Das Geheimnis der Lady von Campden
- Aufbau
- Erschienen: Januar 1997
- 0


Riskante Zeiten für Falschaussagen.
Von 1642 bis 1649 tobte in England ein erbitterter Bürgerkrieg. Er endete mit dem Tod des Königs auf dem Schafott. Die britischen Inseln wurden zu einer Republik, doch die innenpolitischen Konflikte schwelten weiter. Alte und neue Rechnungen wurden meist gewaltsam beglichen. 1660 zerbricht mit dem nur brüchigen Frieden auch die Republik. Karl II. wird neuer König, und die Royalisten rächen sich an denen, die ihnen Macht und Vermögen genommen haben.
Der kleine Ort Chipping Campden in der südwestenglischen Grafschaft Gloucestershire war im Frühling 1645 in die Wirren des Bürgerkriegs geraten. Als aus dem Weinkeller des Herrenhauses zwei den Republikanern geraubte Fässer voller Gold verschwanden, blieb die intensive Suche der wütenden Royalisten vergeblich. Campden Hall wurde zur Strafe niedergebrannt.
Anderthalb Jahrzehnte später herrscht Friede im Ort, als William Harrison, einst Verwalter von Campden Hall, spurlos verschwindet. Obwohl keine Leiche gefunden wird, geht man von seinem Tod aus. Harrisons Gattin und Sohn Edward beschuldigen die ohnehin der Hexerei verdächtige Witwe Perry und ihre Söhne John und Richard, aber Friedensrichter Sir Thomas Overbury findet viele Widersprüche und offene Fragen. Er gibt sich Mühe, den Fall zu lösen, doch er ist kein Kriminalist, und das Rätsel bleibt ungelöst, bis Jahre später (nicht nur) Sir Thomas von einer gänzlich unerwarteten Wendung des Falls überrascht wird ...
Ein historisches Rätsel ...
„Das Geheimnis der Lady von Compden“ basiert auf historischen Tatsachen, die der Autor dort ausgeschmückt, wo die Zeitgenossen zwar Überlieferungslücken argwöhnten, ohne dem (möglichen) Rätsel jedoch auf die Spur zu kommen. Dies holte Jeremy Potter (1922-1997) in seinem letzten Roman nach und schuf das geglückte Beispiel eines Historienkrimis, der nicht nur Fakten und Fiktion geschickt miteinander verknüpft, sondern auch die Vergangenheit auf moderne Weise aufleben lässt: Potter kennt die Zeit, in der seine Geschichte spielt, er weiß, wie die Menschen damals dachten, handelten und schrieben, aber er simuliert nicht Vergangenheit, sondern bedient sich der Figuren, ihres Verhaltens und ihrer Sprache mit einer gewissen, ironisch gefärbte Distanz, um erfolgreich zu verdeutlichen, dass die Welt von Gestern sich von unserer Gegenwart maßgeblich unterschied.
Potter war auf einen Brief des tatsächlich existierenden und in den Fall verwickelten Friedensrichter Sir Thomas Overbury (1626-1684) gestoßen, der die Ereignisse 1676 ausführlich in der Rückschau festgehalten hatte. Wie schon erwähnt, warf die Erklärung des auf wundersame Weise wieder aufgetauchten William Harrison Fragen auf, doch da man seine Erklärung nicht widerlegen konnte, musste man die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Besonders die juristischen Aspekte wurden von Fachleuten intensiv diskutiert. (Dass man nicht wegen Mordes verurteilt werden konnte, wenn die Leiche des Opfers nicht gefunden wurde, ist übrigens ein Mythos, den Potter für seinen Roman konfliktverschärfend aufleben lässt.)
So wie man die zeitgenössische Justiz dank des Verfassers kennenlernt, wundert man sich nicht, dass der Tod dreier zu Unrecht hingerichteter Menschen als ‚Betriebsunfall‘ zu den Akten gelegt wurde! Dank Potter ‚wissen‘ irgendwann auch wir Leser, was sich zwischen den Zeilen des historischen Briefes abgespielt hat, und sind zufrieden: Ein seltsamer Fall wurde aufgeklärt, und der Weg dorthin war eine interessante Lektüre!
... verwandelt sich in einen Krimi
Die Handlung spielt zu einer Zeit, als es ratsam war, reich und von hoher gesellschaftlicher Stellung zu sein. Gerechtigkeit wurde von denen ‚da oben‘ definiert. Nur dort war man einigermaßen sicher vor einer ‚Rechtsprechung‘, die auf die „niederen“ Stände zielte und auch vergleichsweise geringe Vergehen abschreckend grausam bestrafte. Todesurteile waren an der Tagesordnung und wurden öffentlich vollstreckt; Potter beschreibt die Hinrichtung der unglücklichen Perry-Familie als Anlass für ein Volksfest mit Alkohol, Tanz und Ausgelassenheit.
Die Sorgen der Eliten spielen in dieser Geschichte eine besondere Rolle, hatten Adel und Kirche, die sich in der Regel sicher wähnen durften, in den Wirren des Bürgerkriegs und des sich anschließenden Interregnums Verfolgung, Enteignung und Exil erlitten. Man war deshalb nervös und besonders empfindlich, witterte man irgendwo Widerstand. Aus ihren Ämtern gejagte Republikaner zogen marodierend durch das Land; auch Sir Thomas wird von ehemaligen Soldaten überfallen.
Der Tod war ohnehin allgegenwärtig in einer Gesellschaft mit rudimentärem medizinischen Wissen, miserablen Wohnverhältnissen, unzureichender Ernährung und anderen lebenslimitierenden Faktoren. Auch diese lässt Potter einfließen; sie tragen mit bei zu einer aus heutiger Sicht erschreckenden Abstumpfung: Da man wusste, dass man mitten im Leben vom Tod umfangen war, sorgte man sich mehr um seine unsterbliche Seele; die Zeit auf Erden brachte man irgendwie hinter sich.
Gewinner und Verlierer des Umbruchs
Die Handlung spielt in einer Phase der Unsicherheit. Die daraus resultierenden Ängste tragen zum Geschehen bei. Werden die Untertanen auf den ihnen von Gott bzw. von König, Adel und Kirche zugewiesenen Plätzen verharren? Lassen sich die Verhältnisse so wiederherstellen, wie sie vor dem Sturz des Königs waren? Wer aus der Reihe tanzt, muss sich dem Urteil nervöser Adliger stellen, die mit enormer Macht ausgestattet sind, ohne sich dafür durch entsprechendes Fachwissen qualifiziert zu haben.
Selbst und gerade Sir Thomas, der sich redlich als Ermittler versucht, ist in den Vorstellungen und Vorurteilen seiner Ära gefangen. Er betrachtet die Suche nach der Wahrheit als eine ihm übertragene Aufgabe, aber auch als ‚Spaß‘, der ihm hilft, den relativ trostlosen Alltag auf dem Land zu ertragen. Lieber wäre Sir Thomas in der Großstadt ansässig, wo er sich in den Intrigenwirbel am königlichen Hof stürzen würde. Er fühlt sich unterfordert, zumal er aufgrund seines ‚lockeren‘ Lebenswandels und eines Familienskandals - ein Onkel landete im Tower und wurde dort vergiftet - mit dem Ruf dorthin, wo das Leben spielt, nicht rechnen darf.
Sir Thomas ist kein sympathischer Mensch. Potter zeichnet ihn als zwar wachen, gebildeten und intelligenten Mann, der nichtsdestotrotz ein Adliger seiner Zeit ist: standesbewusst, eitel, leutselig nur so lange, wie man dies nicht als Einladung zu persönlicher Nähe missversteht, launisch und ein fürchterlicher Ehemann. Potter gönnt ihm zwar den Blick hinter die Kulissen, Sir Thomas erfährt zuletzt die Wahrheit. Doch damit endet seine Rolle in diesem Drama. Er wird vom wahren Schuldigen ungerührt darauf hingewiesen, dass er zu niedrig in der Hierarchie steht, um für öffentliche Aufklärung und Anklage zu sorgen. Man würde ihn kaltstellen, und so stark brennt die Fackel der Gerechtigkeit nicht in Sir Thomas Overburys Seele, um dieses Schicksal zu riskieren!
Fazit
Ein historisches Rätsel aus dem 17. Jahrhundert wird aufgegriffen und im Rahmen eines Kriminalromans aufgeklärt. Der Plot beantwortet offene Fragen, die Handlung ist gleichzeitig ein (ironischer) Blick auf eine Vergangenheit mit heute unbekannten und schwer verständlichen Gesetzen und Regeln: ein gelungener Historienkrimi.

Jeremy Potter, Aufbau

Deine Meinung zu »Das Geheimnis der Lady von Campden«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!