Kurz nach Mitternacht

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1954
  • 1
Kurz nach Mitternacht
Kurz nach Mitternacht
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2025

Der doppelte Tod des hartherzigen Kapitäns.

Im März des Jahres 1946 beginnt die britische Marine mit der Demobilisierung ihrer Kriegsflotte. Die meisten Schiffe werden ausgemustert. Auch der U-Boot-Jäger „Nighthawk“ wird in einer Flussmündung an der südwestenglischen Küste eingemottet. Die meisten Offiziere und Seemänner werden ins zivile Leben zurückkehren und sind froh darüber.

Kapitänleutnant Shillard führt ein strenges Regiment an Bord der „Nighthawk“ und ist deshalb weder bei den Offizieren noch bei der Mannschaft beliebt. Regelverstöße pflegt er unnachgiebig zu strafen. Trotzdem ist es ein Schock, als man ihn des Morgens mit einer Kugel im Schädel in seiner Koje findet.

An Bord der „Nighthawk“ dienen 150 Männer. Sie alle müssen überprüft werden. Die Polizei schickt Inspektor Vaney, die Marine den Flottillenchef Kapitän Gerald Blunden, der es gar nicht schätzt, dass sich Zivilisten einmischen. Wohl oder übel müssen sich die beiden Ermittler arrangieren, denn der Fall ist kompliziert. Zu Blundens Schrecken gehören sogar die acht Offiziere zum Kreis der Verdächtigen.

Zu ihnen gehört Roger Crammond, im Zivilleben ein bekannter Meeresbiologe. Obwohl Offizier, hat er das Ohr der Seeleute, die sich im Notfall gern an ihn wenden. Das bringt ihn in die Zwickmühle, denn er weiß, dass sich einer der Hauptverdächtigten in der Mordnacht heimlich vom Schiff geschlichen hat. Crammond beschließt, selbst nach dem Mörder zu fahnden - und verheddert sich prompt im zunehmend knotigen Geflecht dieses Falls.

Bald klafft zwischen den Ermittlungsergebnissen der Polizei und Crammonds Wissen eine erhebliche Lücke. Der Hobby-Detektiv muss wohl oder übel weitermachen, denn nur durch die Entlarvung des Täters kann er sich selbst aus dem Schlamassel retten. Eile ist geboten, denn an Bord wird man allmählich aufmerksam ...

Landhaus-Krimi im maritimen Gewand

Der klassische Kriminalroman bevorzugt einen klar umrissenen Schauplatz. Der Faktor Isolation ist wichtig; sowohl das jeweilige Mordopfer als auch die Verdächtigen sollen unter sich bleiben. Der Täter rekrutiert sich aus der Schar der Anwesenden; das ist wichtig und ‚fair‘, der Leser erwartet es und will keinesfalls mit einem urplötzlich von außen ins Geschehen geworfenen Mörder konfrontiert werden.

Zum Klischee ist das Landhaus geworden, das die erforderliche Einsamkeit vor allem in einer Vergangenheit bot, als befestigte Straßen, solide Telefonverbindungen oder Elektrizität selbst für den englischen Adel nicht selbstverständlich waren. Meist verschärfte das Wetter die Abgeschlossenheit des Tat- und Ermittlungsortes, während Geheimgänge und unterirdische Tunnel maßvoll gestattet waren.

Zumindest ehrgeizige Autoren sahen in diesen Vorgaben eine lästige Beschränkung, denn viel Abwechslung bietet das Landhaus als Kulisse tatsächlich nicht. Deshalb begann die Suche nach Orten, die den Erfordernissen des Rätsel-Krimis genügten, aber ein interessanteres Ambiente boten. Für Thomas Muir (1918-1981), der in der Royal Navy diente, lag der Gedanke nahe, eine ermittlungswürdige Untat auf ein Schiff zu verlegen.

Alle Mann an Bord!

Die Landratte schätzt das maritime Umfeld. Ist man nicht selbst den Wellen, der Seekrankheit und den Launen eines strengen Kapitäns ausgesetzt, liest man gern Geschichten aus dieser fremden, faszinierenden Welt. Auf See gibt es eigene Regeln und Rituale, die eine Krimi-Handlung unterhaltsam untermalen. Für den ersten Band seiner Roger-Crammond-Serie wählte Autor Muir ein Umfeld, in dem er sich sichtlich auskennt. Die Darstellung des Bordalltags und die zeithistorische Ausnahmesituation sorgen für einen Kriminalroman, der zwar altmodisch ist, aber seine Spannung halten konnte.

Die böse Tat ereignet sich nicht auf hoher See. Das Schiff liegt vor Anker in einer Flussmündung. Weil das Ufer nahe ist, wird der Fall nicht bordintern gelöst. Die Polizei ist zuständig und entert die „Nighthawk“. Muir schürt den Erwartungsdruck, indem er die Beamten in einen Mikrokosmos geraten lässt, in dem sie nicht willkommen sind: Die britische Marine ist älter als die britische Polizei. Sie hat sich eigenständig entwickelt und pocht auf ihre Traditionen. Probleme werden marineintern gelöst. Mord gehört nicht nur nach Ansicht von Flottillenchef Blunden durchaus dazu. Die Polizei denkt selbstverständlich anders, wobei eigener Berufsstolz mit zum Tragen kommt.

Kurz nach dem entbehrungsreichen und unter Einsatz zahlreicher Menschenleben gewonnenen Weltkriegs ist die Marine besonders empfindlich. Sie hat ihren Zweck erfüllt und wird verkleinert. Alte, oft im Kampf gewachsene Mannschaften werden aufgelöst. Die Männer freuen sich zwar auf den Frieden, trauen ihm aber nicht. Bisher wurde ihnen gesagt, was sie zu tun hatten. Daran haben sie sich gewöhnt.

Der Schutz der ‚Familie‘

Untereinander herrscht ein durch den Kriegseinsatz gekräftigtes Band aus Erinnerung und Vertrauen. Deshalb ist Roger Crammond bereit, die Polizei außen vor zu lassen und selbst zu ermitteln, obwohl er nicht über einschlägige Erfahrungen verfügt. Als er erst einmal begonnen hat, sorgt Autor Muir für Umstände, die Crammond unter spannungsförderlichen Druck setzen. Bald geht es nicht mehr nur darum, einen Unschuldigen zu retten: Crammond muss die eigene Haut retten.

Gerade weil er kein Kriminalist ist, verfolgt der Leser seine Aktivitäten interessiert. Crammond, der Meeresbiologe, setzt in seiner Not die als Wissenschaftler erworbenen Fähigkeiten ein. Gerade dies ermöglicht es, jenen komplizierten Mord zu entschlüsseln, den sich der Autor einfallen ließ: Kapitänleutnant Shillard wurde quasi zweimal umgebracht, wobei Motiv und Tathergang denkbar unterschiedlich sind.

Die Nähe des Landes verführt Muir übrigens keineswegs zu faulen Tricks. Gemordet wurde an Bord, und dort wird das Geheimnis schließlich gelüftet. Dennoch bezieht der Autor die Küste, den Hafen und die sich daraus für das Geschehen ergebenden Möglichkeiten in die Handlung ein. Muir vergisst zudem nicht, dass sich auch unter Wasser ein Schauplatz für interessante Ereignisse auftut.

Jeder kann’s gewesen sein

Die Besatzung der „Nighthawk“ zählt 150 Männer. Sie sind Verdächtige, doch Muir muss das Feld ausdünnen, um seine Figurenliste nicht zu überfrachten. Ins Zentrum rücken die acht Offiziere sowie einige ausgewählte Matrosen. Wiederum erweist sich die Küstennähe als Vorteil: Problemlos können einige weibliche Figuren in die Handlung gebracht werden, was die Palette der möglichen Mordmotive erweitert.

Muir nimmt sich viel - manchmal zu viel - Zeit, die Alibis der Verdächtigen darzustellen. Der Zweck ist klar: Als die Angaben verglichen werden, decken sie sich. Keiner der Befragten kann eigentlich der Täter sein. Natürlich gibt es dennoch Lücken und damit einen Hergang, der zum Ablauf der Tatnacht passt. Im genretypischen Finale, das den Ermittler mit sämtlichen Verdächtigen einschließlich des Mörders konfrontiert, wird enthüllt, wie Polizei und Leser an den Nasen herumgeführt wurden.

Die Auflösung ist ein wenig umständlich, ergibt aber Sinn. Es kommt sogar zu einer aufregenden Verfolgungsjagd, die Muir nutzt, um abermals eine falsche Spur zu legen. Wie es sich gehört, sind jene unschuldig, die sich besonders suspekt verhalten haben. Das Ende ist doppelt klassisch, weil dem entlarvten Täter die Chance gegeben wird, sich selbst zu richten, wodurch die Ehre der Marine gewahrt bleibt. So haben schon viele Detektive der Moral den Vorrang vor dem Gesetz gewährt.

Fazit

„Kurz nach Mitternacht“ ist kein verlorenes Juwel der Krimi-Historie, weil der Mittelteil schleppend, der Plot schematisch, die Figurenzeichnung klischeestark ist. Nichtsdestotrotz macht dieser Ausflug in die Welt der Schiffe und Seemänner Spaß und begründet allemal eine antiquarische Suche nach diesem und anderen Muir-Titeln!

Kurz nach Mitternacht

Thomas Muir, Goldmann

Kurz nach Mitternacht

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