Der Ringfinger
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1933
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Nur der erste Mord fiel schwer.
An der westschottischen Atlantikküste liegt Schloss Langpellan, wo Ted und Doris Ormsy gerade einige hochkarätige Freunde beherbergen. Unter ihnen befindet sich der Nervenarzt Dr. Hally, der auch einen Ruf als Ermittler in diversen Kriminalfällen genießt. Dieses Talent ist gefragt, als Lady Emily Gilmor mit einer Stichwunde im Herzen am Strand gefunden wird. Die wenigen Spuren geben keinen Aufschluss über den Hergang der Mordtat.
Die nur bedingt hilfreiche, weil beschränkte Ortspolizei glaubt an die Untat eines des Weges daherkommenden Vagabunden, zumal die Lady wie üblich mit kostbarem Schmuck unterwegs war, der nun verschwunden ist. Das wäre eine ‚saubere‘ Lösung, da sonst Prominenz in Verdacht geriete, was die Medien und anderen die öffentliche Ordnung störenden Pöbel auf den Plan riefe. Ebenfalls Gäste des Hauses sind Lord Gilmor, nun Witwer, Sir Angus Allister, ein bekannter Finanzmagnat, seine Ehefrau und sein Mündel, der junge Ted.
Der Fall ist noch offen, als einige Zeit später Allisters Gattin auf die gleiche Weise wie Lady Gilmor stirbt. Erneut gibt die Tat Rätsel auf, und abermals gibt es keine brauchbaren Spuren. Dass derselbe Täter verantwortlich ist, steht immerhin fest. Inzwischen konzentriert sich Scotland Yard - vertreten durch Inspektor Biles - auf den nun doch verdächtigen Lord Gilmor, das Ehepaar Ormsy und Ted, denn dieses Mal waren eindeutig keine Zufallsstrolche in der Nähe.
Es gibt zwar Verdachtsmomente und Motive, aber keine Gewissheit. Die Indizien wollen sich einfach nicht zu einem schlüssigen Gesamtbild fügen. Dr. Hally nimmt deshalb die Vergangenheiten der Verdächtigen unter die Lupe Seine Ermittlungen bringen ihn mehrfach in riskante Situationen und in Lebensgefahr, denn im Hintergrund tückt jemand, der - oder die? - keine Skrupel hat, eine Entlarvung zu verhindern ...
Kuschel-Krimi mit Action-Einlagen
Einmal mehr beweist Autor Anthony Wynne - geboren als Robert McNair Wilson (1882-1963) -, dass er kein Freund jener ausführlichen Einleitung ist, mit denen das Geschehen typischer britischer Rätselkrimis üblicherweise vorbereitet wird. Die gemächliche Machart sorgt dafür, dass die Leser den Ort des Geschehens und die dort anwesenden Personen (= die späteren Verdächtigen) kennenlernen, um mitraten zu können, sobald auf dem Buchpapier die offiziellen Ermittlungen beginnen.
Stattdessen springt Wynne ansatzlos ins Geschehen: Schon der erste Satz führt uns den geschockten Lord Gilmor vor Augen, der gerade seine ermordete Gattin entdecken musste. Der Mann, der ihm einen stärkenden Kognak einflößt, ist Dr. Hally, der den Fall letztlich lösen wird. Dem Knalleffekt folgt die plausible Aufregung, die sich in einer solchen Krise einstellen dürfte. Erst jetzt und eingebettet in Turbulenz stellt Wynne uns den Schauplatz und die Protagonisten vor.
Auch sonst sticht „Der Ringfinger“ durch mehrere Ereignisschwünge heraus, die man eher in einem Thriller als in einem „Whodunit“-Krimi der alten Schule erwarten würde. Offenbar orientierte sich Wynne für seinen achten Roman, in dem Dr. Hally als Ermittler auftritt, eher an John Buchan (1875-1940) bzw. dessen schon 1929 - in diesem Jahr wurde „The Forth Finger“ erstmals veröffentlicht - als Klassiker geltendes Meisterwerk „The Thirty-Nine Steps“ (1915; dt. „Die neununddreißig Stufen“), das übrigens ebenfalls in Schottland spielt: Hally soll bei einer Verfolgungsjagd auf einem steilen Gebirgspass mit einem Auto ins Jenseits befördert werden, gerät während eines Charterflugs in dichten Nebel und landet sogar in einer unterirdischen Kammer, die sich langsam mit Wasser füllt.
Indizien sind nicht (mehr) alles
Dass sich die bewussten und unterbewussten Geistesströmungen zur Psyche formen und als solche das Denken und Handeln bestimmen, war dem Menschen schon sehr früh bekannt. Eine ‚echte‘ Wissenschaft wurde daraus erst Ende des 19. Jahrhunderts, als Forscher wie Sigmund Freud, Wilhelm Reich oder C. G. Jung sich des Themas systematisch annahmen. Der Weg zur allgemeinen Anerkennung war für das junge Fach lang und oft steinig, aber als Anthony Wynne 1925 sein Krimi-Debüt gab, stand der Erkenntnisgewinn für ihn eindeutig fest.
Deutlich betonte er den psychologischen Aspekt der Ermittlungen, die Dr. Hally in Richtungen führten, die von der Polizei, aber auch von der Justiz stellvertretend für die Zweifler geäußerten Einwände nur unwillig übernommen wurden. Dass angeblich „harte“ Fakten nutzlos sind, wenn sie sich nicht in eine Fallanalyse einpassen lassen, und die Psychologie für zusätzlichen Informationsinput sorgen kann, ist Hally so wichtig, dass er allzu hartnäckigen Zweiflern gegenüber seine Contenance verliert, die ihn, den „Gentleman“, sonst auszeichnet.
Gleich mehrfach betont er die Bedeutung einer Hinterfragung, die für ihn schon zur Kriminologie gehört, während die eigentlichen Gesetzeshüter dieser Erkenntnis noch hinterherhinken. Hierin unterscheidet sich Hally auch vom üblichen „Detektiv“ à la Sherlock Holmes, der die Psyche als Element einer eher mechanischen Funktion des menschlichen Gehirns betrachtet. Dazu passt eine Zögerlichkeit, die nichts mit der Eitelkeit zahlreicher Privatermittler zu tun hat: Sie knausern mit Auskünften, weil sie die Früchte ihrer Klugheit im Rahmen eines triumphierenden Finales ernten wollen, während Hally tatsächlich (noch) nicht weiß, wie ein Hinweis einzuordnen ist. Er zögert, er irrt und korrigiert sich, was er auch in diesem Roman mehrfach demonstriert. Dies mag ihn als farblosen Charakter kennzeichnen, zeigt aber auch, dass nicht nur aufdringliches Selbstbewusstsein dem Profil eines Detektivs Unverwechselbarkeit verleiht.
Alte Werte unter kritischem Licht
Die Welt, in der sich Hally bewegt, ist nicht das Refugium, in dem Adlige, Künstler und sonstige den Problemen des schnöden Alltags enthobene Zeitgenossen umeinanderkreisen und ‚vornehme‘ Lebensart sogar angesichts eines blutigen Mordes zelebrieren. Zwar konfrontiert Wynne seine Leser nicht mit der zur feierabendlichen Lektürestunde unerwünschten Realität, aber er lässt sie einfließen; nicht als Selbstzweck, sondern weil ihm dies die Möglichkeit verschafft, den Ereignissen eine bestimmte Richtung zu geben.
So erstaunt die Selbstverständlichkeit, mit der Wynne gleich mehrere Ehepaare das Thema Scheidung ansprechen lässt. Unglück in der Ehe ist aus seiner Sicht kein Preis, der gezahlt werden muss. Selbst in dieser Ära verkraftet der so wichtige Ruf offensichtlich eine Trennung. Inzwischen darf auch ein Gentleman einem Beruf nachgehen; er muss es oft sogar, weil der Adel keine Untertanen mehr schurigeln und ausbeuten kann.
Frauen haben ihre eigenen Stimmen. Sowohl Lord Gilmor als auch Sir Angus Allister werden als charakterschwache Männer dargestellt, die Stärke aus ihren resoluten Ehefrauen ziehen. Der junge Ted bricht ganz offen mit Traditionen, die er als Vertreter einer kommenden Generation nicht mehr gutheißen mag. Wynne nimmt sich sogar die Zeit, eine Lanze für die nicht nur in seiner Ära oft übel beleumundeten „Zigeuner“ (so durften sie in dieser Übersetzung noch genannt werden) zu brechen: Solche Details sorgen dafür, dass ein vor einhundert Jahren erschienener Kriminalroman bemerkenswert lesbar geblieben ist.
Fazit
Obwohl er einerseits einen klassischer Rätselkrimi par excellence vorlegt, geizt der Verfasser nicht mit Action-Einlagen, die der Geschichte erstaunlich gut zu Gesicht stehen. Ansonsten gepflegte Klischees des Genres werden sacht in Frage gestellt, ohne den „Whodunit“-Plot aufzuweichen: ein beinahe zeitlos wirkender Alt-Krimi.

Anthony Wynne, Goldmann

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