Dunkle Stunden

  • Kampa
  • Erschienen: August 2023
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Dunkle Stunden
Dunkle Stunden
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2023

Kampf gegen Verbrechen und Gleichgültigkeit

Detective Renée Ballard ist weiterhin für die Polizei der kalifornischen Metropole Los Angeles tätig, obwohl sie aufgrund interner Dienstintrigen quasi degradiert wurde und die Mordkommission verlassen musste. Nun verfolgt sie eher banale Verbrecher und fühlt sich unterfordert. Ballard will wieder ‚richtige‘ Fälle lösen, und aufgrund der allgemeinen Überlastung einer ohnehin unterbesetzten Polizei kann sie sich einen Mordfall ‚angeln‘.

In der Silvesternacht wurde der Besitzer einer kleinen Werkstatt erschossen. Ballard recherchiert, dass Javier Raffa in seiner Jugend Mitglied einer lokalen Gang war. Die Tatwaffe wurde vor Jahren schon einmal bei einem Mord eingesetzt, der nie geklärt werden konnte. Ballard kennt den damals zuständigen Beamten gut: Harry Bosch wurde zwar inzwischen endgültig pensioniert, ist aber privat weiterhin mit der Aufklärung ‚kalter‘ Fälle beschäftigt. Erwartungsgemäß will er sich an der Ermittlung beteiligen. Ballard schätzt die Erfahrung des alten Polizisten, fürchtet allerdings dessen gewagte Interpretation bestehender Gesetze.

Parallel zu diesem Fall muss sich Ballard um zwei Serienvergewaltiger kümmern, die jeweils an Feiertagen zuschlagen. Die „Midnight Men“ würden in den Medien für unliebsame Aufmerksamkeit sorgen, weshalb enormer Aufklärungsdruck herrscht und von „oben“ weitergegeben wird. Ballard versucht beiden Fällen gerecht zu werden und dabei ihre fordernden Vorgesetzten sowie aufgeschreckte und gewalttätig in den Startlöchern stehende Kapitalkriminelle unter Kontrolle zu behalten ...

Die Gerechtigkeit in Zeiten des Gegenwinds

Grundsätzlich sollte die Arbeit der Polizei darin bestehen, Verbrechen aufzuklären und Täter aus dem Verkehr zu ziehen. Doch (nicht nur) in der (literarischen) Realität sieht es anders aus. Michael Connelly mag es dramatisch auf die Spitze treiben, aber er macht deutlich, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt in der modernen Gesellschaft. Die von ihm geschilderte Polizei ist eine Institution unter Druck, den sie sich zum Teil selbst zuzuschreiben hat. Effizienz wurde lange mit Hilfe amtlich legitimierter bzw. gedeckter Gewalt gleichgesetzt, doch nach einigen tödlichen ‚Zwischenfällen‘ zu viel ist es vorbei mit der halboffiziellen Duldung.

Die Polizei von Los Angeles gilt ohnehin als Hort rassistischer ‚Ordnungshüter‘ und steht im Fokus weniger in der Sache interessierter, sondern aufgrund sicherer Aufmerksamkeit motivierter Gruppen aus Politik, Justiz und Medien. Gleichzeitig werden der Behörde die Mittel gekürzt. Die Polizei ist überarbeitet und unterbesetzt. Hinzu kommt intern eine allgemeine Verunsicherung: Wer sind wir, wofür stehen wir, und wieso sollen wir uns anstrengen, wenn man uns kritisiert und hasst? Viele Beamte haben sich innerlich von ihrem Job verabschiedet.

Dass in Los Angeles zum Zeitpunkt der Handlung die Covid-19-Pandemie ihren Höhepunkt erreicht, ist das traurige Tüpfelchen auf dem I. Seit einem Jahr herrscht der Ausnahmezustand. Das Alltagsleben wird durch Masken und die Angst vor einer Ansteckung geprägt, über deren Folgen Unklarheit herrscht. Renée Ballard ist vorsichtig, muss aber damit leben, dass viele Kollegen jegliche Vorsorge ignorieren, weil sie nicht an eine Seuche glauben (wollen).

Du brauchst eine Mission!

Dieser Hintergrund ist jederzeit handlungsrelevant für diesen vierten Band der Renée-Ballard-Serie, denn die daraus resultierenden Probleme und Entscheidungen beeinflussen bzw. beeinträchtigen die Ermittlungen. Connelly ist mit den Jahren immer kritischer geworden, wobei er politisch nicht unbedingt liberale Ansichten teilt. Die Polizei von Los Angeles liegt ihm trotz eindeutiger (und vom Autor zumindest andeutungsweise zugegebener) Missstände am Herzen. Echte Reformen sind notwendig, aber Connelly sieht sie nicht, sondern registriert nur kurzfristige, auf Öffentlichkeitswirkung gerichtetes Flickwerk.

Die Polizei wird kaputtgespart, verächtlich gemacht und ist überfordert. Damit ist die kriminalistische Arbeit in Gefahr; in „Dunkle Stunden“ wird dies ständig thematisiert. Für Connelly sind die Leidtragenden jene Ermittler, die ihre Arbeit tun wollen, aber durch das System ausgebremst werden. Renée Ballard muss viel Zeit dafür aufwenden, ihren Arbeitselan so zu rechtfertigen, dass sie für ihren Eifer nicht ‚bestraft‘ wird. Sie zählt keine Dienststunden, wenn sie sich in einen Fall verbissen hat. Besagtes System dankt es ihr nicht, sondern wirft ihr ständig Knüppel in Gestalt realitätsferner Vorschriften - so sieht es Connelly - zwischen die Beine.

Faktisch mag Ballard Mitglied einer kopfstarken und energischen Gemeinschaft sein. Doch interne Machtkämpfe und Streitigkeiten zwischen Kollegen haben sie resignieren und sich eine Nische suchen lassen. Am liebsten arbeitet Ballard allein, d. h. ohne Aufsicht von „oben“. Connelly projiziert ursprüngliche Polizeiwerte auf seine Hauptfigur. Ballard ist typusgerecht privat einsam, mit ihrem ebenso verhassten wie geliebten Job verheiratet, liegt ständig im Clinch mit Vorgesetzten und Kollegen, die eine möglichst ruhige Kugel schieben und bis zur Pensionierung nicht auffallen wollen.

Wenn man weiß, wie es geht ...

Dabei ist klassische Polizeiarbeit weiterhin der Schlüssel für eine Gesellschaft im Gleichgewicht. Ballard wendet an, was sie gelernt und erfahren hat. Connelly beschreibt eigentlich langweilige, weil immer wieder in Sackgassen endende Befragungen und Indiziensuchen, fruchtlose Verhöre und andere frustrierende Ofenschüsse. Doch er versteht diese Bemühungen so darzustellen, dass sich der dahinter steckende Sinn erschließt: Ob eine Information ohne Wert ist, wird sich entscheiden. Erst einmal gilt es jedes Detail zu sichern.

Ohne dass Ballard ständig in Schießereien oder ähnliche Action-Sequenzen verwickelt ist, mit denen faule Autoren ihre Geschichten vorantreiben, verdichtet sich nach und nach ein Gesamtbild der begangenen Taten, das dann die Täter enthüllt. Connelly mag ein wenig zu fleißig veröffentlichen; seine Romane lassen Mechanismen einer allzu routinierten Plotentwicklung erkennen. Nichtsdestotrotz beherrscht er seinen Stoff. Zwei Fallgeschichten, die realistisch, d. h. recht simpel aufgelöst werden, gewinnen vor der Kulisse einer an Dramatik zunehmenden (und final ein wenig zu obligatorisch auf die Spitze getriebenen) Rahmenhandlung an Relevanz: Hier operiert kein ‚freier‘ Ermittler. Ballard agiert quasi mit einer auf den Rücken gebundenen Hand.

Die Frage bleibt, ob sie dabei die Unterstützung von Harry Bosch benötigt. Dieser ist Hauptfigur einer eigenen Reihe, die inzwischen mehr als zwanzig Bände zählt, und das prominenteste Mitglied des „Connellyversums“: Sämtliche Figuren des Verfassers agieren in einer gemeinsamen Gegenwart. Sie können sich begegnen, was oft geschieht, wobei der Primärzweck eher in der Befriedigung jener Leser zu liegen scheint, die solche „Crossover“-Momente schätzen. „Dunkle Stunden“ könnte von Renée Ballard solo getragen werden. Harry Bosch spult hier bekannte Routinen ab. Seine Handlungsrelevanz wirkt erzwungen.

Fazit

Zum vierten Mal kämpft Detective Renée Ballard Connelly-typisch sowohl gegen ein verkrustetes System als auch das Verbrechen. Viel Routine fließt in eine Story ein, die dennoch (oder gerade deshalb) zügig voranschreitet, ohne sich in den heutzutage allzu präsenten Seifenoper-Elementen zu verlieren: keine Offenbarung (mehr), aber lesenswert.

Dunkle Stunden

Michael Connelly, Kampa

Dunkle Stunden

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