Spandau Phoenix – Buch 1
- Ronin
- Erschienen: Januar 2025
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Sie wollen weder lernen noch sterben.
Im Mai 1941 kommt es zu einer Sensation: Reichsminister Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter und Vorsitzender der NSDAP, springt über England aus einem kleinen Flugzeug. Angeblich ohne Wissen seines „Führers“ hat er sich auf eine Friedensmission begeben, um an die englische Führung zu appellieren, den Krieg mit Nazideutschland zu beenden, damit dieses den eigentlichen und gemeinsamen Feind - die Sowjetunion - bekämpfen kann.
Hitler tobt theatralisch und lässt Heß für wahnsinnig erklären. Die Engländer nehmen diesen nicht Ernst und sperren ihn ein; nach Kriegsende wird er mit anderen hochrangigen NS-Paladinen in Nürnberg vor Gericht gestellt und zu lebenslänglicher Haft verurteilt, die er in der ehemaligen Zitadelle Spandau bei Berlin absitzt. 1987 begeht er Selbstmord, schreibt aber zuvor die wahre Geschichte nieder und versteckt sie so gut, dass sie zunächst niemand findet:
Heß flog nicht allein, sondern hatte einen Doppelgänger an Bord. Als Heß sich nach dem Absprung nicht bei ihm meldet, sollte dieser befehlsgemäß Selbstmord begehen. Doch er wollte leben, sprang ebenfalls ab, wurde gefangengenommen - und gab sich als Rudolf Heß aus! Der „Gefangene Nr. 7“ wahrte sein Schweigen, um seine Familie zu schützen - bis kurz vor seinem Tod.
Was ist mit dem echten Heß geschehen? Wo sind die Aufzeichnungen des Doppelgängers geblieben? Die Enthüllung eines Pakts mit den Nazis würde die britische Regierung noch heute in eine peinliche Lage bringen. Dagegen wären die Papiere für jene Kräfte, die den „Glasnost“-Kurs in der Sowjetunion ablehnen, ein Propagandainstrument. Auch in Israel ist man interessiert. Als in Geheimdienstkreisen klar wird, dass die Unterlagen noch existieren, beginnt ein Kampf um ihren Besitz. Eine geheimnisvolle Macht schaltet sich ein: „Phoenix“ will das „Dritte Reich“ aufleben lassen und erneut millionenfachen Tod und Verderben über die Menschheit bringen ...
Nationalsozialisten und „Nazis“
Noch als sie existierten, gab es gab es sie doppelt. Da waren einerseits die realen Nationalsozialisten und ihre historischen Gräueltaten. Sie bereiteten jenen Nazis den Boden, die bereits in der zeitgenössischen Trivialkultur auftauchten. Diese entwickelten ein Eigenleben und traten in unzähligen Buch-, Kino- und TV-Thrillern oder Comics auf, um Schrecken und Abscheu zu verbreiten (oder sich klamaukig lächerlich zu machen, was das Böse generell hasst).
Während hierzulande solche Unterhaltung verständlicherweise mit Skepsis betrachtet wurde, gab es vor allem in England oder in den USA kaum Berührungsängste. Dort stellte man „die Nazis“ an die Seite der „irren Wissenschaftler“, der „Indianer“, der „Kommunisten“, der „Untoten“ und anderer Archetypen, die schon durch ihr bloßes Auftreten abgrundtiefen Schrecken verbreiten sollten. Man profitierte von einer Historie, deren wahrhaftiges Grauen lange genug zurücklag, um nunmehr populär verwurstet zu werden.
Gleichzeitig lebten immer noch einige bekannte Gestalten aus jener Ära. Um sie entstanden Gruselmärchen, in denen ultrageheime Nazi-Organisationen den Krieg überstanden hatten und an einem „Vierten Reich“ bastelten. Unverzichtbar waren darin Rückblenden auf die Nazi-Zeit, in denen einschlägige Prominenz wie Hitler, Göring oder eben Heß persönlich auftrat. In der Regel stießen sie komplexe Pläne an, die nur in der Fantasie funktionierten, an die sich ihre Jünger nach der Niederlage aber bedingungslos hielten.
Frisches Blut im braunen Sumpf
Greg Iles leistete mit seinem Romanerstling 1993 seinen Beitrag zum Nazi-Munkel-Thriller. Die ‚echten‘ Nazis waren inzwischen tot oder uralt. Iles nutzte die Gelegenheit, die ihm der Tod von Rudolf Heß Mitte August 1987 bot. Der besondere Status dieses letzten noch lebenden Gefangenen, den man 1946 in Nürnberg verurteilt hatte, sorgte für eine Geheimniskrämerei, die umgehend die Gerüchteküche anfeuerte. Der Englandflug von 1941 und der Selbstmord von 1987 wurde zur Klammer, mit der Iles sechs Jahre später beliebte (Nazi-) Mythen zusammenhielt.
Dabei lenkte Iles vergleichsweise geschickt von jenen Argumenten ab, die rational solches Gestrüpp lichteten, und stellte die ‚Rätsel‘ als solche in den Vordergrund. Als Erzähler eines spannenden Thrillers leistet er gute Arbeit, was die Hauptsache ist. Wer sich nur ein wenig in der historischen Realität auskennt, erkennt aber schnell, dass der Autor ansonsten Katzengold spinnt, d. h. die Realgeschichte so ‚arrangiert‘, dass sie sich seiner Handlung beugt.
Diese spielt sich zeitlich auf zwei Ebenen ab, denn auch Iles verzichtet nicht darauf, erst den ‚echten‘ Rudolf Heß, aber später auch Hitler und seine Schergen ins Geschehen zu bringen. Dort tücken sie auf komplizierte, nur im Rahmen dieses Romans ‚geniale‘ Weisen, um einen Plan zu verwirklichen, der die Welt noch ein halbes Jahrhundert später in Brand setzen kann.
Sie sind wieder da!
Das Ganze wird noch abstruser, wenn Iles den Alt-Skandal in die Aktivitäten einer hinterlistig-rührigen Neonazi-Organisation münden lässt. Wer da in Südafrika die Fäden zieht, ist dem Leser trotz diverser Nebelkerzen bald klar. Freilich setzen Thriller wie „Spandau Phoenix“ nicht auf Plausibilität, sondern auf Spannung. Das geht wie gesagt in Ordnung, denn genau das ist ihr Zweck. Es wäre absurd, in solchen Romanen ‚historische Realitäten‘ zu erkennen.
Politisch korrekt ist das selbstverständlich trotzdem nicht (mehr), was auch der Grund sein mag, dass „Spandau Phoenix“ in Deutschland, wo Greg Iles ansonsten mit jedem seiner zahlreichen Romane vertreten ist, lange nicht übersetzt wurde. Mehr als drei Jahrzehnte nach der Originalveröffentlichung profitiert „Spandau Phoenix“ davon, dass nicht nur die Nazizeit, sondern auch der „Kalte Krieg“ inzwischen Geschichte sind. Viele heutige Leser dürften noch nicht geboren sein, als es mit der Sowjetunion und der DDR zu Ende ging. Das von Iles erzeugte Zeitkolorit ist deshalb stimmungstauglich. Man muss schon über diese Phase der Geschichte Bescheid wissen, um zu erkennen, dass die wüsten Attacken, aber auch der von ihm geschilderte Alltag im noch geteilten Berlin von 1987 ebenso ‚realistisch‘ sind wie in den Spionagethrillern der 1960 und 1970er Jahre.
Daher sollte man eher amüsiert als kritisch das Treiben von Figuren wie Hannes Apfel [sic!] verfolgen, der als braver bundesdeutscher Polizist in den Strudel der „Phoenix“-Verschwörung gerissen wird. Allerlei vertiertes Agentenpack meist, aber nicht nur sowjetischer Herkunft heizt ihm tüchtig ein und jagt ihn und seine schwangere Gattin (!). Dabei ist oft unklar, ob es sich bei den Personen, die sie dabei treffen, um Freunde oder Feinde handelt. Selbst Apfels Vater Dieter Hauer - Nomen est Omen - entpuppt sich als Geheimagent im Kampf gegen „Phoenix“.
Leider erfahren wir (noch) nicht, wie das Drama ausgeht. „Spandau Phoenix“ ist ein seitenstarkes Buch, das der deutsche Verlag zweigeteilt hat. Immerhin ist es endlich (und gut übersetzt, aber nur als eBook und Hörbuch) erschienen. Ungeachtet seiner braun angekränkelten Thematik bietet „Spandau Phoenix“ solide und rasante Unterhaltung. Greg Iles hat später weniger gelungenere Romane vorgelegt und muss sich für seinen Erstling nicht schämen.
Fazit
Turbulenter Absurd-Thriller, der die Machenschaften der ‚echten‘ Nazis mit dem bösen Treiben moderner Buh!-Verschwörer verknüpft. Ohne verkrampfte Nähe zur Realhistorie spinnt der Autor ein auf Spannung getrimmtes Garn, in dem sogar die flachdimensionalen Figuren ihre Aufgaben erfüllen.

Greg Iles, Ronin
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