Der flüsternde Abgrund

  • Suhrkamp
  • Erschienen: November 2023
  • 1
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Brigitte Grahl
70°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2024

Im Dickicht der Geheimnisse.

Investigativ Journalist Callum Haffenden kehrt nach 30 Jahren zurück in seinen Heimatort Granite Creek. Eine Kleinstadt nah am australischen Regenwald, in der eine düsterer Mythos kursiert: Die Stimmen ermordeter indigener Kinder locken Menschen in die Granitfelsen und in den Abgrund. Als Jugendlicher ist auch Callum dort hinuntergestürzt. An die Ereignisse des Tages kann er sich nicht mehr erinnern. Ihm wurde ein Bein amputiert und Amelie Wyatt, die Schwester seiner Freundin, ist seitdem verschwunden. Jetzt wird wieder jemand aus der Familie der Wyatts in den Granitfelsen vermisst. Callum kommt aus sehr persönlichen Gründen zurück. Seine Nachforschungen über das was damals wirklich geschah und was aktuell passiert ist, kommt nicht gut an. Denn Callum deckt gut gehütete Geheimnisse auf, und er fängt an, sich zu erinnern.

„Der flüsternde Abgrund“: Die Natur als Spiegel seiner menschlichen Bewohner

„Das Sonnenlicht hatte es den ganzen Tag nicht durch die grauen Wolken geschafft, aber hier unter dem dichten Blätterdach ahnte man nicht einmal, dass Tag war. …Überall Bäume. Farne und Ranken griffen nach ihm wie lange Finger. …Grün. Überall, wo er hinsah, immer nur grün. Alles sah gleich aus.“

Veronica Landos Roman beeindruckt mit viel Atmosphäre. Der Regenwald ist ein eigener Charakter und steht symbolisch für die Stimmung und die Ereignisse in der Stadt. Es ist stickig und heiß, es regnet ständig, ein Sturm braut sich zusammen und wer ein paar Schritte in das Dickicht geht, kann sich schnell verlaufen und dabei umkommen.

Dazu kommt die Legende, dass die Felsen flüstern und in den Tod locken. Dafür gibt es eine wissenschaftliche Erklärung, aber die Autorin spielt mit der Möglichkeit, dass vielleicht doch etwas Übersinnliches durch die Landschaft spukt. Die Paranoia und die Panik, die sich im Regenwald einstellt, überträgt sich auch auf den Leser und den Protagonisten und erzeugt Spannung.

„Der flüsternde Abgrund“: Granite Creek ist ein Dickicht voller Geheimnisse

„Sie sollten wissen, Mr. Haffenden, dass man im Ort der Meinung ist, sie sollten hier nicht herumschnüffeln. In kleinen Städten halten die Leute zusammen, schützen sich gegenseitig.“

So undurchdringlich wie der Regenwald, ist auch das Geflecht der Beziehungen in Granite Creek und die Geheimnisse, die mit dem Mantel des Schweigens bedeckt werden. Callums wühlt sozusagen in der schmutzigen Wäsche der Bewohner und macht sich dadurch schnell unbeliebt. Es ist nur folgerichtig, dass er mehr oder weniger deutlich aufgefordert wird, wieder zu verschwinden. Dass Callum selbst Geheimnisse hütet, die nicht ans Licht sollen, macht es nicht leichter, die Wahrheit zu finden.

„Der flüsternde Abgrund“: Eine Handlung voller falscher Fährten und Überraschungen

Der Erzähler gibt seine Sicht der Dinge an die Leser weiter und die ist anfangs sehr schwarz-weiß gefärbt. Dass Callums Sichtweise nicht unbedingt verlässlich ist, wird im Laufe der Geschichte klar, wenn neue Informationen ihn und die Leser immer wieder dazu zwingen, die heutigen und damaligen Geschehnisse umzudeuten und infrage zu stellen.

Der Protagonist deckt nicht nur fremde Geheimnisse auf, sondern auch seine eigenen, die er dem Leser vorenthält beziehungsweise an die er sich nur stückweise wieder erinnert. Dadurch baut Veronica Lando die Spannung geschickt auf und sorgt immer wieder für Überraschungsmomente.

Dreh- und Angelpunkt ist die Familie Wyatt, mit der Callum ein kompliziertes Beziehungsgeflecht verbindet. Die Entwirrung nimmt einen großen Teil der Handlung ein, neben dem eigentlichen Kriminalfall. Die finale Auflösung ist schlüssig und logisch und birgt immer noch eine Überraschung.

„Der flüsternde Abgrund“: Logisch durchkonstruiertes Debüt

Veronica Lando überzeugte mit ihrem Manuskriptentwurf zu „Der flüsternde Abgrund“ so sehr, dass ein Verlag das Buch herausbringen wollte. Ihr Debutroman erhielt sehr gute Kritiken. Inzwischen ist bereits das zweite Buch erschienen, am dritten arbeitet sie gerade. Ihre Arbeitsweise hat sie in einem Interview als sehr strukturiert beschrieben: Sie entwirft die Handlung vor dem Schreiben Szene für Szene am Reißbrett. Dadurch wirken die Wendungen zum Teil sehr konstruiert, aber die Handlung bleibt mit all ihren Strängen und der Auflösung logisch und nachvollziehbar, auch wenn ein oder zwei Elemente am Ende etwas vernachlässigt werden, wie das übersinnliche Moment, das sie gerade am Anfang einsetzt.

Fazit

Der Flüsternde Abgrund ist ein raffiniert konstruierter Krimi mit vielen überraschenden Wendungen. Ein Krimi mit viel Familiendrama, sehr viel Atmosphäre und einer Prise Mystik.

Der flüsternde Abgrund

Veronica Lando, Suhrkamp

Der flüsternde Abgrund

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