Wir sehen betroffen, den Vorhang zu und viele Fragen offen.
Es ist ein entsetzliches Verbrechen, das sich quasi vor aller Augen abspielt. Die 16jährige Lena Palmer verschwindet spurlos. Erst Tage später erfährt ihr geschockter Vater und mit ihm eine bestürzte Öffentlichkeit, dass die junge Frau Opfer eines brutalen Verbrechens wurde. In einem Video, das blitzschnell über die "sozialen Medien" viral geht, kann jeder dabei zusehen, wie Lena von mehreren Männern vergewaltigt wird. Gut erkennbar handelt es sich bei den Tätern um dunkelhäutige Männer und das Netz schreit danach, dass diese einer gerechten Strafe zugeführt werden sollen. Aber nicht nur das - immer mehr machen sich auch die Ideen einer Lynchjustiz breit, kommt die ermittelnde Polizei doch offensichtlich keinen Schritt weiter.
Die BKA-Ermittlerin Yasira Saad, die mit der Suche nach den Tätern beauftragt wurde, steht unter immensem Druck. Sie weiß, dass dieses Verbrechen rechtsradikalen Gruppierungen eine besondere Bühne bereitet und endlich eine lange gesuchte Rechtfertigung bietet, ihren zügellosen Hass gegen Menschen, die nicht dem blonden-blauäugigen Typus entsprechen, auszutoben. Dennoch - Yasira muss erkennen, dass die Polizei selbst mit ihren modernen, akribischen Methoden keinen einzigen Schritt weiterkommt. Immer schneller läuft die Uhr ab - immer weiter nähert sich Deutschland einem Bürgerkrieg. Eine zunehmende Verschärfung tritt dann auch noch ein, als Yasira selbst in das Visier der rechtsradikalen, gesetzlosen Gruppe namens "Aktiver Heimatschutz" gerät. Ihre Eltern flüchteten einst selbst in das sicher scheinende Deutschland - aber "sicher" scheint hier plötzlich gar nichts mehr zu sein.
Das ist doch der mit dem Känguru...
Viele von uns kennen Marc-Uwe Kling sicher noch aus seinen heiteren Romanen um das eigenwillige Känguru, das mit seinen kommunistischen Idealen seinen Mitbewohner, in dessen Wohnung es quasi im Handstreich eingezogen war, oft und gerne in den Wahnsinn treibt. Mit diesem Buch betritt der Autor erstmalig das Gebiet des politischen Thrillers. Als erstes überrascht der Roman mit seiner Aufmachung, erinnert sie doch ein wenig an ein altes Video-Tape, das die Leser*innen allerdings auf "verstörende Inhalte" hinweist. So richtig schlau wird aus dem ersten Anblick vermutlich niemand.
Mit der Lektüre der ersten Kapitel ändert sich an dieser Einschätzung auch nicht viel. Kling stellt Yasira Saad vor. Sie ist eine normale Frau des 21. Jahrhunderts: Geschieden, alleinerziehend mit einer 16jährigen Tochter - nicht normal ist dagegen ihr Beruf, arbeitet sie doch als Ermittlerin beim Bundeskriminalamt. Wir lernen Yasira bei einem Tinder-Date kennen und auch wenn dieses Date wegen vieler sarkastischer Anspielungen auf Vorurteile und Erwartungen - salopp formuliert - in die Hose geht, ist das eigentlich noch der normalste Teil des Romans.
Das ändert sich aber schlagartig mit der Schilderung des Verbrechens und hier war ich längere Zeit regelrecht ratlos. Ich konnte nicht verstehen, welche Geschichte der Autor eigentlich erzählen wollte. Sollte es tatsächlich die eines brutalen Verbrechens, begangen an einer jungen Frau, sein? Oder ging die Erzählung hin zu dem offen rechtsradikal auftretenden "Aktiven Heimatschutz", dem die Polizei bei seinen Ermittlungen zuvorkommen will?
Rechtsradikale Gruppierungen, Politikverdrossenheit, die Macht der KI - eine unheilvolle Kombination
Beeindruckt war ich von der Wendung, die die Ermittlungen Yasiras tatsächlich nehmen. Sie kommt einem unglaublichen Vorgang auf die Spur. Gemeinsam mit dem/r Leser*in muss sie feststellen, dass der eigentliche Urheber des Videos, der die Täter der Öffentlichkeit vorführt und damit natürlich auch zu einem Täter wird, kaum zu belangen ist. Aber wie kann eine Öffentlichkeit darüber informiert werden? Wie kann die Woge des Hasses und der Gewalt noch gestoppt werden?
Ein großes Manko bei diesem Roman war für mich, dass Kling diese Fragen nicht beantwortet. Das Buch endet für meinen Geschmack zu abrupt. Zwar ist das im Hinblick auf die gesellschaftliche Spaltung, die bereits ihren unheilvollen Weg genommen hat, durchaus nachvollziehbar. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass doch ein paar Fragen mehr beantwortet würden. Der Leser bleibt aber mit dem Bruch der Gesellschaft, den Verbrechen die begangen werden und auch mit dem Schicksal der verschwundenen 16jährigen allein. Das ist am Ende des Tages unbefriedigend. Als störend empfand ich übrigens auch, dass ungenau lektoriert wurde, wechselt doch eine Person plötzlichen ihren Vornamen. Natürlich ist das im Gesamtwerkt eine kleine Sache - passieren sollte sie dennoch nicht.
Fazit
Marc Uwe Kling betritt ein neues Terrain und beschreibt unglaubliche Verbrechen und eine Hetze, die schnell Realität werden könnte. Eine letztendliche Aufklärung aller Fälle hätte ich mir dennoch gewünscht, aber diese empfand der Autor, wie er in einem Interview gegenüber dem NDR erklärte, als "zu langweilig". Ein kleines bisschen "langweilige" Aufklärung wäre hier aber durchaus wünschenswert gewesen.

Marc-Uwe Kling, Ullstein
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