Dandys, Diebe, Delinquenten

  • Elsengold
  • Erschienen: September 2022
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Michael Drewniok
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2023

Glanz und Elend verblichener Verbrecher-‚Helden

Heutzutage fällt es schwer zu glauben, dass Berlin nicht seit jeher die Hauptstadt Deutschlands gewesen ist. Tatsächlich bewahrte sich Berlin bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts den Charme einer Kleinstadt. Erst das moderne deutsche Kaiserreich und sein geltungssüchtiges Oberhaupt Wilhelm II. sowie eine industrielle Revolution, die in der Stadt wurzelte und jene, die nicht nur Arbeit suchten, sondern sich ein besseres Leben wünschten, in Scharen dorthin lockte, sorgte dafür, dass Berlin in nur wenigen Jahrzehnten zu einer der bevölkerungsreichsten Metropolen der Welt wurde.

Die Infrastruktur war dieser Explosion eben sowenig gewachsen wie ein politisches und soziales System, das auf Ausbeutung und Gleichgültigkeit gegenüber denen basierte, die dem rasanten Verschleiß eines nicht abgesicherten Arbeits- und Alltagslebens zum Opfer fielen. Rasch wuchsen die Elendsviertel, in denen hauste und starb, wer dem modernen Überlebenskampf nicht gewachsen war. Erwartungsgemäß ging dies mit einem sprunghaften Anwachsen der Kriminalität einher.

Verfolgung und Strafe sollten eine als zu kostspielig abgelehnte Verbesserung der Missstände ersetzen. Doch die Polizei war durch die Großstadt-Moderne ebenfalls überfordert. Dies sorgte in den Jahren ab 1890 für eine Grauzone, in der sich das Verbrechen ausbreiten konnte. Der Erste Weltkrieg 1914-1918 und die sich anschließenden Wirren der Revolutions- und Inflationsjahre sorgten für einen weiteren ‚Innovationsschub‘ - das Milieu professionalisierte sich.

Parallel dazu nahmen Polizei und Justiz die Herausforderung an. Moderne Methoden der Spurensicherung und optimierte Sicherheitsmaßnahmen wurden mit krimineller Intelligenz sowie zunehmender Brutalisierung beantwortet: Das Verbrechen rüstete buchstäblich auf. Mehr oder weniger gut organisierte Übergriffe unter Einsatz der modernen Technik nahmen zu. Das Automobil gewann an Bedeutung, und nach dem Krieg war es leicht, an kaliberstarke Waffen zu kommen. Die Nazis sorgten ab 1933 für (Grabes-) Ruhe, indem sie nicht nur Juden u. a. regimelästige Minderheiten, sondern auch „chronische Verbrecher“ systematisch umbrachten.

Galerie zeitgenössischen Ganoventums

Damit ist der zeitliche und örtliche Rahmen abgesteckt, in dem sich diese Darstellung bewegt. 14 Straftäter stellt uns Autorin Bettina Müller vor, wobei sie das bereits weidlich abgegraste Feld ‚prominenter‘ Strolche vermeidet. Stattdessen konzentriert sie sich auf Täter, die heute meist in Vergessenheit geraten sind, obwohl sie in ihren ‚großen‘ Zeiten in den zeitgenössischen Massenmedien - die sich auf Zeitungen in heute allerdings unfasslicher Zahl und Erscheinungsfrequenz beschränkten - allgegenwärtig waren und quasi gefeiert wurden.

Schon damals war statthaft, was Auflagenhöhe generierte. Dies führte zu einer ‚Berichterstattung‘, die zwischen vorgeblicher Entrüstung und schwelgerischer Blutrünstigkeit kaum differenzierte. Dass objektiv unverbesserliche und oft gefährliche Verbrecher zu ‚Helden‘ stilisiert wurden, ist ein Phänomen, das Müller ausgiebig thematisiert. Ohnehin beschränkt sie sich nicht auf die Beschreibung begangener Straftaten, sondern verortet die Täter und ihre Verfolger in der zeitgenössischen Gesellschaft.

Natürlich wurden vor allem die ‚üblichen‘ Übeltaten begangen. Geldgier, Wut und Rache waren, sind und werden stets relevante Motive bleiben. Doch es gab eine Kriminalität, die auf die moderne, aber noch junge Großstadt quasi angewiesen war. Unter Berücksichtigung der historischen Ereignisse wird dies von der Autorin berücksichtigt und dargestellt - einerseits (positiv) unter Berücksichtigung (und Gewichtung) der Fakten, andererseits (weniger gelungen) durch romanhafte Beschreibung; eine Methode, die scheinbar untrennbar mit dem Genre „True Crime“ verbunden ist und deren Zweifelhaftigkeit (bzw. das beschränkte Talent der Autoren) enthüllt.

Gemüt und Grausamkeit

Auch Müller füllt historische Lücken erzählerisch. Quasi zwangsläufig führt dies zu einem wahren Schauer einschlägiger Klischees. Das zeitgenössische Berlin soll aufleben, gerinnt aber auch zu einem Panoptikum von „Typen“. Gerade „Alt-Berlin“ wird auf historischen Ebenen zur Bühne, und das Schauspiel wird gern mit bekannten ‚Fakten‘ unterfüttert. Dazu gehört das starre soziale Kastensystem einer Kaiserzeit, die Hochstapler im Stil des „Hauptmanns von Köpenick“ begünstigt, denen eine auf Frack, Uniform und Monokel ‚programmierte‘ Opferschar schafsgleich in die Falle geht.

Dem schließt sich die dramatisch zugespitzte Krisenzeit nach dem Ersten Weltkrieg an, dem die Not der galoppierenden Inflation folgt. Sie wird von einer trügerischen Phase scheinbarer Stabilisierung abgelöst, die ‚tatsächlich‘ nur ein „Tanz auf dem Vulkan“ ist, während die Nazis schon unter ihrem Stein tücken, unter dem sie nach der Weltwirtschaftskrise 1929 zum Vorschein kommen, um vier Jahre später buchstäblich die Macht zu ergreifen.

Hinzu kommen die erwähnten ‚Typen‘, exemplarisch betont durch unkonventionell knorrige und ‚gemütliche‘ Gesetzeshüter, die das „Milieu“ kennen und volkstümlich auf Gaunerjagd gehen, was sich in einer Art Kodex widerspiegelt, der u. a. dazu führt, dass sich Strolche widerstandslos ergeben, wenn ein mit allen Wassern gewaschener Ordnungshüter an ihre ‚Ehre‘ appelliert. Solche Charaktere sind einer Dramaturgie geschuldet, die sich aus den schon erwähnten Filmen, aber auch aus Zeitungsartikeln und (Auto-) Biografien von Zeitzeugen speisen, die der nüchternen Realität einen Schub in jene Richtung gaben, die von ihrem Publikum erwartet wurde.

Selten gegen den Strich gebürstete Fakten

Für die hier geschilderten Fallbeispiele zog die Autorin zeitgenössischen Akten heran. In einem ausführlichen Vorwort stellt sie ihren Ansatz dar, der über die ‚Karriere‘ der vorstellten Täter/innen hinausblickt - in beide Richtungen, also auf die Jahre vor dem Schritt in die Kriminalität, aber auch auf die Zeit nach erfolgter Verurteilung. Hier sind die Quellen eher schweigsam und rar. Sie müssen entdeckt und entschlüsselt werden, was Müller mehrfach gelang. Dies ermöglicht Täterbiografien, die über das Sensationelle hinausgehen, mit dem die Presse ihre Leser lockte.

Dennoch wirft die Wertung der dabei zutage geförderten Fakten Fragen auf. So sollte man berücksichtigen, dass diese Sammlung spektakulärer Verbrechen nicht wirklich repräsentativ ist. Waren „Dandys, Diebe, Delinquenten“ in Berlin tatsächlich Männer und Frauen, die quasi von Geburt an ‚anders‘ waren, deshalb kriminell wurden, mit dem ‚Erfolg‘ deutliche Zeichen von Größenwahn an den Tag legten und/oder dem Alkohol und den Drogen verfielen, dadurch dem Gesetz ins Netz gingen und meist rückfällig wurden, wenn sie nicht im Gefängnis starben oder von den Nazis umgebracht wurden?

Realhistorie und Täterbiografien werden psychologisch arg vereinfacht über einen Kamm geschoren. Dies ist nicht als Vorwurf, sonders als Hinweis gemeint. „Dandys, Diebe, Delinquenten“ ist kein Fachbuch und soll auch keines sein. Hier wird lokale Kriminalgeschichte unterhaltsam aufbereitet. Die Fakten wurden recherchiert und nicht ausschließlich aus Zeitungsartikeln oder Büchern übernommen. Obwohl das ‚kriminelle‘ Berlin der in den Fokus genommenen Ära ein Produkt nachträglicher Interpretation ist, sind die der Vergessenheit entrissenen Geschichten interessant - und dass wir es hier nicht mit ‚Helden‘, sondern notorischen Kriminellen zu tun haben, bringt die Verfasserin ebenfalls deutlich zur Sprache.

Fazit

Exemplarisch wird das Verbrechermilieu der Großstadt Berlin zwischen 1890 und 1933 beschrieben. Nicht nur die Täter und ihre Taten, sondern auch die Alltagsstrukturen, die solches Treiben provozierten, werden dargestellt, wobei die Interpretation die Realität manchmal zu sehr ‚kanalisiert‘: Interessanter Rückblick auf eine jüngere, aber bereits in Vergessenheit geratene Vergangenheit.

Dandys, Diebe, Delinquenten

Bettina Müller, Elsengold

Dandys, Diebe, Delinquenten

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