Die tausend Verbrechen des Ming Tsu

  • Suhrkamp
  • Erschienen: November 2022
  • 1
Die tausend Verbrechen des Ming Tsu
Die tausend Verbrechen des Ming Tsu
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2023

Gefährlicher Mann im Rache-Modus

1869 ist der US-amerikanische Westen tatsächlich noch wild. Gewaltige Territorien stellen quasi rechtsfreie Räume dar, in denen die Selbstjustiz über dem eigentlichen Gesetz steht. Mit Pferd und Wagen oder zu Fuß müssen gewaltige Entfernungen überbrückt werden, wobei die Strecken durch Wüsten, Gebirge oder endlose Prärien verlaufen, wo Banditen und feindselige Indianer lauern. Für Verbrecher ist das Leben riskant, aber es fällt leicht, sich den wenigen Ordnungshütern zu entziehen.

Die Eisenbahn wird bald Westen und Osten der jungen USA verbinden. Ihr Bau wird mit Hochdruck vorangetrieben. Für die harte, gefährliche Arbeit heuern die Gesellschaften gern chinesische Einwanderer an, die praktisch rechtlos sind, unterdrückt und ausgebeutet werden.

Ming Tsu ist ein Arbeitssklave. Er hat es gewagt eine weiße Frau zu heiraten. Ihr Vater ließ den ‚Schwiegersohn‘ von seinen Schergen beinahe totprügeln und anschließend verschleppen. Doch Ming will kein Opfer sein. Bevor er seine Ada freite, war er als Mitkiller überaus erfolgreich und aktiv gewesen. Deshalb beschließt er auszubrechen, sich an seinen Peinigern zu rächen und sie sämtlich umzubringen.

Auf diesem Feldzug trifft Ming Tsu neue Feinde, die er tot zurücklässt, aber auch recht seltsame Freunde wie den zukunftssichtigen „Propheten“ oder einen Wanderzirkus, dessen Mitglieder über bizarre Fähigkeiten verfügen. Langsam, aber unaufhaltsam nähert sich Ming dem Ziel seiner Reise, wo seine Gegner bereits ihre Falle vorbereitet haben …

Allein im Reich der tausend Möglichkeiten

Als „Thriller“ wird dieser Roman in seiner deutschen Fassung angepriesen. Wenn man den Begriff sehr weit fasst, mag er zutreffen. Mehrheitlich dürften sich Leser jedoch auf eine falsche Fährte gelockt fühlen. Die Geschichte dreht sich nicht um eine heimliche (politische) Verschwörung, die ein isolierter Einzelkämpfer im Namen der Gerechtigkeit zu bekämpfen versucht. Als Hauptfigur tritt ein Verbrecher auf, der für Geld tötet und dem dies völlig selbstverständlich von der Hand geht. Ming Tsu befolgt keinen Ehrenkodex oder hält sich an Regeln. Er will siegen = überleben, weshalb er kein Problem darin sieht seine Gegner zu übertölpeln.

Grundsätzlich macht Ming Tsu keine Gefangenen. Als „John“, wie die selbsternannten weißen ‚Herren‘ jeden männlichen Chinesen nennen, weil sie diese nur als gesichtslose Mitglieder einer verachteten ‚Rasse‘ betrachten, ist er den alltäglichen Rassismus ausgesetzt, der jederzeit in offene Gewalt und Mord ausarten kann. Dabei ist Ming - Autor Lin pflegt hier seinen literarischen Symbolismus - kein ‚echter‘ Chinese. Er wurde in den USA geboren und beherrscht die chinesische Sprache nicht, was ihn zusätzlich isoliert.

Mit denen, die in die Kategorie „Feind“ fallen, fackelt Ming nicht lange. Er tötet wie eine Maschine, wobei er sein Arbeitsinstrument - den Revolver - selbst dann sorgfältig pflegt, wenn er krank, hungrig oder verletzt ist. Als Erinnerung an die verhasste Eisenbahn und zusätzliche Waffe dient Ming ein Schwellennagel, den er rasiermesserscharf geschliffen hat. Er geht nicht ‚elegant‘, sondern entschlossen vor, überrumpelt seine Gegner, die in ihm den unterwürfigen Chinesen sehen und zu spät begreifen, dass Ming sich nicht fügen, sondern schießen wird.

Reise als (Alb-) Traum voller Schrecken und Wunder

Der US-Westen ist für Tom Lin ein mystisches Land. Er stützt sich auf historische Fakten, ignoriert diese jedoch problemlos, wenn er seine Vision in Worte fassen will. „Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ ist ein vergleichsweise kurzer Roman, weshalb die zahlreichen, sehr ausführlichen Landschaftsbeschreibungen auffallen. Sie schildern einerseits die Realität, spiegeln aber andererseits die beeindruckende Wucht eines Landes wider, in dem der Mensch buchstäblich verlorengehen kann.

Zwar dringt die ‚Zivilisation‘ immer weiter in Landesinnere vor, aber noch ist es ein Glücksspiel, die USA zu durchqueren. Ming friert, hungert, hat Durst, wird von feindseligen, aber zu Recht zornigen ‚Indianern‘ attackiert, die sich einem immer stärkeren Verdrängungsdruck ausgesetzt sehen, weil der weiße Mann rücksichtslos immer weiter vordringt. Dabei herrscht auch unter den ‚neuen‘ Amerikanern keine Solidarität. Ohne den Gesetzes- und Regeldruck der Alten Welt frönt man einem ungehemmten Kapitalismus, schert sich nicht um Arbeiterrechte oder -sicherheit oder gar Umweltschutz. Lin beschreibt, wie sich Minenstädte buchstäblich in den Boden fressen, die Natur zerstören und nur vergiftete, zerstörte Ödnis zurücklassen.

In diesen monumentalen Kulissen bleibt die ‚Realität‘ ebenfalls wandelbar. Nicht nur in den unerschlossenen Weiten stößt Ming auf Seltsames und Wunderbares. Er trifft auf Gestaltwandler, Zeitreisende, unsterbliche und zurückkehrende Seelen, ohne sich darüber wirklich zu wundern. Ming nimmt es hin, wie er sich überhaupt in ein Leben gefügt zu haben scheint, das von Gewalt bestimmt wird.

Odyssee mit zweifelhaftem Ziel

Doch Ming reist nicht plan- und hoffnungslos durch den Westen. Er ist auf einer Mission: Einmal schien sein Leben sich zum Besseren zu wenden. Er verliebte sich und heiratete - allerdings in eine ‚weiße‘ Frau, wofür er wie beschrieben büßen musste. Nun lebt Ming für die Rache an seinen Peinigern - und für den Traum, anschließend von seiner Ada in die Arme geschlossen zu werden, um das gemeinsame Leben fortzusetzen.

Es ist kein Spoiler, dass er sich in dieser Hinsicht auf dem berüchtigten Holzweg befindet. Autor Lin macht kein Geheimnis daraus, dass Ming selbst an einem Happy-End zweifelt. Doch nur sein Glaube an das zukünftige Glück gibt ihm die Kraft, lebensgefährliche Situationen und schwere Verletzungen zu überstehen. Mings Tragik liegt auch in seiner Unfähigkeit zum Ein- und Umlenken. Deshalb ist die Auflösung gleich der Moment der Erkenntnis. Mings Odyssee endet erwartungsgemäß fatal, aber konsequent.

Bis es soweit ist, sorgt Autor Lin dafür, dass eine Kette trauriger, tröstlicher und brutaler Ereignisse sich zu einer Geschichte fügt, die ihre Leser findet und fesselt. Hilfreich ist die gelungene Übersetzung einer Sprache, die simpel dort beschreibt, wo es erforderlich ist, sich aber - gern Elemente des „gotischen“ Horrors aufgreifend - lyrisch aufschwingt, wenn es gilt, den Westen zum Leben zu erwecken.

Fazit

Ob dieses Buch wirklich wie behauptet ein „Thriller“ ist, bleibt fraglich. Ungeachtet solchen Schubladendenkens erzählt Tom Lin eine dramatische, spannende, melancholische Geschichte, die der Wucht eines Landes, das seine Bewohner ‚füttert‘ oder ‚frisst‘, breiten Raum gibt.

Die tausend Verbrechen des Ming Tsu

Tom Lin, Suhrkamp

Die tausend Verbrechen des Ming Tsu

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