EAST - Welt ohne Seele

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  • Erschienen: November 2022
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EAST - Welt ohne Seele
EAST - Welt ohne Seele
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2023

Agenten im Orientierungsstress

Auf der Schwelle zum Millennium steht die Welt vor einem epochalen Umbruch. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist das kommunistische Kartenhaus endgültig zusammengebrochen. In den Trümmern der Diktatur versuchen sich die Überlebenden des Systems mit dem über sie hereinbrechenden Westen zu arrangieren. Parallel dazu greifen ehrgeizige und skrupellose Krisengewinnler nach Macht und Geld. Zur großen Schnittmenge wird das organisierte Verbrechen, das in diesem Durcheinander aufblüht und Regierung, Justiz, Wirtschaft und Militär unterwandert.

Die komplette Auflösung des „Ostblocks“ hat auch die westlichen Geheimdienste überrascht. Hektisch versucht man den Anschluss zu wahren und nicht von den neuen Machtkonstellationen abgehängt zu werden. Man reaktiviert notgedrungen sogar faktisch ausgemusterte Agenten wie Jan Jordi Kazanski. Der im Dienst ausgebrannte CIA-Mann wird ins polnische Krakau geschickt, um sich nach dem Verbleib einer plötzlich schweigsamen Informantin zu erkundigen, die man die „Witwe“ nennt.

Kaum ist Kazanski eingetroffen, entkommt er knapp einem Bombenanschlag. Weitere Mordattacken folgen, ohne dass er seinem Ziel näher kommt. Außerdem argwöhnt Kazanski zu Recht, dass die hübsche ‚Handlungsreisende‘ Xenia Pilot Larsen, die er im Hotel kennen- und schätzen lernte, ebenfalls eine Agentin ist. Man bildet eine Notgemeinschaft und kommt der „Witwe“ wirklich näher, denn diese hat sich offenbar mit einem Coup übernommen und benötigt Hilfe - oder Sündenböcke, die ihre Köpfe hinhalten, was die Situation weiter verkompliziert …

Kalt erwischt vom Ende des Kalten Kriegs

Nachdem Jens Henrik Jensen mit seiner Serie über den ehemaligen Elitesoldaten Niels Oxen, der immer wieder in Verschwörungen verwickelt wird, sich aber seiner Haut zu wehren weiß, auch hierzulande hohe Auflagen erzielte, greifen die Verlage mangels Nachschubs auf ältere Werke zurück. Die „Kazanski“-Trilogie entstand zwischen 1997 und 2002, was sie einerseits ein wenig altmodisch wirken lässt, während andererseits eine noch junge Vergangenheit auflebt, die ungeachtet ihrer Turbulenzen bereits in Vergessenheit zu geraten beginnt: Sie wurde von einer Gegenwart ausgelöscht, die man sich so nicht hatte vorstellen können (und wollen).

Aus der ehemaligen Sowjetunion ist ein Russland geworden, das den diktatorischen Vorgängerstaat in den Schatten stellt. Falls jemand gehofft haben sollte, dass sich der ehemalige Ostblock in den Westen integriert, wurde dies als naiver Fehlschluss entlarvt. Die einst zweigeteilte Welt ist nach 1991 in ein Bündel schwer einzuschätzender Kontrahenten zerfallen, Aufstände und Kriege toben unkontrolliert; immer wieder werden Geheimdienste und ‚Friedenstruppen‘ düpiert.

Wieso es so kommen musste, wird deutlich, wenn man liest, was Jensen einst erstaunlich weitsichtig schrieb. Der Untergang eines Regimes bedeutet keineswegs den Sieg der Vernunft. Jensen beschreibt eine aus den Fugen geratene Welt, die sich von einem scheinbar zementierten Ost-gegen-West-Status-Quo in einen Malstrom verwandelt hat. Werte und Ankerpunkte haben sich aufgelöst, zwischen den beutehungrigen Banden stehen die westlichen Geheimdienste, müssen sich behaupten und neu definieren.

Mitschwimmen statt untergehen

Mittendrin treibt Jan Jordi Kazanski, der genretypisch antiheldisch angeschlagen ist, unter dem Verlust seiner Familie leidet, säuft und deshalb nach Krakau geschickt wird, weil er entbehrlich ist. Die Erkenntnis wiegt schwer, aber ebenfalls genretypisch lebt Kazanski in der Krise auf und beschließt seinen Auftrag zu erfüllen, obwohl dieser seinen Sinn verliert. Die „Witwe“ prüft ihre Alternativen, ihre Kontakte zur CIA sind nur noch eine Option unter vielen. Die lokale Unterwelt reagiert wesentlich geschmeidiger auf die Herausforderung, während die Geheimdienste des Westens in erstarrten Denk- und Verhaltensmustern gefangen sind.

In dieser „Welt ohne Seele“ spielt sich ein vom Verfasser spannend auf die Spitze getriebenes Ränkespiel ab. Ist es authentisch? Sicherlich nicht, doch nur Puristen (und John-Le-Carré-Aficionados) dürften dies monieren. Für den ‚Normalleser‘, der nicht sachlich kongruente, sondern plausibel wirkende Fakten-Unterstützung verlangt, bietet „Welt ohne Seele“ zufriedenstellendes Lesefutter. Das Tempo ist hoch, und die Handlung schlägt immer wieder Haken, wobei sie nur manchmal ins Schliddern gerät, weil Jensen den Zufall ein wenig zu sehr bemüht. Pläne ändern sich oder schlagen katastrophal fehl, was wir, die wir einer ganzen Kette schmerz- und leichenreicher Desaster gemütlich im Lesesessel folgen, im Gegensatz zu den malträtierten Figuren vergnüglich finden.

Jensen verinnerlicht das Credo des ‚unterhaltenden‘ Thriller-Autors, der sich nicht gar zu sehr an historische, politische oder psychologische Hintergründe klammert. Längen weist das Geschehen nicht auf; stets ereignet sich etwas Unerwartetes, oder Jensen blendet auf einen anderen Schauplatz um, wo sich ebenfalls Interessantes ereignet, das nach und nach in den zentralen Handlungsstrang integriert wird.

Die Nebensächlichkeit des Auslösers

Allmählich lichtet sich das Dunkel, tritt die eigentliche Story hervor. Selbstverständlich spielen sämtliche Beteiligten falsch. Im Hintergrund steht die thrillertypische Bedrohung des Weltfriedens durch eine James-Bond-gruselige Kriegstechnologie, die in falsche Hände zu geraten droht. Jensen gelingt ein weiterer Treffer, indem er Terroristen aus dem Nahen Osten einführt, aber auch die Not plötzlich ‚arbeitsloser‘ Geheimdienstler, Militärwissenschaftler und Elitesoldaten thematisiert, die sich in ihrer ins Schwimmen geratenen Welt als zukünftige Schurken positionieren.

Selbstverständlich vergisst der Verfasser nicht die westlichen Regierungen bzw. Geheimdienste, die nur theoretisch die ‚Guten‘ im „Großen Spiel“ der heimlichen Weltpolitik darstellen. Jensen erinnert an CIA-Skandale und das Versagen des Westens, der schon vor dem Zusammenbruch des „Ostblocks“ immer wieder von gegnerischen „Maulwürfen“ unterwandert wurde. Der Autor unterscheidet nicht wirklich zwischen den Geheimdiensten dieser Welt, in denen er karrieresüchtige oder offen kriminelle Mitglieder verortet, die nicht ihren Bürgern, sondern obskuren Visionen oder der eigenen Brieftasche verpflichtet sind.

In diesem Durcheinander wirft ein Außenseiter wie Jan Jordi Kazanski sowohl seinen scheinbar übermächtigen Gegnern als auch den ‚Verbündeten‘ Sand ins Getriebe solcher Machenschaften. Er hat nichts mehr zu verlieren und ist gerade deshalb unberechenbar. Um auch weibliche Leser zu locken, stellt Jensen seinem Anti-Helden eine relativ interessante Frau zur Seite, die nahtlos zwischen den Rollen Gegnerin - Verbündete - Geliebte wechselt. Um diesen Aspekt auszubauen, kommt zusätzlich eine schwer- bzw. mental wankelmütige Nebenbuhlerin ins Spiel, was Jensen mehrfach Gelegenheit gibt zu beweisen, dass auch er die Kunst der genretypischen = peinlichen Sexszene beherrscht. Hinzu gesellt sich eine aus der Klischeebox gefischte, aber gut eingesetzte Schar einschlägiger Ost-Söldner und West-Schlipsschurken, die „Welt ohne Seele“ als konventionelles, aber schmackhaftes Lesefutter abrunden.

Fazit

Schon angejahrter, aber schwungvoll erzählter Thriller, der geheimdienstliche Umtriebe vor dem Hintergrund der Brutal-Kapitalisierung des einstigen Ostblocks thematisiert: der Spannung mehr als der (historischen) Realität verpflichtet und anspruchslos unterhaltsam.

EAST - Welt ohne Seele

Jens Henrik Jensen, dtv

EAST - Welt ohne Seele

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