Der Gott des Waldes

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Februar 2025
  • 4
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Sabine Bongenberg
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2025

Der Thriller steckt in der Gesellschaft.

Den Kindern, die das "Feriencamp Emerson" besuchten, wurde schon seit Jahrzehnten eine wichtige Verhaltensweise eingetrichtert: "Wenn du dich im dichten Wald verlaufen hast, dann versuche nicht, allein wieder den richtigen Weg zu finden, sondern setz' dich hin und schreie nach Hilfe!" Es ist die oberste Campregel und vielleicht wäre es 1961 niemals zu der Katstrophe gekommen, wenn der achtjährige Sohn der reichsten Familie am Ort diesen Ratschlag beherzigt hätte. "Bear" Van Laar, der mit seinem Opa eine Wanderung unternahm und noch einmal ins Camp zurückkehrte, weil er sein Taschenmesser vergessen hatte, verschwand aber einfach spurlos und alles Suchen nach ihm half nicht. Der Junge tauchte nie mehr auf. Knapp vierzehn Jahre später nimmt seine Schwester Barbara Van Laar, die ihn niemals kennengelernt hat, an einer Ferienfreizeit im Camp teil. Sicher kann sich jeder das Entsetzen ihrer Betreuerin vorstellen, als Barbaras Bett an einem Morgen verwaist ist und wieder ein Van Laar Kind spurlos verschwunden ist.

"Die Landschaft hier ist schön, aber die Leute sind ... grauenhaft."

Zwei verschwundene Kinder, ein dichter Wald, absonderliche Gestalten, die hier ihr Unwesen treiben - Liz Moore hätte alle Zutaten gehabt, um einen gruseligen, wenn auch sicherlich nicht sonderlich einzigartigen Roman zu verfassen. Dennoch geht das, was sie in ihrem Roman erzählt, weit über eine profane Mord-und-Finsterwald-Handlung hinaus. Das Drama, was sich hier entspinnt handelt in zweiter Linie von verschwundenen Kindern und in erster Linie von der Gesellschaft der 50er, 60er und 70er Jahre in den USA.
Erzählt wird von der 17jährigen Alice, die auf dem Debütantinnenball den reichen Peter kennenlernt, die sich dumm und unbeholfen fühlt und der viele Jahre später geraten wird, vor Partys ihre Schüchternheit mit einem großen Glas Gin zu überwinden. Erzählt wird von Louise, die als Betreuerin im Feriencamp Emerson arbeitet und ihrem Verlobten aus besserem Hause die Treue hält. Allerdings darf sie ihn und Familie nicht einmal im Camp besuchen, als sie für mehrere Wochen dort absteigen, denn das passt dann doch nicht.  
Judyta hat es 1975 geschafft, bei der Polizei als Ermittlerin aufzusteigen, aber wenn sie Befragungen durchführen muss und sich in einer Privatwohnung befindet, traut sie sich nicht einmal, nach der Toilette zu fragen. Es sind Sittenbilder aus unterschiedlichen Jahren der amerikanischen Gesellschaft und ganz bestimmt brauchen wir aber auch nicht mit dem Finger darauf zu zeigen, denn erst seit 1958 darf hier eine Frau ohne die Zustimmung ihres Mannes eine Arbeit aufnehmen.

Moore bedient sich verschiedener Rückblenden in die Vergangenheit und fokussiert jeweils auf das Erleben eines oder einer Protagonisten/-in, über den/die in der dritten Person berichtet wird. Eine Zeitskala zu Beginn jedes Kapitels hilft dem Leser herauszufinden, in welchem Jahr er sich gerade befindet. Durch diese Wechsel entsteht ein lebendiges Bild in einem ansonsten sehr ruhigen und anfangs auch etwas gewöhnungsbedürftigem Erzähltempo. Aber selbst mit dieser Ruhe zeichnet die Autorin ein gnadenloses Bild einer lieblosen Gesellschaft. Sie berichtet von Party-Wochenenden, die keinen weiteren Zweck verfolgen, als dass die Reichen und Schönen sich ein paar Tage um den Verstand trinken können, wogegen ihre Kinder vernachlässigt werden und das Personal in erster Linie den Mund zu halten hat.

Gerechtigkeit ist wiederhergestellt, lautet die Bildunterschrift

Natürlich stellt sich auch die Frage, welchem Genre dieser Roman eigentlich zuzuordnen ist. Denn dass es sich um keinen klassischen Krimi handelt, das wird dem Leser/der Leserin alsbald klar. Ich warf nach längerer Lektüre daher auch einen hilfesuchenden Bick auf den Titel des Buches, kam mir das mit dem "Thriller" doch ein wenig seltsam vor. Siehe da - der Verlag C.H. Beck spricht tatsächlich von einem "Roman" - der Begriff des "Thrillers" findet sich zwar auch auf dem Titel, zitiert aber nur eine Kritik der Zeitung "The Guardian". Dennoch bin ich grundsätzlich der Meinung, dass "Der Gott des Waldes" als Kriminalroman gelten darf - aber vielleicht weniger im Hinblick auf Kapitalverbrechen, sondern vielmehr auf sogenannte "Bagatelle-Delikte" wie Rufmord, Diskriminierung, Misshandlung, Vortäuschen einer Straftat und ähnliches. Bei diesen Verbrechen handelt es sich, wie im Buch gezeigt wird, auch ganz bestimmt nicht um Kleinigkeiten, können doch auch sie ein ganzes Leben zerstören oder aus dem Tritt bringen.

Moore klärt die Schicksale und auch die genannten Verbrechen umfassend auf - auch wenn sicherlich manchmal der "Sühne-Aspekt" zu kurz kommt. Natürlich hätte ich mir dazu manchmal etwas mehr gewünscht, dennoch ließen sich Fragen der Gleichberechtigung im Vergleich der Jahre 1975 und 2010 wohl kaum zufriedenstellend beantworten. Besonders gut gefiel mir auch, dass abseits von Rechtsprechung und konventioneller Strafe tatsächlich Gerechtigkeit gefunden wurde, die einen ganz anderen Ansatz verfolgt.

Fazit

Barack Obama hat diesen Titel laut Werbung auf der Rückseite des Buches auf seine "Summer-Reading-List" gesetzt. Ehrlich gesagt - nicht alles, was der von mir so hoch verehrte Alt-Präsident liest, fand meinen Beifall. Aber hier - denke ich - hat er eine gute Wahl getroffen.
Sabine Bongenberg, März 2025

 

Der Gott des Waldes

Liz Moore, Suhrkamp

Der Gott des Waldes

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