Shutter Island

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 2004
  • 42
  • New York: Morrow, 2003, Titel: 'Shutter Island', Seiten: 325, Originalsprache
  • München: Ullstein, 2004, Seiten: 363, Übersetzt: Andrea Fischer
  • Berlin: Ullstein, 2006, Seiten: 363
  • Berlin; Hamburg: Lauscherlounge, 2009, Seiten: 6, Übersetzt: Oliver Rohrbeck
Shutter Island
Shutter Island
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2004

Einbahnticket zur Insel der Irren

Ein seltsamer Fall bringt die US-Marshals Edward "Teddy" Daniels und Charles "Chuck" Aule in diesem Sommer des Jahres 1954 nach Shutter Island. Auf der kleinen Insel unweit des Hafens von Boston im US-Staat Massachusetts steht das Ashecliffe Hospital für psychisch kranke Straftäter. Aus einer der fest verschlossenen Zellen ist die dreifache Kindsmörderin Rachel Solando verschwunden. Jemand muss ihr geholfen haben. Überhaupt werden die Sicherheitsvorkehrungen eher lax gehandhabt. Anstaltsarzt Dr. Cawley behindert die Polizisten bei ihren Ermittlungen. Was geht wirklich vor auf Shutter Island? Die Anlage wird aus Schmiergeldfonds dubioser Politfundamentalisten finanziert. Möglicherweise führt man heimlich Menschenversuche durch, "behandelt" Patienten mit Psychopharmaka und Drogen.

Teddy Daniels kann Solandos kryptische "Abschiedsbotschaft" entschlüsseln: Im streng abgeschirmten Hospitalblock C, in dem die besonders gefährlichen und unheilbaren Fälle leben, gibt es demnach einen Patienten Nr. 67, der nirgendwo registriert ist. Er scheint im Zentrum der mysteriösen Umtriebe auf Shutter Island zu stehen.

Gegen den zunehmend offener werdenden Widerstand von Ärzten und Pflegern und unter dem Eindruck einer anonymen Bedrohung aus dem Hintergrund arbeiten Daniels und Aule fieberhaft an der Lösung des Rätsels. Es bleibt ihnen ohnehin nichts anderes übrig, denn Shutter Island wird durch einen Furcht erregenden Sturm vom Festland abgeschnitten; auch das Telefon ist tot. Dann mehren sich die Zeichen, dass Daniels absichtlich auf die Insel gelockt wurde, denn auch er hütet einige Geheimnisse, die er sorgfältig vor seinem Partner verbirgt und die direkt mit den Ereignissen im und um das Ashecliffe-Hospital verknüpft sind. Aber auch Aule ist nicht der Mann, der zu sein er vorgibt, so dass Daniels schließlich ganz allein steht, während seine Gegner schon die Lobotomiemesser wetzen ...

Wer ist "verrückt", wer "normal"?

Der deutsche Film "Das Kabinett des Dr. Caligari", entstanden 1919, gilt als Meisterwerk des Kinos. Hier seine Geschichte zu erzählen hieße die Lösung des Shutter-Island-Mysteriums zu verraten, was auf keinen Fall geschehen soll, obwohl kritische Stimmen behaupten, der kundige Leser wisse schon nach wenigen Seiten, in welche Richtung der Hase laufen werde. Dem mag so sein, muss aber nicht. Was zählt ist die erzählerische Handwerkskunst, mit der Dennis Lehane so direkt wie bisher noch nie in der Hirn der Dunkelheit vorstößt und eine Stimmung präsenter, aber nie fassbarer Bedrohung schafft.

Wer ist wer auf Shutter Island? Niemand, wie sich herausstellt. Die Kulisse ist erschreckend genug: Auf einer einsamen Insel steht ein Irrenhaus - so muss man es wohl bezeichnen -, erbaut auf den Ruinen einer uralten Festung. Unterirdische Gänge und Höhlen verwandeln das Eiland in ein Labyrinth. Auf einem unheimlichen Friedhof liegt manches Geheimnis gut begraben. Codierte Botschaften künden Furchtbares an. Ein Leuchtturm verbirgt in seinem Inneren Grausiges. Furcht- und hirnlose Supersoldaten warten auf ihren Einsatz. Der Ort ist bizarr, das Geschehen wird immer unwirklicher - beides hat seine Gründe, die sich dem Leser allmählich enthüllen. Die bis ins Klischee überdrehten Elemente des klassischen Gruselfilms haben ihre feste Funktion in dieser Geschichte. Abgesehen davon sind sie zeitlos. Hetzjagd im Irrenhaus auf einer Insel im Hurrikan - unverfrorener geht es nicht mehr, aber es wirkt, so wie es Lehane erzählt. Dazu trägt neben seiner Wortgewandtheit auch die leise Ironie mit, die immer wieder erkennen lässt, dass der Verfasser sehr wohl um die Absurdität dessen weiß, was er uns da vorsetzt.

Aus Klischees werden Thriller-Bausteine

Selbst wenn man ahnt, was auf Shutter Island geschieht, steigt die geschickt geschürte Spannung stetig. Lehane beherrscht wie gesagt sein Handwerk. Es ist deshalb nicht ihm vorzuwerfen, dass die Auflösung des Plots dem Weg dorthin nicht standhalten kann. Begeht man den Fehler, über den schließlich aufgedeckten bösen Plan nachzudenken, fallen einem sofort die gewaltigen logischen Lücken und seine Abhängigkeit von unwahrscheinlichen Zufällen ein, die ihn als reines Konstrukt eines Unterhaltungsromans entlarven.

Dennoch funktioniert das Finale im Rahmen seiner Story. Wir sind freundlich gestimmt, nachdem Autor Lehane uns über mehr als 300 Seiten vorzüglich an der Nase herumgeführt hat. So leicht wie dieses Buch lesen sich nur wenige der Thriller, die derzeit die Bestsellerlisten blockieren. Im Vergleich zu Lehanes Kenzie & Gennaro-Romanen (s. u.) ist "Shutter Island" leichte Kost - aber sehr bekömmliche!

"Normal" und "geisteskrank" sind nicht unbedingt fest definierte Diagnosen. Der Maßstab für das eine sowie für das andere kann ganz erheblich schwanken, so macht es Dr. Cawley Teddy Daniels in einer der vielen eindrucksvollen Passagen dieses Romans beängstigend deutlich. Das Fundament, auf dem sich die mentale Gesundheit gründet, steht auf schwankendem Boden. Wie man ihn stabilisiert, darüber sind sich die Spezialisten keineswegs einig. Auf Shutter Island werden in dieser Hinsicht neue Wege beschritten - aber sind es auch die richtigen?

Die "Behandlung" von Geisteskranken beschränkte sich über viele Jahrhunderte darin, sie sorgfältig wegzuschließen und ruhig zu stellen. Dafür bediente man sich durchaus barbarischer Methoden. Die Angst davor und die kollektive Erinnerung daran haben uns noch heute nicht verlassen. Ashcliffe Hospital ist ein örtlich verlagertes Bedlam, in dem die realen Irren von London seit 1547 ihr elendes Dasein fristeten, ein literarisches Pendant zum Arkham Asylum, hinter dessen dicken Mauern der Joker und andere von Batman ausgeschaltete Psychopathen verschwinden.

Wahnsinn als einzige zuverlässige Konstante

So lässt die finstere Präsenz dieses Ortes auch einen kriminalistischen Profi wie Teddy Daniels nicht unberührt, obwohl er sich betont lässig gibt. Der erfolgreiche Polizist ist durch private Schwierigkeiten aus dem seelischen Gleichgewicht; seine Frau wurde Opfer eines Verbrechens, der Witwer ist latent selbstmordgefährdet. Da kommt ihm viel Arbeit gerade recht. Was Daniels auf Shutter Island erlebt, weckt seine inneren Dämonen indes erst richtig.

Dr. Cawley, der Anstaltsdirektor, die anderen Ärzte und Pfleger: Sie alle spielen Rollen. Als ihnen dies zu misslingen droht, werden sie zur Bedrohung. Chuck Aule wirkt lange als Ruhepunkt im Sturm. Allerdings könnte der gute Freund durchaus ein Spitzel sein, der ihn im Auftrag Cawleys beobachtet und manipuliert. Daniels hat Recht - und er irrt sich. Die Zwiespältigkeit, mit der jede Figur auftritt, ist nicht nur ein Spannung schürendes, sondern wiederum ein integrales Element der Handlung, die sonst nicht funktionieren könnte. So setzt sich auch in der Figurenzeichnung die angenehme Ungewissheit fort, mit der Lehane sein Publikum bei der Stange hält.

Shutter Island

Dennis Lehane, Ullstein

Shutter Island

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