Die Geheimnisse der anderen

Lily Bradley ist eine von diesen "Vorzeige-Müttern", die ihr Leben und ihre Familie offensichtlich bestens im Griff hat. Alle wohnen sie in einem schönen Haus im Küstenstädtchen Story Cove an der Pazifikküste, die Kinder sind gut gelungen, die Ehe vorbildlich und Lily kann zudem auf eine erfolgreiche Karriere als Psychotherapeutin zurückblicken. Ein Leben wie im Bilderbuch. Es klingt alles fast zu schön um wahr zu sein. Doch dann beginnt ein Serienmörder sein Unwesen zu treiben. Die schöne, eigenwillige Künstlerin Arwen Harper wird tot aufgefunden und Lilys Mann gerät in den Fokus der polizeilichen Ermittlungen. Plötzlich zeigt sich, dass das was zu schön klang, um wahr zu sein, vielleicht gar nicht wahr ist.

Ich kenne dein Geheimnis

Es gibt Berufe, die sich in vielen Bereichen mit den Geheimnissen anderer Menschen auseinandersetzen. Zum einen sind das vermutlich Priester, die bei der Beichte so einiges erfahren, was sie vermutlich gar nicht wissen wollten. Auf der anderen Seite sind das Psychotherapeuten, zu deren Geschäft es gehört, die Geheimnisse ihrer Patienten zu erkunden und deren verletzte Seelen zu heilen. Bei beiden Berufsgruppen ist die Wahrheit, die der Patient oder das Pfarrkind ausspricht, eine maßgebliche Voraussetzung für die Vergebung aber auch für eine Heilung - so steht bei beiden Berufen die ausgesprochene Wahrheit auf einem sehr hohen Podest. Lily Bradley ist Psychotherapeutin und natürlich weiß sie, wie wichtig es ist, dass sich ihre Patienten ihr gegenüber öffnen, soll sie ihnen tatsächlich helfen können. Lily weiß aber auch, dass es Geheimnisse gibt, die vielleicht nicht jeder erfahren sollte und so ist sie sorgfältig darauf bedacht, ihre zu verbergen. Wer aber so verzweifelt bemüht ist, seine Geheimnisse zu bewahren, muss sein Leben eisern kontrollieren und gewagte Tänze auf dem Hochseil durchführen.

Lilys ganzes Gerüst kommt erheblich ins Wanken, als die attraktive Künsterlin Arwen tot aufgefunden wird und das ausgerechnet von Lilys Mann Tom. Schnell fängt die Polizei an, Fragen zu stellen, schnell ergeben sich Verdachtsmomente und schnell versucht jeder zu vertuschen, was irgendwie zu vertuscht werden sollte. Loreth Anne White entspinnt ein kunstvolles Gerüst von Lügen und Geheimnissen und es ist nicht etwa so, dass es nur Lily und Tom betrifft. Auch Rue, die ermittelnde Beamtin stellt plötzlich fest, dass auch ihre Familie in den Todesfall verwickelt sein könnte und dass das hässliche kleine Wort "Interessenskonflikt" hier ihr kleinstes Problem sein könnte.

Jeder Mensch ist zu den grausamsten Dingen fähig, unter den richtigen Umständen...

Eine besondere Spannung baut die Autorin durch zeitliche Sprünge und Wechsel der Protagonisten auf. Einerseits spielt die Handlung kapitelweise im hier und jetzt, andererseits setzt sie mehrere Wochen vor dem Todesfall an und fokussiert immer unterschiedliche Protagonisten. Der einzige, der alle Stränge in der Hand hält, ist somit der Leser und so weiß er, dass jemand viel Zeit und Mühe investiert, um Lily und ihre Familie zu beobachten; er weiß, dass Arwen einen besonderen Plan verfolgte und nicht zuletzt weiß er auch, wer offensichtlich seine ehelichen Treuegelübde nicht mehr ganz buchstabengetreu auslegte. Das Ergebnis ist ein nervenzerreißender Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte und der von wesentlich mehr als vom Tod der Arwen Harper erzählt. Vieles scheint verloren - bis sich zuletzt zwei Unbestechliche einschalten, zu denen auch Kommissar Zufall gehört.  Zum guten Schluss aber bleibt die Frage von Schuld und Sühne und nicht zuletzt auch die Überlegung: Wie weit wäre es gekommen, hätten einige genauer hingesehen und sich mitgeteilt?

Fazit

Ein Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Die Geheimnisse der anderen, die Lügen und Ausflüchte der Familienmitglieder - wir kennen viele von ihnen. Aber vielleicht und Gottseidank müssen wir nicht alle kennen. Vielleicht würden wir dann nämlich auch das Dunkle an unserer Seite sehen...