Die Elfenbeinschatulle

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 2006
  • 2
  • Barcelona: Mondadori, 2004, Titel: 'La caja de marfil', Seiten: 238, Originalsprache
  • Berlin: Ullstein, 2006, Seiten: 304, Übersetzt: Luis Ruby
  • Berlin: List, 2007, Seiten: 303
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Lars Schafft
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2005

Ein sprachlicher Genuss

Ein kleines Dorf an der Küste Andalusiens. Es ist Sommer und nicht nur Touristen schwitzen unter der Sonne Südspaniens. Hier treffen auch zwei Figuren aufeinander, die auf den ersten Blick rein gar nichts miteinander zu tun haben. Nada. Der Koloss Quirós, offiziell Privatdetektiv, inoffiziell ein Mann für die Art von Angelegenheiten, die erledigt werden müssen und für die sich die, die es sich leisten können, sich nicht die Hände schmutzig machen wollen. Und die Lehrerin Nieves Aguilar. Eine romantische Weltverbesserin, die sich aufopferungsvoll um ihre Schüler und Schülerinnen kümmert, die sie zurück auf den rechten Weg bringen möchte. Um eine geht es in José Carlos Somozas Roman "Die Elfenbeinschatulle". Soledad, ein heranwachsendes Mädchen, Tochter eines Industriellen aus Madrid, ist ausgebüchst und Quirós wie Nieves haben nichts anderes vor, als Soledad wiederzufinden. Wenn auch aus gänzlich verschiedenen Motivationen.

Soledad ist keine einfache Tochter. Früh starb ihre Mutter, ihr Vater tat ein übriges zu ihrer Labilität, indem er aufgrund einer Krankheit ihre Hauskatze tötete. Seitdem lebte sie zurückgezogen in ihrer eigenen Welt, in einer Welt der Geschichten, die sie einsam (Soledad heißt übersetzt Einsamkeit, sic!) schrieb und die so wie faszinierten, doch von keinem verstanden worden sind. Jetzt ist sie verschwunden. Ihrem Vater gab sie noch mit auf den Weg, bloß nicht nach ihr zu suchen. Wenn er das täte, würde er sie nur tot finden. Eine Zwickmühle für Julián Olmos, Soledads Vater. Tot, aber Sicherheit oder "Leben und verloren"? Noch wichtiger als die Antwort auf diese Frage ist ihm aber die Diskretion. Und gerade deswegen macht sich der dicke Quirós auf nach Andalusien, um Soledads Lehrerin von weiteren Nachforschungen abzuhalten.

Ein ungleiches Paar findet zueinander

Nieves Aguilar, die Lehrerin und einzige Freundin der verschwundenen Schülerin, wurde von dieser um Hilfe gebeten. Sie möge nach Roquedal kommen. Doch Nieves als auch Quirós kommen zu spät. In Roquedal fehlt jegliche Spur der eigenbrötlerischen Soledad. Doch Nieves findet mehr heraus als Quirós lieb sein kann. Soledad hat sich tatsächlich dort aufgehalten, gemeinsam mit anderen Heranwachsenden in einer von einem dänischen Hippie geführten Herberge. Und sie zeigte besonderes Interesse an den Werken eines ortsansässigen Dichters - bis sie von einem auf den anderen Tag verschwand.

Quirós bleibt nichts anderes übrig als unter Jackett und Hut vor sich hinzuschweigen und zu -schwitzen und die Fährte aufzunehmen. Und tatsächlich finden die beiden bald auf den Straßen in die Sierra Nevada erste Anzeichen. Und Quirós erkennt von Tag zu Tag zu mehr dieser eigenartigen Bewohner Roquedals wieder - aus weitaus weniger sonnigen Tagen. Schlummert unter der weißgetünchten Touristendecke Roquedals tatsächlich "das Übel", wovon der örtliche Priester überzeugt ist?

Vielschichte Charaktere und ein Snoopy

José Carlos Somoza, der Exil-Kubaner, baut mit aller Geduld ein komplexes Figurensammelsurium auf, dass von Kapitel zu Kapitel mehr und mehr gefangen nimmt. Quirós ist ein eigenartiger Kauz, der einerseits vor aller Brutalität nicht zurückschreckt, der oft kalt und gefühlslos wirkt und auf der anderen Seite doch genaue Vorstellungen von Anstand an den Tag legt. Nieves beschützt er nicht nur teils selbstlos, er nennt sie auch ganz Gentleman-like "gnädige Frau" und sorgt dafür, dass die Bengels von der Herberge in ihre Schranken gewiesen werden. Mit Methoden, die Nieves freilich gar nicht unterstützen möchte.

Diese entdeckt während ihres Aufenthaltes in Andalusien eine lange vernachlässigte Seite, eine Nieves, die nach Eigenständigkeit, Anerkennung und Selbstverwirklichung strebt. Und die sich - gar nicht Lady-like - auch mal einen mit Sherry hinter die Binde gießt. Dazu kommen die Jugendlichen der Herberge, getragen von Gruppenzwang, gebremst von Selbstzweifeln, aufgeputscht durch Cliequenzugehörigkeit. Und irgendwie doch einsam. Wie die verschwundene Soledad. Und wie die "Snoopys", mit denen Quirós in seinem Leben zu hatte. Ein Snoopy, das ist ein Snuff-Movie-Regisseur, ein skruppelloser Mensch, der - wie Quirós jedoch weiß - auch immer eine abgehobene künsterlische Ader hat - und der wie Soledad nicht zu wenig in seiner ganz eigenen Welt lebt. Und einen dieser widerwärtigen Exemplare der menschlichen Rasse macht hinter gutbürgerlicher Fassade gerade Sommerurlaub...

Gar nicht klassisch, aber klassisch aufgebaut

Aus diesem Gepflecht der verschiedensten Charaktere, die Somoza meisterlich in Szene setzt, strickt der Autor einen anfangs noch sehr gemächlichen Plot, der sich auf gut 300 Seiten zuspitzt und dabei einen äußerst subtilen Thrill entwickelt. Kein Reißer im herkömmlichen Sinne, sondern intelligente Literatur. Und schreiben kann José Carlos Somoza wie kein Zweiter. Bildgewaltig, phantasie- wie anspruchsvoll. Aber auch sehr eigenwillig, wie er jede herkömmliche Form der Spannungserzeugung ad absurdum führt. Nicht nur einmal wird sich der Leser dabei ertappen, einen Absatz zurückzuspringen und nachzulesen, ob er nichts verpasst hat. Um dann festzustellen: Das ist Somozas Stil, das urplötzliche mit der Tür-ins-Haus-Fallen, den Puls von 0 auf 100 zu treiben - um genau so schnell ein Kapitel zu beenden. Einmalig.

José Carlos Somozo ist ein Autor, den man sich gerade wegen seiner Eigenwilligkeit, ganz dick hinter die Ohren schreiben sollte. Aber nicht nur deswegen. Tiefgründige Figuren, verquere Plots und eine brillante Prosa machen den Kubaner zu einem der spannendsten zeitgenössischen Autoren. Ja, auf diesen Autor sollte man in Zukunft ein Auge werfen!

Die Elfenbeinschatulle

José Carlos Somoza, Ullstein

Die Elfenbeinschatulle

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