Die Totenliste
- Heyne
- Erschienen: Januar 1983
- 2


Killer mit langer Liste.
Die Liste mit zehn Namen nennt Engländer vom Landarbeiter bis zum Adligen. Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Warum übergab Adrian Messenger, der viel gelesene Romane über große Verbrechen schrieb, diese Aufstellung seinem Kriegskameraden und Freund George Firth, Leiter des „Criminal Investigation Department“ von Scotland Yard, und bat ihn eindringlich, Nachforschungen über den Verbleib der Männer anstellen zu lassen?
Einer Gräueltat sei er auf der Spur, mehr ließ sich Messenger nicht entlocken. Den Absturz des Flugzeugs, das ihn zu weiteren Recherchen in die USA bringen sollte, überlebte er nur kurze Zeit. Mit ihm im Wasser des Atlantiks trieb Raoul St. Denis, ein Journalist, der Messengers letzte, im Delirium gestammelten Worte überlieferte.
Firth stellt fest, dass acht der aufgelisteten Männer bei merkwürdigen ‚Unfällen‘ ums Leben gekommen sind. Ein weiterer ist spurlos verschwunden, nur der letzte scheint sich guter Gesundheit zu erfreuen. Ist Jonathan Slattery aus Twickenham ein Glückspilz oder der Mörder? Firth setzt Anthony Gethryn, seinen Spezialisten für delikate Ermittlungen, auf die Sache an. Der setzt mit der ihm eigenen Beharrlichkeit die winzigen Bruchstücke eines möglichen Falls zusammen.
Was dabei zu Tage tritt, ist eine lange Kette niederträchtiger Verbrechen. Verrat, Massen- und Serienmord bilden nur die schlimmsten Taten des kriminellen, aber genialen Psychopathen, der von seinen ratlosen Verfolgern „Mr. Smith-Brown-Jones“ genannt wird. Viel zu lange kann dieser unter Gethryns Augen sein teuflisches Spiel fortsetzen. Schlimmer noch: Die Liste des Adrian Messenger ist nicht vollständig; es fehlen die Namen einiger Zeitgenossen, die der Mörder unbeirrt auslöschen wird, sollte Gethryn ihm nicht endlich auf die Schliche kommen ...
Kleine Ursache - serienmörderische Wirkung
Ein Stück Papier mit zehn Namen: Mehr benötigt ein fähiger Autor nicht, um einen spannenden Thriller zu schreiben. Die Neugier des Lesers ist sofort geweckt: Wieso sterben die Männer der Messenger-Liste wie die Fliegen? Welches Geheimnis teilen sie? Wird es gelingen, der Mordserie ein Ende zu bereiten?
„Die Totenliste“ ist ein später Vertreter des „Rätselkrimis“, der das „Goldene Zeitalter“ des Kriminalromans zwischen den Weltkriegen prägte. Philip MacDonald (1899-1981) gehört zu den bekannten Vertretern dieses Genres. Mit „Die Totenliste“ griff er es noch einmal auf, ohne freilich auszublenden, dass sich die Zeiten geändert hatten. Unmögliche Morde an altersstarrsinnigen Erbonkeln in verschlossenen Räumen waren aus der Mode geraten.
In den 1940er und 50er Jahren hatte man ganz andere Dimensionen der Bösartigkeit kennen gelernt. Also ist „Mr. Smith-Brown-Jones“ kein Krimineller mit Sportsgeist mehr, sondern ein irrer, aber eiskalter Psychopath, der zur Verwirklichung seines Plans Menschen in Serie mordet und nicht davor zurückschreckt, Züge entgleisen zu lassen und Flugzeuge zu sprengen.
Rätsel mit Tempo
Smith-Brown-Jones Mord-Odyssee und die verzweifelten Ermittlungsbemühungen seines Gegners Gethryn schildert MacDonald in zwei parallelen Handlungssträngen, die mit enormem Tempo vorangetrieben werden. Es lässt sich verfolgen, wie sich Gejagter und Jäger immer näher kommen, bis sich die beiden Stränge im großen Finale treffen.
MacDonald ist ein glänzender Handwerker, was bei einem Mann, der mehr als 40 Drehbücher für Film und Fernsehen verfasste, nicht wundert. Er schafft es sogar, hinter der schwungvollen Geschichte einen hanebüchenen Plot zu verstecken. Hier ist „Die Totenliste“ eindeutig das Spätprodukt einer versunkenen Epoche. Die Auflösung soll dieser Stelle nicht verraten werden, aber es ist kein langes Nachdenken nötig, um zu erkennen, dass der Mörder einen irrwitzigen Aufwand für ein grundsätzlich sinnloses Verbrechen treibt.
Andererseits ist dies womöglich nur ein weiterer Aspekt seines Wahns. Was freilich wichtiger ist: Die Story ist absolut unrealistisch, aber dem Verfasser gelingt es vorzüglich, sie uns zu verkaufen. Solange wir lesen, kümmern wir uns nicht um die Logik, sondern lassen uns unterhalten. Dem strengen Kritiker mag dies nicht genügen, wir Leser sagen: Gute Arbeit, Mr. MacDonald!
Der Fall zählt - und nur der Fall
Der Whodunit ist nicht für ausgefeilte Figurenzeichnungen bekannt. Im Vordergrund steht das kriminalistische Rätsel. Wie wurde die Untat begangen? Der Detektiv ermittelt mit aufgesetzten Marotten, die seinen Unterhaltungswert steigern. Das hat er in der Regel auch bitter nötig, weil ihm menschliche Züge weitgehend fremd sind. Auch Anthony Gethryn ist ein Spürhund, ganz Job, nur ansatzweise Mensch (oder gar Mann).
Eine Liebesgeschichte gibt es zwar. MacDonald fügt sie allerdings eher pflichtschuldig hinzu. St. Denis soll als feuriger Franzose auftreten, der um die schöne, nur vorgeblich kühle Jocelyn Messenger buhlt. Da sprühen keine Funken, sondern dominieren stumpfe Klischees. Die Männer sind nur sie selbst, wenn sie unter sich bleiben. Über allem schwebt die typische „Old Boys“-Atmosphäre kameradschaftlicher Verbundenheit. Man hat denselben gesellschaftlichen Hintergrund, d. h. studiert und im Krieg wacker fürs Vaterland gekämpft. Das verbindet, nur das zählt wirklich.
Wer nicht dazugehört, hat Pech gehabt. Unserem Bösewicht ist es so ergangen. Man hat ihm vorenthalten, was er meint, als Geburtsrecht für sich beanspruchen zu können. Darüber ist er buchstäblich verrückt geworden. MacDonald hält sich klugerweise mit entsprechenden Szenen zurück. Smith-Brown-Jones kontrolliert sich streng und organisiert seine Mordattacken vorbildlich. Darunter lauert stets der Wahnsinn und wie gesagt kein kriminalistischer Sportsgeist mehr, wie ihn die Widersacher von Sherlock Holmes, Hercule Poirot oder Gideon Fell an der Tag legten. Den daraus resultierenden Widerspruch kann Macdonald nicht gänzlich plausibel machen, was jedoch den Unterhaltungswert dieses letzten Romans, den der Autor veröffentlichte, kaum schmälert.
„Die Totenliste“ im Kino
Meisterregisseur John Huston (1906-1987) verfilmte (u. a. nach „Der Malteser Falke“, „Der Schatz der Sierra Madre“, „African Queen“) „Die Totenliste“ 1963 mit George C. Scott in der Gethryn-Rolle. Es entstand ein etwas konfuses, aber flottes B-Movie. Von der zeitgenössischen Werbung sehr herausgestellt wurde ein kurioser, jedoch leicht verunglückter Gag: Große Stars (Robert Mitchum, Burt Lancaster, Tony Curtis, Frank Sinatra) absolvierten kurze Gastauftritte. Ihre Gesichter wurden ausgiebig mit Latex überzogen. In einer dem Film angehängten Sequenz durften sie sich demaskieren, damit man sie wenigstens nachträglich identifizieren konnte. Den Vogel schoss wie so oft Kirk Douglas ab, der als unheimlicher Mörder in gleich vier Rollen nicht zu erkennen war.
Fazit
Ausnehmend spannender Roman, der keine globale Verschwörung in den Mittelpunkt stellt, sondern ein perfides Verbrechen. Die Schlichen des genialen Mörders und die fieberhaften Bemühungen seiner Verfolger ergeben eine rasante Story, welche die kriminalistische Schnitzeljagd des Rätsel-Krimis mit Elementen des modernen Serienkiller-Thrillers kombiniert.

Philip MacDonald, Heyne
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