen kurzen und bis dahin ereignislosen Leben noch nicht..."

 

Trotz "der verschiedenen Nebelschleier des Wahnsinns", aber "im Grenzbereich zur Welt der Normalen" tickt Petrel halbwegs richtig, nur er hört in seinem Kopf ständig Stimmen. Und die machen ihm mit ihrem lauten, tyrannisierenden Gesabber und Gezeter häufig das Leben zur Hölle. Als er dann eines Tages im elterlichen Haushalt mit einem Küchenmesser bedrohliches Gehabe an den Tag legt, ist das Maß für die zwei Schwestern voll: Er wird eingeliefert und verschlossen ins Amherst, eine Anstalt für Geisteskranke in Boston, USA.

Der Petrel ist ein Seevogel, und so wird in Amherst aus Francis Xavier Petrel letztendlich "C-Bird", denn jeder Insasse wird hier namenlos. Neben der anonymen Masse der hoffnungslos katatonischen und retardierten Patienten zeichnet Kettenbach in seinem Thriller mit Feingefühl noch andere skurrile Irre, die einem im Laufe der Handlung gehörig ans Herz wachsen:Liebenswerter Häuptling und bei vollem Verstand (vgl. J. Nicholson) ist "Peter the Fireman", eine ehemaliger Vietnam-Kämpfer, der sich im zivilen Leben zum Brandermittler profiliert und dann selbst zum Täter wird."Nappy Napoleon" und "Cleo" Cleopatra sind Herrscher, "Newsman" das wandelnde Zeitungslexikon vergangener Zeiten.

Wichtig für den Handlungsverlauf und zu einer der Schlüsselfiguren der letzten 60 Seiten wird ebenso ein No-Name-Tetardierter in ständiger Begleitung seiner Raggedy-Andy-Puppe, der über enorme Körperkraft (Kuckucksnest lässt grüßen!) und einen unterbewussten Gerechtigkeitssinn verfügt.

Und nicht zu vergessen natürlich "Lanky", der Lange, dessen Bemühungen darin bestehen, "das Böse draußen zu halten". Das Amherst ist ein halbwegs sicherer Kokon gegenüber der verderbten und gefürchteten Außenwelt jenseits der Anstaltsmauern. Vorerst.

Leitprinzip: "Sich einfügen und an die Regeln halten"

Natürlich: Das Amherst platzt aus allen Nähten, zu wenig Platz für zu viele Patienten. In den überfüllten Räumen ist die menschliche Würde ebenso abhanden gekommen wie jegliche Privatsphäre. Das ist ein gärender Nährboden für ständige Spannungen und ununterbrochenen Angstlärm, letzteren auch des Nachts.

Dagegen allerdings hat die Anstaltsleitung um den Klinikpsychologen Mr. Evans und Direktor Dr. Gulptilil (unter den Insassen "Gulp-a-pill" genannt) probate Mittel und Methoden: zermürbende Gesprächstherapien, chemische Ruhe durch betäubende Medikamente und im verschärften Fall die Isolierzelle mit Zwangsjacke als Zugabe.

Jegliche Auffälligkeiten sofort bekämpfen, eventuelle Skandale im Keim ersticken oder vertuschen sind Handlungsmaximen des Personals. Besondere Vorkommnisse im Focus der Öffentlichkeit und parlamentarischer Untersuchungsausschüsse könnten schließlich die Karriere und Verbeamtung kosten!

Und dann kracht plötzlich alles aus den Fugen:

Völlig unmotiviert wird "Short Blond", der stets hilfsbereite, sympathische Anlernschwester kurzhaarige Blondine, bestialisch ermordet. Durch offensichtliche Blutspuren wird der manchmal aggressive Lanky, der große und ewige Prophet von der gefährlichen Bedrohung außerhalb der Anstaltsmauern in diesem Käfig voller Narren durch die Anstaltsleitung kurzerhand einmütig als mutmaßlicher Täter abgestempelt und zügig ins Gefängnis umgelagert. Dass er seine Unschuld beteuert und ständig von der Begegnung mit dem "weißen Engel" faselt, hilft ihm damit nicht weiter.
Ein Schuldiger ist gefunden, die Strukturen müssen ohne großen Wirbel nach Außen wieder hergestellt werden.

Jedoch Fälle der letzten Jahre lassen vermuten, dass sich ein Serienmörder eingeschlichen hat, um in der geschlossenen Anstalt von Amherst seine Untaten fortzusetzen. Richterin Lucy Kyoto Jones ist aus nachvollziehbaren Gründen persönlich interessiert, den spektakulären Mord im Western State Hospital aufzuklären. Sie ahnt die Gefahr ihrer Mission, die Katzenbach atmosphärisch ins rechte Licht zu setzen weiß:

 

"Das Lernschwesternheim war eines der entlegeneren Gebäude auf dem Klinikgelände, das sich nicht weit vom Kraftwerk mit seinem ständigen Brummen und der ständigen Rauchwolke über dem Dach isoliert in eine verschattete Ecke des Friedhofs duckte."

 

Existiert der "weiße Engel" tatsächlich oder ist er nur das Hirngespinst eines nicht ernst zu nehmenden Irren? Im Verlauf der turbulenten Handlung sitzt Richterin Jones zunehmend nicht nur die Zeit sondern die Angst im Nacken...

Zweifelsohne ein Lesemarathon, weniger wäre (noch) mehr gewesen. Einen Krimi über 750 Seiten ständig auf Volldampf zu halten, ist schier unmöglich! Aber wer spannende Unterhaltung mag und vor sehr bewegend und sprachlich eindrucksvoll geschilderten Verhältnissen in einer "Irrenanstalt" nicht zurückschreckt, sollte Die Anstalt lesen. Quasi als ausführliche Ergänzung zu Derek Raymonds Kapitel 7 in Der Teufel hat Heimaturlaub ...

Die Anstalt

John Katzenbach, Knaur

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