Evil

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2006
  • 104
  • New York: Leisure Books, 1989, Titel: 'The Girl Next Door', Seiten: 370, Originalsprache
  • München: Heyne, 2006, Seiten: 335, Übersetzt: Friedrich Mader
  • München: Heyne, 2008, Seiten: 335
Evil
Evil
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Michael Drewniok
95°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2006

Das wahrhaft Böse brütet im Nachbarhaus

Im Jahre 1958 ist die kleine Welt der US-amerikanischen Mittelschicht noch in Ordnung. Man fürchtet nur die gottlosen Roten drüben in Russland und lässt die Haustür ständig offen, denn den Nachbarn kann man vertrauen und ein guter Bürger und Kirchgänger hat selbst nichts zu verbergen. Kinder sind rechtlose Wesen und haben nicht nur den Eltern, sondern allen Erwachsenen zu gehorchen. Wenn sie sich einfügen, haben sie in dem kleinen Städtchen, in dem diese Geschichte spielt, ein angenehmes Leben, denn es gibt viele Freunde und natürliche Abenteuerspielplätze an der frischen Luft. In diesem Sommer wird es sogar noch interessanter, denn der zwölfjährige David erfährt, dass ins Nachbarhaus zwei neue Bewohnerinnen eingezogen sind.

Die Schwestern Meghan und Susan Loughlin haben bei einem Autounfall ihre Eltern verloren. Sie ziehen zu Ruth Chandler, ihrer Tante, die selbst drei Kinder versorgen muss - eine schwere Aufgabe, nachdem sie ihr Mann verlassen hat. Ruth ist verbittert und grämt sich ob ihrer vergeudeten Jugend. Die Kinder der Straße schätzen sie jedoch, denn sie hat immer ein offenes Ohr für ihre Sorgen.

Doch Ruth ist eine psychisch kranke Frau, die an ihrem frustrierten Zorn auf die ganze Welt schier erstickt. In ihren Nichten, vor allem in der hübschen, selbstbewussten Meg, findet sie ihr Ventil. Erst langsam, dann immer hemmungsloser beginnt sie diese zu piesacken, zu quälen, zu misshandeln. Ein verhängnisvolles "Spiel” hat seinen Anfang genommen, das bald auch die Kinder der Umgebung in seinen Bann zu ziehen beginnt. Meg wird zum Prellbock für die Nachbarschaft und muss für immer neue, krasser werdende Folterungen herhalten.

Die Erwachsenen bleiben ahnungslos, während Ruth ihr irres Schreckensregiment ausübt. Auch David kann sich dem nicht entziehen. Der krankhafte Zwang mitzutun oder wenigstens tatenlos zuzuschauen ist stärker. Für Meg ist ihr Alltag längst die Hölle auf Erden. Schläge, Demütigungen, Vergewaltigung - bald beginnt auch David zu ahnen, wie dies alles enden wird. Endlich versucht er einzugreifen, doch er befindet sich längst unter Wilden, die sich ihr "Spiel” keinesfalls verderben lassen wollen ...

Vom späten deutschen Starts eines bösen Klassikers

Unterhaltungsliteratur hilft ihren Lesern sich die Zeit zu vertreiben und kann anschließend vergessen werden, "richtige” Literatur (auch Belletristik genannt) greift ernsthaft die echten Probleme des Menschseins auf und bringt die Leserschaft zum Nachdenken: Stephen King, der für "Evil” ein langes, kluges und engagiertes Vorwort verfasst hat, weist auf die Sinnlosigkeit dieser willkürlichen Unterscheidung hin. Er verdammt den Spagat zwischen den beiden literarischen Welten, die in Wirklichkeit nur eine sind, und weist darauf hin, dass die Stimme der Vernunft oder der Kritik auch in einfachen Worten erklingen kann, welche zudem eine unterhaltsame Geschichte formen.

King gibt sein Bestes, denn er hat in "Evil” ein Werk erkannt, dass es einfach nicht verdient im Ghetto der Ex-und-Hopp-Literatur begraben zu werden. Zwar liegt es wohl an seinem wohlklingenden Namen, doch vielleicht sind es auch eigene Argumente, die "Evil” ein Nachleben jetzt auch in Deutschland sicherten: Mit 16-jähriger (!) Verspätung erscheint endlich ein Roman, der Maßstäbe setzt.

"Hardcore” heißt die neue Reihe des Heyne-Verlags; der Name scheint eigens für dieses Buch ausgesucht worden zu sein. Denn dies ist keine Geschichte für die Zartbesaiteten: Über 300 Seiten müssen wir den moralischen Zerfall einer Menschengruppe verfolgen, während wie nebenbei ein junges Mädchen zu Tode gefoltert wird. Letzteres geschieht nicht zwischen den Zeilen; in der Unterhaltungsliteratur muss sich ein Autor solche Fesseln nicht anlegen lassen. Ketchum lässt seinen Lesern keine Hintertür offen und beschreibt explizit was geschieht.

Dafür werden ihn jene, die dem Bösen im Menschen lieber literarisch verbrämt und mit einigem Abstand begegnen, zweifellos einen Gewaltpornografen nennen; diesen Vorwurf hat Ketchum in seiner Karriere in vielen Variationen immer wieder gehört. Doch wer genau liest wird umgehend erkennen, dass "Evil” für Voyeure nichts zu bieten hat: Was hier geschieht und in eine einfache, klare Sprache gefasst wird, ist einfach nur fürchterlich und soll so - und nur so - wirken.

Eine Reise ins Herz der menschlichen Finsternis

Ketchum plante durchaus Großes mit seinem Werk. Er versucht nichts Geringeres als eine Erklärung für ein logisch nicht nachvollziehbares Verhalten zu finden: Wie kommt es, dass ganz normale Menschen zu Tätern, zu Mitläufern, zu tatenlosen Zuschauern degenerieren, während andere, ebenfalls normale Menschen zu Opfern degradiert werden? Welche Mechanismen kommen dabei in Gang? Wie lassen sich innere Schranken in Gestalt ethischer Grundsätze so nachhaltig aushebeln, dass alltägliche Zeitgenossen im Denken und Handeln zu Bestien werden?

Solche Fragen sind selbstverständlich nicht neu. Gerade in diesem unseren Lande werden sie in den mehr als sechs Jahrzehnten nach dem Ende des Naziterrors nachhaltig und zu Recht diskutiert. Darüber hinaus werden sie jedes Mal dann gestellt, wenn wieder ein Kind bis zum Tod und womöglich von der eigenen Familie misshandelt wurde. "Wie konnte das bloß geschehen?”, wird dann in den Medien wieder in allen Tonlagen geklagt, während kluge Köpfe darüber zerbrochen werden, ob dem Fernsehen oder den Computerspielen die Hauptschuld zuzuweisen ist.

In "Evil” übernimmt es Jack Ketchum zu antworten. Man hat es ihm nicht gedankt, denn die Schlüsse, die er zieht, sind unbequem. Einfache Erklärungen, aus denen sich Lösungen destillieren ließen, verweigert er. Er nimmt uns einfach mit auf die dunkle Seite der Menschenseele. Ob wir verstehen, was wir dort beobachten, bleibt uns überlassen - schließlich kann uns auch David, der die Geschichte erzählt, nie wirklich begreiflich machen, was wirklich und wieso im Haus der Chandlers geschehen ist.

Eine Interpretation: Das Grauen benötigt einen Meister und gewisse Regeln. Ruth übernimmt diese Rolle und ihre Aufgabe, die auf einen einfachen Nenner gebracht folgendermaßen lautet: Nimm dem Opfer seine Persönlichkeit, bis es als Mensch nicht mehr präsent ist. Um ein "Ding” zu quälen , muss man keine hohe Hemmschwelle überschreiten. Regel 2: Zieh die Schraube langsam an. Gewalt muss fast unmerklich gesteigert werden. Erst wenn ein Gräuel für den Folterknecht quasi zur Selbstverständlich geworden ist, darf sein Meister die "nächste Stufe” anordnen. Stück für Stück, womöglich ohne es selbst zu bemerken, wird der Knecht in seine Rolle gleiten.

Regel 3: Enthebe das Individuum seiner Verantwortung, indem du es in der gesichtslosen Masse verschwinden lässt. Ruth foltert, vor allem jedoch lässt sie foltern und sorgt dafür, dass jede/r an die Reihe kommt: In der Gruppe verwandelt sich der Mensch leicht in einen Mob, ein Kollektivwesen, das zu beachtlichen Grausamkeiten in der Lage ist, weil seine "Zellen” nicht wirklich erkennen, wohin sein Gesamthandeln steuert.

Was schließlich bleibt sind das Opfer auf der einen und der oder die Täter auf der anderen Seite, systematisch seiner anerzogenen oder gesetzlich verordneten Menschlichkeit beraubt und fasziniert von der Möglichkeit, pure Macht jenseits aller Grenzen über einen anderen Menschen auszuüben.

Hat Ketchum das Regelwerk des "banalen Bösen” in allen Details begriffen? Natürlich nicht, denn wieso sollte ihm gelingen, woran schon weisere Zeitgenossen scheiterten? "Evil” ist zudem ein Roman, der seinen Verfasser ernähren und deshalb Leser = Käufer finden soll. Dennoch hat Ketchum seinen Beitrag zur Diskussion eines grundsätzlichen Themas geleistet. Was ihm dabei hoch anzurechnen ist, wird andererseits erneut kritisiert: "Evil” ist Botschaft als spannende Lektüre. Fern jeglicher Didaktik greift sich Ketchum sein Publikum. Stephen King ist in mehrfacher Hinsicht eine gute Wahl als Verfasser des Vorworts. "Evil” beginnt wie ein typisches "Coming of Age"-King-Werk über den Verlust der "unschuldigen” Jugend im Angesicht der brutalen Realität. King selbst spricht dies in seiner meisterlichen Novelle "Die Leiche” an. Weitere Ähnlichkeiten gibt es im beherzten Aufgreifen schwieriger Themen. Immer wieder gelingen auch King qualvoll realistische Szenen einer Unmenschlichkeit, die keinerlei übernatürliche Verstärkung bedarf. "Der Mensch ist des Menschen Wolf”, heißt ein uraltes Sprichwort völlig zu Recht. "Evil” ist - es sei noch einmal hervorgehoben - kein "phantastischer” Roman im Sinne des Genres, d. h. hier treten keine Zombies, Vampire oder ähnliche Halloweengestalten auf. Das Grauen wird von Menschenhand angerührt. Die Wirkung ist durchschlagend.

Das Personal einer schrecklich banalen Tragödie

Dazu trägt die präzise Figurenzeichnung ihren Teil bei. Ketchum hat seine Protagonisten überaus sorgfältig charakterisiert. Sie stehen stellvertretend für das bereits skizzierte Dreieck der alltäglichen Gewalt, das aus Opfer - Täter - Mitläufer/Zuschauer besteht. (Die tatsächlichen Ahnungslosen lassen wir wie Ketchum hierbei außen vor, obwohl der Autor auch hier böse Seitenhiebe verteilt: Beispielsweise bemerken Davids Eltern vor allem deshalb nichts von dem, was im Nachbarhaus vor sich geht, weil sie in ihrer eigenen Ehehölle gefangen sind.)

Ketchums hauptsächliches Augenmerk gilt den Kindern. Sie sind im US-Amerika der 1950er Jahre aber auch generell "unfertige” Menschen, denen keine besondere Seelentiefe und vor allem keine seelischen Abgründe zugebilligt werden. Wie gänzlich falsch das ist, verdeutlicht Ketchum u. a. am Beispiel der drei Chandler-Söhne Donny, Willie und "Woofer”. "The New York Times” vermerkte in einer Rezension von "Evil” die inhaltliche Verwandtschaft zu William Goldings Klassiker "Herr der Fliegen”: In Abwesenheit der Zivilisation fällt der (junge) Mensch in die Barbarei zurück. Ketchum weist auf eine Variante dieser Entwicklung hin: Umgekehrt können Kinder i. S. von "formbaren” Menschen zur Barbarei erzogen werden. Donny, Willie und Woofer werden von ihrer Mutter zu Folterknechten ausgebildet. Wie sollten sie sich dagegen auflehnen?

Die Ambivalenz von Gut und Böse wird von Ketchum konsequent durchgehalten. Ruth Chandler steht zwar nicht im Mittelpunkt des Geschehens - diese Rolle übernimmt David, der tragische Anti-Held - aber sie bildet in gewisser Weise das Zentrum des Übels. Sie "verrät” ihre klassisch idealisierte Mutterrolle auf das Gröbste, indem sie ihre eigenen Kinder zur Brut des Bösen verkommen lässt und diese Degeneration sogar aktiv unterstützt. Andererseits ist Ruth eine kranke Frau. Zusätzlich haben sie die Enttäuschung über ein Leben, das gänzlich anders verlaufen ist als erträumt und geprägt wird von Einsamkeit und Geldsorgen, in ihrem Wahn bestärkt. (Dieser Wahn, der von Ketchum hervorgehoben wird, gibt übrigens Anlass zur einzigen echten Kritik an "Evil”: Das "banale Böse” benötigt keinen Irrsinn als Treibstoff.) Irgendwie versteht der Leser Ruth sogar - und verfängt sich prompt in einer von Ketchum geschickt aufgestellten Falle.

Denn Ketchums eigentliches Anliegen zielt außerdem in eine ganz andere Richtung: Die Wahl des David als Hauptperson verwandelt den Leser in einen Komplizen. David ist eine interessante Figur: Er foltert nicht mit aber er greift auch (zu) lange nicht ein. Statt dessen erhält er eine unvergessliche Lektion: Der Mensch ist frei in seiner Entscheidung Gutes wie Böses zu tun. David ist anders als Ruths Kinder nicht gezwungen an der Folterung Megs teilzunehmen. Mehrfach lässt ihn Ketchum betonen, dass er im Chandler-Haus ein- und ausgehen kann, von Megs Martyrium weiß - und sich davon angezogen fühlt.

Die furchtbare Wahrheit ist: David wurde ein Weg gewiesen unterdrückten Gefühlen, die kanalisiert und "zivilisiert” werden müssten, freien Lauf zu lassen. Er gibt dem nicht völlig nach, d. h. er legt nicht selbst Hand an Meg. Freilich entschuldigt ihn das in keiner Weise und das weiß er auch: David hätte eingreifen können und hat es nicht. Weniger die Tatsache, dass ihm womöglich niemand geglaubt hätte, sondern die Faszination am Leiden Megs war dabei der Beweggrund. David ist ein Mitläufer. Auch wenn er schließlich Megs Partei ergreift, hat er versagt. Die Erinnerung daran wird ihn, den Mitläufer, ein Leben lang verfolgen, wird sein Leben prägen und ihn zu einem freudlosen, von Erinnerungen verfolgten Dasein als beziehungsgestörten Mann verurteilen.

Denn die Ereignisse des Sommers 1958 werden niemals wirklich verarbeitet. Dem Gesetz geschieht zwar Genüge. Donny, Willie und Woofer landen im Waisenhaus, Ruth stirbt, Susan wird befreit, David psychotherapiert. Doch die seelischen Wunden aller Überlebenden sind zu tief. Woofer wird im späteren Leben ein sadistischer Frauenmörder, David ein unglücklicher Mensch, der niemals Ruhe finden wird - Kapitel 1 des ersten Teils beginnt nicht umsonst mit der Frage "Ihr glaubt, ihr wisst, was Schmerz ist?”. David weiß es und er bzw. Ketchum zeigen brillant die zerstörte Seele des David mehr als dreißig Jahre nach dem Geschehen, das er auf den folgenden 300 erzählen wird.

Man möchte es nicht glauben, doch Meg Laughlin ist in diesem Pandämonium nur eine Randfigur, obwohl sie als Folteropfer das allgegenwärtige "Motiv" der Handlung bildet. Ketchum gelingt das finstere Kunststück Meg auch für uns, die Leser, zu einer Unperson zu machen. In einem Hollywoodfilm würde sie irgendwann den Spieß herumdrehen und ihre Peiniger zur Strecke bringen. Dass dies nicht geschieht, machen wir ihr zum Vorwurf. Dabei interessiert nicht, dass Meg hilflos ist und gegen die Übermacht ihrer Gegner nicht ankommt. Ihre tapferen Versuche einer Gegenwehr nehmen wir nicht zur Kenntnis, denn auch wir nehmen Meg als "Opfer” an. Dass Ketchum uns in diese Lage manövriert, das nehmen wir ihm übel!

Fazit: Wer lesend durchhält, erfährt Außerordentliches

Viele Emotionen für einen kleinen, schmutzigen Psychothriller ... "Evil” ist wohl doch mehr als das, vielleicht ein Meisterwerk, auf jeden Fall ein rohes Stück Literatur, das an seelischen Fundamenten rührt, die man normalerweise lieber unbeobachtet lässt. Ob absichtlich oder nicht: Für seine "Hardcore”-Reihe hat der Heyne-Verlag als zweiten Band ein echtes Juwel ausgewählt. (Schade nur, dass ein denglischer Nulltitel wie "Evil” gewählt wurde. "Das Mädchen von nebenan”, so der übersetzte Originaltitel, wird dem Werk wesentlich gerechter.) Es bleibt zu hoffen, dass Jack Ketchums weitere Werke hier ebenfalls (und ebenso gut übersetzt) veröffentlicht werden - dieser Schriftsteller hat höchst unterhaltsam noch viele unbequeme Wahrheiten zu bieten!

Evil

Jack Ketchum, Heyne

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