Doch das Messer sieht man nicht

  • Emons
  • Erschienen: März 2024
  • 1
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Sabine Bongenberg
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2024

Sehr viel Mileu - etwas wenig Krimi.

Anaïs Maar ist es gewohnt, aus der Menge herauszustechen. Ihre Mutter war eine "eingeborene" Berlinerin, aber ihr Vater war ein schwarzer Mann aus Afrika. Warum und wie die beiden sich irgendwann mal verliebt haben, das steht in den Sternen. Erfragen kann es keiner mehr, denn beide sind bei einer Dampferüberfahrt ums Leben gekommen. Weil Anaïs anders war, wurde sie oft wie ein Äffchen im Zoo begafft und es war nicht immer einfach, erwachsen zu werden. Das aber hat sie jetzt geschafft, eine gute Ausbildung hat sie auch. Nachdem sie einen Job gefunden hat, will sie sich jetzt einen Namen machen. Aber auch hier gibt es Hindernisse, denn Anaïs ist Journalistin, und im Jahr 1927 besteht wahrlich kein Mangel an Journalistin. Sie will außerdem nicht einfach nur über die Schönen und Berühmten berichten, sie will etwas bewegen. Unfreiwillig und anders als gedacht, erhält sie tatsächlich diese „Chance“, als die Prostituierte Martha Teller bestialisch ermordet wird und Anaïs über diesen Fall berichten soll. Immerhin - es gelingt ihr, sich mit diesem Bericht einen ersten Namen zu machen und auch zu erreichen, dass das Schicksal der Armutsprositutierten verstärkt in das Augenmerk der Öffentlichkeit gerät. Allerdings zieht sie auch das Interesse des "Rippers" auf sich und das ist vermutlich das Letzte, was sie in dieser Situation brauchen kann.

Berlin 1927 - ein dreckiger Moloch, der seine Kinder frisst

I. L. Callis nimmt ihre Leser und Leserinnen mit auf die Reise in das Berlin des Jahres 1927. Nach dem verloreneren, blutigen Weltkrieg ist die Bevölkerung sehr jung, Arbeit gibt es kaum und jeder schlägt sich mit ein paar Groschen irgendwie durch. Es ist die Geschichte von dreckigen Hinterhöfen, Engelmacherinnen, Schlafburschen und Bettwanzen auf der einen Seite - während auf der anderen Seite die mondäne Bevölkerung das Leben feiert. Hier lernen wir die beiden Frauen Anaïs und Josefine kennen. Eigentlich könnten sie nicht unterschiedlicher sein, die eine wuchs reich und behütet auf, die andere kennt Not und Armut zur Genüge. Beide haben aber den Traum etwas Großes aus ihrem Leben zu machen.

Das Leben beider Frauen wird vom "Ripper von Berlin" überschattet. Anaïs beschäftigt sich dienstlich mit ihm, muss sie doch mit seinen Morden die dringend benötigte Schlagzeile für ihre Zeitung liefern. Josefine wird ihn auf andere Weise kennen lernen. Callis beschreibt hier sensibel die Zerrissenheit der angehenden Journalistin: Einerseits der Wunsch, in einer Männerwelt bestehen zu wollen, andererseits die Abneigung gegenüber solch marktschreierischen Methoden. Anaïs zeigt aber noch eine Besonderheit auf, die für eine junge Frau der damaligen Zeit mehr als untypisch ist. Sie ist Hobbyboxerin und dabei ist dieser - undamenhafte - Sport den Frauen der damaligen Zeit verboten.  Nur in einer Verkleidung kann sie ihrem Hobby nachgehen und darf auch gar nicht darüber nachdenken, was denn passieren würde, käme man ihr auf die Schliche.

Sehr viel Milieu - etwas wenig Krimi

In diese widersprüchliche Zeit hat Callis den "Ripper von Berlin" eingebunden, der getreu seinem Londoner Vorbild Prostituierte ermordet und bestialisch präsentiert. Von diesem Plot ist aber für meinen Geschmack sehr wenig zu finden. Der erste Mord wird zwar noch ausführlich "behandelt" - sofern aber noch andere auftauchen sollten, habe ich davon recht wenig bemerkt. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass die "Ripper"-Geschichte nur das Bindeglied zwischen den einzelnen Schicksalen, die im Roman erzählt werden, bildet. Generell ist das gut gelungen und auch so spannend, aber wenn eine Geschichte als Kriminalroman verkauft wird, würde ich mir etwas mehr Krimi wünschen. Immerhin wird der "Ripper von Berlin" - anders als der von London - zum Schluss offenbart und hier muss ich der Autorin eine kreative und spannende Lösung bescheinigen.

Der eigentliche "Krimi" des Romans ist meiner Einschätzung nach die Berliner Gesellschaft und natürlich damit auch das Erstarken der Nationalsozialisten. Nebenher erfährt der/die Leser*in von vielen kleinen Verbrechen und Vergehen, die aber seinerzeit offensichtlich kaum jemanden dazu brachten, auch nur die Augenbraue zu heben.

Schön erzählt wird von Berliner Originalen und "stolzen Proleten". Interessant zu lesen ist auch der Vergleich zwischen den beiden Frauen Josefine und Anaïs und ihrer Unterschiede, die eigentlich nur dadurch begründet wurden, dass die eine von beiden in einer Familie mit genügend Geld aufwuchs und die andere buchstäblich nichts hatte - außer ihren großen Träumen.

Fazit

I. L. Callis präsentiert mit ihrem neuen Roman ein zwiespältiges und vernarbtes Gesicht der aufstrebenden Metropole Berlin. Sie schildert das so spannend, dass man doch fast den "Ripper aus Berlin" vergessen möchte. Eine Rolle spielt er dann tatsächlich auch - aber die Hauptrolle ist es dann nicht.

Doch das Messer sieht man nicht

I.L. Callis, Emons

Doch das Messer sieht man nicht

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