Onkel Toms Hütte, Berlin

  • Blessing
  • Erschienen: Januar 2003
  • 41
  • München: Blessing, 2003, Seiten: 542, Originalsprache
  • Augsburg: Weltbild, 2004, Seiten: 542, Originalsprache
  • München: Heyne, 2005, Seiten: 542, Originalsprache
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53°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2004

Besticht weniger als Kriminalroman, sondern eher als gesellschaftskritische Betrachtung einer langsam in Vergessenheit geratenden Ära

Vier junge Frauen werden im Nachkriegs-Berlin brutal geschändet und ermordet. Doch die neuen Machthaber scheinen zunächst kein großes Interesse an der Aufklärung der Taten zu haben, denn die Toten sind "Verlierer". Deutsche, die die Welt in ein großes Unglück gestürzt haben. Der deutsche Inspektor Dietrich versucht im Rahmen seiner Möglichkeiten, einem bestialischen Mörder das Handwerk zu legen, doch er stößt immer wieder an die Grenzen, die ihm ein verlorener Krieg diktiert.

Die Erzählung, immer wieder unterbrochen durch die Schilderung der Lebenswege der Opfer, erhält Tempo, als klar wird, dass bereits vor dem Krieg ein Mörder an gleicher Stelle und in gleicher Weise sein Unwesen trieb. Doch die damaligen Machthaber hatten kein Interesse daran, dass die Untaten an die Öffentlichkeit gerieten. Schließlich hatten sie sich "den reinen und ehren Menschen" auf die Fahnen geschrieben und ein Sexualmörder passte nun mal nicht in dieses Bild.

Mit der Geschichte von Jutta, der fünften Frau, wird der Höhepunkt eingeleitet. Schließlich ist es am Ende dem Sohn des Inspektors und der Liebe eines einflussreichen US-Offiziers zu einem deutschen Mädchen zu verdanken, dass der Täter überführt werden kann.

Eine Gradwanderung zwischen Klischee und überlieferter Authentizität beschreitet der Autor in seinem Nachkriegskrimi, der im zerbombten Berlin nach dem verlorenen 2. Weltkrieg spielt. Ein deutscher Kriminalkommissar kämpft gegen einen grausamen Mörder, der Ignoranz der Besatzungsmächte und den widrigen Umständen, die sich aus der Verachtung der Sieger gegenüber den Verlierern ergeben. Mangelwirtschaft auf dem Revier, bei den Fahrzeugen, bei der Ausstattung und bei den Einsätzen begünstigen einen Sexualstraftäter, der es auf einen ganz bestimmten Frauentyp abgesehen hat. Vier Frauen sterben. Allesamt starke Frauen, deren Geschichten als Rückblenden in das Buch einfließen.

Und genau hier liegt einer meiner Kritikpunkte, denn das Buch beginnt in seiner Exposition mit dem Fund einer Frauenleiche am Bahnhof Onkel Toms Hütte. Erste Ermittlungen der deutschen Polizei als auch der amerikanischen Besatzungsmächte werden in die Wege geleitet und plötzlich befindet man sich in den Vorkriegsjahren mitten in einer ländlichen Idylle und mitten im Leben des ersten Opfers.

Dort nämlich, beginnt der Schriftsteller mit der Erzählung des Leidensweges seiner ersten Leiche. Da in diesem Buch vier Leichen gefunden werden, ist die Systematik des Autors leicht zu durchschauen. Den Morden folgen Ermittlungen und diese werden immer wieder mit den langen aber glücklicherweise kurzweiligen Erzählungen aus dem Leben der Opfer kurz vor und auch während des Krieges unterbrochen. Das lässt natürlich die Spannung immer wieder in den Keller absinken. Die einzelnen Geschichten jedoch sind flüssig und auch fesselnd erzählt, denn hinter jeder dieser ermordeten Frauen verbirgt sich ein außergewöhnliches und erzählenswertes Schicksal.

So ist das erste Opfer eine Filmschauspielerin, die sich zunächst der Karriere willen den neuen Machthabern bedingungslos unterordnet, um ihrer Leidenschaft zu frönen. Bis sie schließlich erkennen muss, welchem Unrechtsregime sie mit ihren "deutschen" Filmen dient. Denn durch eine unbedachte Äußerung trägt sie die moralische Schuld am Tod einer Freundin. Der Krieg endet und erneut keimt Hoffnung in ihr auf. Ein alter Bekannter taucht auf und bald schon wähnt sie sich wieder auf der Sonnenseite des Lebens, denn ein neuer Film ist geplant. Doch dann, mitten in die aufkeimende Hoffnung schlägt ein unbekannter Sexualmörder zu. Auch die Geschichten der drei weiteren Leichen laufen in einem ähnlichen Muster ab, so dass die eigentliche Krimierzählung bei dem seitenreichen Werk kaum 100 Seiten umfasst.

Kurz vor dem Ende erzählt er einen fünften Leidensweg, den Leidensweg von Jutta, mit dem gleichzeitig das Ende der aufregenden Jagd eingeleitet wird.

Zusätzlich zu den Geschichten der Frauen lässt der Autor eine Nebenhandlung einfließen, in der er die Erlebnisse eines Jungen - dem Sohn des Kommissars - erzählt, der sich mit kleinen Schwindeleien und Gaunereien die kleinen und schönen Dinge des Lebens in einer Welt des Kampfes ums Überleben zu erschleichen versucht. So bin ich mir manchmal nicht mehr ganz sicher, einen Kriminalroman in den Händen zu halten, sondern vielmehr eine typische Nachkriegserzählung mit allen - vielleicht sogar wahren - Klischees dieser Zeit.

Kurz gesagt hätte ich mir etwas mehr Krimi gewünscht und etwas weniger Schilderungen der Lebenswege der ermordeten Frauen. Zumal diese Rückblenden den Lesekomfort eingeschränkten und die (Krimi)Spannung darunter litt. Komischerweise kann ich aber nicht behaupten, dass der Roman nicht lesenswert ist. Ich muss sogar zugeben, dass das Buch mich zuweilen gefesselt hat. Jedoch besticht "Onkel Toms Hütte, Berlin", weniger als Kriminalroman, sondern eher als gesellschaftskritische Betrachtung einer langsam in Vergessenheit geratenden Ära. Klischee hin oder her, vielleicht liegt es auch ein bisschen an der Neugier meiner Generation, die den Krieg und die damalige Zeit nur vom Hörensagen oder aus den Erzählungen des Großvaters kennen.

Onkel Toms Hütte, Berlin

Pierre Frei, Blessing

Onkel Toms Hütte, Berlin

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