Refugium

  • dtv
  • Erschienen: Juli 2023
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Refugium
Refugium
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Thomas Gisbertz
72°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2023

Ein guter Thriller, der aber mehr verspricht, als er halten kann.

Ganz Schweden feiert Mittsommer. Ein scheinbar perfekter Tag. Olof Helander, der seinen Reichtum dem Handel mit Emissionsrechte und CO2-Zertifikaten verdankt, begeht die Sommersonnenwende ausgelassen mit seiner Familie, Freunden und Geschäftskollegen auf seinem Anwesen in den Stockholmer Schären. Doch plötzlich taucht ein Boot mit zwei Männern auf, die mit ihren automatischen Waffen das Feuer auf die Anwesenden eröffnen und ein unvorstellbares Massaker anrichten. Nur durch Zufall gelingt es Helanders Tochter Astrid, sich in Sicherheit zu bringen. Sie ist die einzige, die den Anschlag überlebt. Die Ex-Kommissarin und erfolgreiche Krimiautorin Julia Malmros und der Cracker Kim Ribbing sind als erste am Tatort. Geimeinsam wollen sie herausfinden, wer hinter dem Attentat steckt. Während Ribbing seine Fähigkeiten nutzt, indem er sich zunächst im Internet auf die Suche nach den Täter macht und anschließend deren Spur von Schweden über China bis nach Kuba folgt, nutzt Julia Malmros vor Ort ihre Kontakte zur Kriminalpolizei. Ausgerechnet ihr Ex-Mann Johnny Munther ist nämlich mit den Ermittlungen betraut. Doch wer steckt hinter den Attentätern und wer zieht im Hintergrund die Fäden?

Auftakt der „Stormland-Trilogie“

In Schweden hat Autor John Ajvide Lindqvist längst Kultstatus. Seine Romane und Kurzgeschichten wurden in 31 Sprachen übersetzt, vielfach ausgezeichnet (u.a. mit dem Selma-Lagerlöf-Preis) und von Hollywood verfilmt. Der „schwedische Stephen King“ (Dagens Nyheter) begann seine Karriere als TV-Stand-up-Comedian und widmet sich seit einigen Jahren ganz dem Schreiben von Horror- und Mysteryromanen.

Auf die Idee zu seinem ersten Kriminalroman kam Lindqvist auf ungewöhnliche Weise. Nachdem Autor David Lagercrantz zunächst die „Millennium-Trilogie“ von Stieg Larsson fortgesetzt hatte, suchte der Verlag nach dem insgesamt sechsten Band der Reihe einen Nachfolger für ihn. Auch Lindqvist wurde gefragt, ob er sich zutraue, den siebten Band zu schrieben. Auch wenn ihm die Arbeit an diesem Projekt, wie er selber sagt, große Freude bereitet habe, wurde sein Manuskript abgelehnt. Man störte sich vor allem an der Handlung, aber auch am sexuellen Inhalt und am Humor.

Parallelen zur „Millennium-Trilogie“

Lindqvist war aber von seinem Roman überzeugt, so dass er begann, seine Geschichte umzuschreiben, indem er statt Lisbeth Salander und Mickael Blomkvist neue Figuren entwickelte, um kein Plagiat zu begehen. Dennoch mussten seine Protagonisten ihnen ähneln, damit die Geschichte auch weiterhin funktionierte. Kurzerhand tauschte er die Geschlechter und so entstanden eine ca. 50-jährige ehemalige Polizistin und erfolgreiche Krimiautorin, die viele Gemeinsamkeiten mit Blomkvist aufweist, sowie ein deutlich jüngerer, durch Misshandlungen schwer traumatisierter Computerspezialist, der über einen unfassbaren Reichtum verfügt und sich wie Salander mit der dunklen Seite des Internets beschäftigt. Besonders diese Figur gibt dem Roman Tiefe und zeigt in eindringlichen Bildern das Gesicht einer verletzten Seele, deren dunkle Vergangenheit bis heute körperlich wie psychisch Narben hinterlassen hat.

Der Roman besitzt aber noch eine weitere Metaebene. So lässt Lindqvist seine Protagonistin Julia Malmros das durchleben, was ihm selber widerfahren ist: Sie soll den neuen Millennium-Roman schreiben, ihr Entwurf „Stormland“ wird aber abgelehnt und sie stellt Überlegungen an, was sie mit dem Manuskript machen soll.

Kein neuer Larsson

Wenn man „Refugium“ liest, stellt man aufgrund der genannten Vorgeschichte unweigerlich Vergleiche mit dem Original an. Trotz zahlreicher Parallelen zu den Larsson-Romane erreicht die Geschichte Lindqvists bei Weitem nicht deren Klasse. Sein Schreibstil - der wohl auch die Lektorin des Verlages nicht überzeugen konnte - ist ein ganz anderer als der Stieg Larssons, so dass der Roman seinen ganz eigenen Sound bekommt. Vereinzelt wirkt „Refugium“ sogar eher wie eine satirische Abrechnung. Wer das erfolgreiche Original nicht kennt oder die zahlreichen Bezüge ausblendet, der wird einen unterhaltsamen Thriller zu lesen bekommen, der aber nicht unbedingt mit großem Nervenkitzel überzeugt. Zahlreiche Zufälle, fast schon slapstickartige Verfolgungsjagden und mitunter absurde Ideen sorgen zwar für manchen Lacher, aber nicht unbedingt für Spannung. Dem gegenüber stehen aber auch bewegende, zu tiefst traurige Momente, die unter die Haut gehen. Die Balance von humor- und schmerzvollen Szenen gelingt Lundqvist aber leider nicht in angemessener Weise. Diese Unausgewogenheit zieht sich durch den gesamten Roman.

So wirkt auch die Darstellung der Protagonisten insgesamt übertrieben, ihr Zusammenspiel vereinzelt wie in einer amerikanischen Sitcom-Serie. Dagegen ist grundsätzlich auch gar nichts einzuwenden, aber der Roman wird damit dem eigenen Anspruch und dem brisanten, hochaktuellen Thema nicht gerecht.

Fazit

Der Auftakt der „großen Spannungstrilogie“, wie „Refugium“ angekündigt wurde, schafft es noch nicht, den hohen Erwartungen gerecht zu werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Folgebände der Reihe sich mehr vom Original lösen und statt auf Humor und Skurrilität den Fokus mehr auf Nervenkitzel und Spannung legen. So ist „Refugium“ ein solider Thriller, der besonders wegen der Figur des Crackers Kim Ribbing durchaus lesenswert ist.

Refugium

John Ajvide Lindqvist, dtv

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