Undercover in Madrid

  • Rowohlt
  • Erschienen: Januar 1997
  • 1
  • Barcelona: Planeta, 1996, Titel: 'El premio', Seiten: 345, Originalsprache
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997, Seiten: 286, Übersetzt: Bernhard Straub
  • München; Zürich: Piper, 2003, Seiten: 286
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Wolfgang Reuter
100°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2003

Ein später Höhepunkt der Carvalho-Serie

Madrid, 1995. Im Hotel Venice findet die Verleihung des "Venice - Preises der Stiftung Lázaro Conesal" statt, mit 100 Mill. Peseten der höchstdotierte Literaturpreis Europas. Es ist ein außergewöhnliches gesellschaftliches Ereignis mit den wichtigsten Schriftstellern, Journalisten, Kritikern, politischen Vertretern, Adabeis und Sponsoren. Der Stifter, Lázaro Conesal, ist ein schwerreicher Finanzier und Vorstand eines gewaltigen Bankunternehmens.

Doch er steht mit dem Rücken zur Wand. Sein wirtschaftliches Ende zeichnet sich ab. Die von Korruptionsskandalen angeschlagene sozialistische Regierung stützte ihn bisher, auch weil er viele Dinge über ihre interne Finanzgebarung weiß. Doch die Regierung ist angeschlagen, ein politischer Umschwung, ein Rechtsruck steht bevor. Viele Mitläufer aus Wirtschaft und Industrie wenden sich von ihm ab, die Staatsbank ist nicht mehr bereit, die enormen Schulden seines Bankunternehmens zu tolerieren. Ein Mann wie er hat naturgemäß viele Feinde, er steht auf der schwarzen Liste der ETA. Eine anonyme Drohung vor der Preisverleihung veranlasst seinen Sohn, Álvaro Conesal, zusätzlich zum aufwendigen Sicherheitsapparat auch den Privatdetektiv Pepe Carvalho zu engagieren.

Am Höhepunkt des Festaktes, unmittelbar vor der Bekanntgabe des Preisträgers, wird Lázaro Conesal tot aufgefunden, im Pyjama, vergiftet durch Strychnin. Carvalho unterstützt Inspektor Ramiro bei den folgenden Ermittlungen, die sich dadurch sehr kompliziert gestalten, da fast jeder der Anwesenden ein Mordmotiv hat ...

Dieser Roman beginnt mit dem Eintreffen der Gäste zum Festakt und gestaltet sich als wahre Komödie der Eitelkeiten, als opulente, geistreiche, humorvolle Gesellschaftssatire. Montalbán war berühmt - berüchtigt dafür, dass er sowohl bekannte Personen des öffentlichen Lebens als auch Freunde in seinen Büchern auftreten ließ, gelegentlich nicht sehr schmeichelhaft. Für Nichteingeweihte oder außerhalb Spaniens lebende Leser ist es schwer, alle Figuren zuzuordnen. Direkt genannt werden der Präsident Joaquin Leguina, die Ministerin für Kultur Carmen Alborch, oder der Duque de Alba. Weiters gibt es die "beste schreibende Hausfrau", den "besten schwulen Poet und Romancier beider Kastilien", den "ältesten Vertreter der hoffnungsvollen Schriftstellerjugend Spaniens" oder den "einzigen real existierenden Nobelpreisträger Spaniens" (wahrscheinlich Camilo José Cela), und viele andere skurrile Figuren mehr. Die Gespräche drehen sich um Kunst, Literatur, um die politische Lage und persönliche Animositäten, sie sind von einer unglaublichen, intellektuellen Komik, die mir mehrmals vor Lachen die Tränen in die Augen getrieben hat. Es würde den Rahmen dieser Rezension bei Weitem sprengen, auf jedes Detail dieses phantastischen, bunten, barocken Panoptikums einzugehen.

Man spürt, wie viel Spaß Montalbán selbst beim Schreiben gehabt haben muss. Doch auch sich selbst verschont er nicht. Wie schon in dem Buch Wenn Tote baden erscheint auch hier wieder der Schriftsteller Sanchez Bolin als alter ego Montalbáns. So wie sich Alfred Hitchcock in manchen seiner Filme einen Auftritt vergönnt hat. Bolin reicht ein Buch für den Preis ein: "Die Sorgen eines Russen in China" unter dem Pseudonym eines Anarchisten der Jahrhundertwende. Er verbreitet das Rezept für "pan de tomate a la catalana", dem katalanischen Nationalgericht Tomatenweißbrot, was dazu führt, dass fast die ganze Festgesellschaft danach verlangt und sowohl Küche als auch Kellner völlig überfordern, den Nachschub an Brot und Tomaten aufrecht zu erhalten. (Bekanntlich setzt sich Montalbán in vielen Büchern und Artikel für die originale spanische Küche ein, dabei stellte er einmal das Tomatenbrot über die Pizza) Der Höhepunkt der Selbstironie, ein fast surrealistischer Moment, ist der, wo Sanchez Bolin (also Montalbán) auf Carvalho trifft und ihn fragt: "Nanu, Carvalho! Können sie mir erklären, was hier los ist und was sie hier suchen?" Köstlich sind die Attacken vom gefürchteten Kritiker - Duo auf Bolins (Montalbáns) Werke und die allgemeinen Betrachtungen über die Kriminalliteratur.

Dieses Buch ist 1996 erschienen und steht am Ende einer langen Reihe von Pepe-Carvalho-Büchern, die 1972 mit Ich tötete Kennedy begonnen hat. Alle diese Romane sind ein Spiegelbild der spanischen Gesellschaft in der Übergangsphase von Franco-Diktatur zur Demokratie. Jedes Einzelne hat auch ein spezifisches, zeitkritisches Thema: politische oder gesellschaftliche Ereignisse wie etwa die Olympischen Spiele, soziale Konflikte oder eben, wie hier, den Literaturbetrieb.

Wer ist überhaupt dieser Pepe Carvalho?

Zu Beginn der Serie war er, laut Montalbán, etwa 40, gegen Ende ist er an die 60 Jahre alt. Einst war er ein hochbegabter Intellektueller, der erste rote Student nach dem Bürgerkrieg, engagiert im studentischen Widerstand. Ein echter Idealist mit der Fähigkeit, an eine Sache zu glauben und dafür zu kämpfen. Doch durch Verrat seiner eigenen politischen Kameraden wird er verhaftet und verbringt 2 Jahre in den Gefängnissen der Faschisten. Diese Zeit verändert ihn von Grund auf. Er wird misstrauisch, zynisch, glaubt an nichts mehr, vertraut niemandem und ist sogar kurze Zeit CIA - Agent, um sich an den Kommunisten zu rächen und seine Vergangenheit zu vergessen. Er ist beziehungsgestört und nicht mehr fähig, Bindungen einzugehen.

Daher ist sein Beruf als Privatdetektiv ideal, unabhängig zu arbeiten, seine Liebe gilt lange Zeit bezeichnenderweise einer Prostituierten, sein Nihilismus lässt ihn für Geld fast jeden Auftrag annehmen. Ein besonderes Thema ist seine Vorliebe, Bücher zu verbrennen. Was hat es damit auf sich? Carvalho hat in einem bestimmten Zeitraum sein Verhalten von dem abhängig gemacht, was in Büchern steht, doch sie haben ihn nicht gelehrt, zu leben. Bücher, die er lesen musste, intellektuelle Wege und Abwege, denen er folgen musste. Gedruckte Kultur als Maske der Angst und der Unwissenheit, des Todes. Bücher haben noch nie jemanden a priori zu einem besseren Menschen gemacht. Gegen diese Verlogenheit rebelliert Carvalho, indem er sie verbrennt. Möglichst "wichtige", im Wertekanon der Gesellschaft höherstehende Bücher. Genau damit steht er aber im Gegensatz zu den Bücherverbrennungen der Nazis, die damit Menschen, die außerhalb der Blut-und-Boden - Gesellschaft standen, nicht nur physisch, sondern auch geistig vernichten wollten. Carvalho benutzt - wahrscheinlich als späte Rache an den Faschisten - nur dieselben Mittel, aber aus gänzlich anderen Absichten. Freilich ein bisschen hilflos, trotzig, was auch die Melancholie ausmacht, die die Figur Carvalho umgibt. Denn einen Kampf gegen den Faschismus gewinnt man mit so etwas nicht.

"Uroboros", ein Wort, das in diesem Buch eine gewisse Bedeutung hat. Ein Wort für den Mythos von der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt und in sich zurückgekrümmt einen Zyklus der Evolution symbolisiert. Bewegung, Kontinuität, ewige Wiederkehr. Auch eine Metapher für Montalbáns Sicht der Literaturszene. Und auch die formale Grundstruktur dieses Romans, bei dem das Ende gleichzeitig wieder der Anfang ist. Montalbán zeigt sich als wahrer Meister in der Beherrschung der formalen Mittel - Zusammenführung unterschiedlicher Zeitebenen, surreale Elemente neben den linearen Romanebene.

Dieses Buch ist ein später Höhepunkt der Carvalho-Serie, unglaublich dicht und doch von einer eigenartigen Leichtigkeit, selbstironisch, satirisch und doch tiefernst, kompromisslos in seinen politischen und historischen Analysen.

Manuel Vasquez Montalbán ist am 18. 10. 2003 unerwartet verstorben. Ein großer Verlust für die Literatur.

Undercover in Madrid

Manuel Vázquez Montalbán, Rowohlt

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