Die Kurve

  • Suhrkamp
  • Erschienen: März 2025
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Thomas Gisbertz
78°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2025

Ein etwas anderer, aber sehr lesenswerter Thriller!

Herne ist ein Ort zum Vergessen oder Ignorieren. „In Herne will man nicht leben und nicht sterben. Zum da Rauskommen ist Herne allerdings so gut wie jeder andere Ort“. Dieser Meinung ist nicht nur Carl. Einst war dieser so etwas wie eine fest etablierte Größe im soziokulturellen Milieu dieser Stadt und leitete das beinahe schon legendäre Jugendzentrum „Die Kurve“. Doch Carl stellte sich irgendwann die Sinnfrage: Will ich hier herumhampeln, bis ich alt, leer und ausgebrannt bin? Als Antwort darauf beschloss er, mit seinen ihm anvertrauten Jugendlichen in den Heroinhandel einzusteigen. Scheiß auf die „Kurve“, scheiß auf Herne. Schließlich hat man nur ein Leben. „Wenn es am besten läuft, werden wir aufhören und was anderes machen.“

Und genau das machen sie heute. Carl betreibt ein ebenso riskantes wie lukratives Unternehmen für kriminelle Dienstleistungen. Er nimmt die Aufträge an, die seine einstigen Zöglinge aus Herne umsetzen. Wie etwa Ridley, eine Art mathematisches Genie, aber auch ein Drogen- und Sexfreak mit Stil und Köpfchen, der dabei ist, sich in die „Hostess“ Laura zu verlieben. Oder die superschnelle Allesbeschafferin Betty, die gerade ihren Freund Max verloren hat und sich deswegen in einer emotionalen Krise befindet. Nicht zu vergessen Schneider, ein gefühlloser Killer, der seine Opfer foltert - nicht, weil ihm das gefällt, sondern weil das Teil seines Jobs ist. Für sämtliche Aufträge muss Carl geradestehen. Kein Problem eigentlich. Aber irgendwie scheint auch ihm diesmal alles zu entgleiten.

Hörspielautor und Schriftsteller

Dirk Schmidt, geboren 1964 in Essen, studierte nach dem Abitur Geschichte, Germanistik und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Einer frühen Phase als Drehbuchautor folgten Jahrzehnte als Texter und Kreativdirektor in verschiedenen Werbeagenturen. Erste Arbeiten für den Rundfunk lieferte er bereits während des Studiums, sein erstes Kriminalhörspiel erschien 1993, sein Debütroman „Letzte Nacht in Queens“ 2003. Seit 2011 ist Schmidt verantwortlich für den WDR-Radio-Tatort rund um die „Task Force Hamm“, der Kult geworden ist.

Die Grundidee zum aktuellen Thriller griff Dirk Schmidt bereits 2021 in seinem 1Live Krimi-Hörspiel „Ridley - Fremdenführer für die Mafia“ auf. Diese Geschichte stellt auch einen Handlungsstrang seines aktuellen Romans dar.

Nur weg aus Herne

Betty, Mali, Max, Jenny und Wheelmaker: Das war einst der innere Kreis des Jugendzentrums „Die Kurve“. Später kamen noch Ridley und Schneider dazu. Die erste und letzte Generation, die Carl als Sozialarbeiter betreute. Eine Gruppe hoffnungsloser Fälle. Die Eltern arbeitslos und in Armut lebend, die Kinder ohne soziale Absicherung und mit so gut wie keiner Aufstiegschance. Carl war für sie da, nahm sich aber nicht wirklich ihrer an. Er (be-)nutzt sie bis heute mit seiner natürlichen Autorität für seine Zwecke, gibt ihnen eine Aufgabe, aber keinen Sinn. „Die Kurve“ ist dabei Ausgangspunkt von allem. Ein Ort der Hoffnungslosigkeit. Und gleichzeitig prägt er die Figuren, verschlingt sie regelrecht, bevor er sie über die Welt verteilt wieder ausspuckt. Was die Protagonisten eint, ist der Umstand, dass allen das Leben übel mitgespielt hat. Betty, Jenny oder Eliza, die Tochter eines Mafia-Bosses: Sie alle sind ambivalente Frauenfiguren, die täglich mit sich zu kämpfen haben. Nur Carl - selber aus einfachen Verhältnissen stammend - hatte als einziger die Möglichkeit zu einem geordneten, bürgerlichen Leben. Aber dauerhaft wahrnehmen wollte er diese Chance nicht. Nun zieht er die Fäden im Hintergrund und nutzt dabei die Stärken, aber auch Schwächen der anderen. Dabei ist er kein grundlegend böser Charakter, zeigt sogar immer wieder unerwartet seine menschliche Seite - und scheitert gerne auch an den Tücken moderner Technik.

Ungewöhnlicher Krimi

„Die Kurve“ ist in vielerlei Hinsicht anders: in seinem Aufbau, der Figurenentwicklung und der Story. Der Roman spielt mit den Erwartungen an einen Kriminalroman, weitet sie, ignoriert sie aber auch bewusst. Und irgendwann endet der Roman und findet dennoch keinen Abschluss. Noch nicht einmal ein Happyend. Autor Dirk Schmidt verzichtet darauf, weil es auch gar nicht zur Handlung passen würde. Denn alle Figuren bleiben Suchende - nach dem Glück, nach Zuneigung oder nach sich selbst. Dabei gibt es eine Stelle im Roman, an der Carl ernsthaft überlegt, seine Geschäfte zu verändern oder ganz aufzugeben. Aber so sicher ist er sich dann doch nicht. Also bleibt alles, wie es ist. Stillstand, keine Veränderung. Das ist der Ton, der den Roman prägt. Herne und das, was der Ort aus ihnen gemacht hat, werden die Figuren bis zum Schluss nicht los.

Fazit

Da der Roman großen Wert auf die Figurendarstellung legt und regelmäßig zwischen den einzelnen Handlungssträngen sowie den Rückblicken und der Gegenwart wechselt, fehlt es dem Thriller etwas an Tempo und einem zu erwartenden Ziel. Daran dürfte sich vielleicht der ein oder andere Thrillerfan stören. Sollte er aber nicht, denn „Die Kurve“ ist mehr als lesenswert - gerade weil er nicht den üblichen Genrevorgaben entspricht.

Die Kurve

Dirk Schmidt, Suhrkamp

Die Kurve

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