Escape Time

  • Droemer
  • Erschienen: April 2023
  • 1
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Thomas Gisbertz
60°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2023

Trotz guter Grundidee ein zunehmend unglaubwürdiger Thriller zwischen Mystery und Krimi

Der Dienstagabend ist immer eine besondere Zeit für die 70-jährige Shirley Steadman: Dann ist sie nämlich wieder für das Radiowunschkonzert des Chester-le-Street Hospitals zuständig. Zwischen dem Zusammentragen der Patientenwünsche und ihrer Moderation gönnt sich die ältere Dame aber gerne noch eine halbe Stunde „Radiorauschen“: einfach zurücklehnen und den Kopf frei bekommen. Bis sie plötzlich auf der Frequenz 66,2 AM eine Stimme vernimmt. Was Shirley zunächst als Frequenzschwankung abtut, entpuppt sich als örtlicher Piratensender, der neben Musik auch Aktuelles über Chester-le-Street und Umgebung im Programm hat: lokale Nachrichten, harmlose Unfälle. Das Sonderbare: Das Datum ist das von morgen! Dem Moderator des unbekannten Senders muss ein Fehler unterlaufen sein, anders kann sich dies Shirley nicht erklären. Doch am nächsten Tag ereignet sich alles exakt wie in den Radionachrichten vermeldet. Kann es wirklich sein, dass jemand die Zukunft vorhersieht? Oder wird Shirley allmählich verrückt, zumal ihr auch hin und wieder ihr toter Sohn erscheint? Gleichzeitig fasziniert und beunruhigt lauscht die ältere Dame nun jeden Abend um 19.30 Uhr dem Radiosender, um Neuigkeiten zu erfahren. Doch dann berichtet der Nachrichtensprecher von einem Mord. Und Shirley scheint die Einzige zu sein, die ihn verhindern kann.

Meister des Suspense

Chris McGeorge hat sich in den letzten Jahren als Autor brillanter Locked-Room-Thriller einen Namen gemacht. Nach „Escape Room - Nur drei Stunden“ (2018) und „Der Tunnel - Nur einer kommt zurück“ (2020) überzeugte der junge Brite zuletzt mit einem spannenden und wendungsreichen Thriller um eine junge Frau in einem immer unheimlicher werdenden High-Tech-Gefängnis („Four Walls“, 2022).

Mit seinem neuesten Roman (OT: „Half-past Tomorrow“) gelingt dem Engländer eine Mischung aus Psychothriller, Mystery-Roman und Kriminalgeschichte. Auch wenn McGeorge bereits in seinem früheren Roman mit „mystischen“ Elementen gespielt hat, bewegt er sich diesmal auf einem eher unbekannten Terrain. Ein Drahtseilakt, der leider scheitert. Dass das genreübergreifenden Experiment misslingt, liegt weniger an der Grundidee, sondern vielmehr an der teilweise vollkommen unglaubwürdigen Umsetzung.

Die alte Frau und ein Mord

Die Hauptfigur Shirley Steadman erinnert nicht ohne Grund an Miss Marple, ist Autor Chris McGeorge doch ein großer Bewunderer von Agatha Christie. Besonders aber mit seinem kommenden Roman „A Murder at the Castle“ erinnert er an die Grand Old Lady der englischen Spannungsliteratur. In gewisser Weise wird dies auch eine Rückkehr zu dem für McGeorge typischen Stil sein: dem Locked-Room-Thriller. In seinem aktuellen Roman ist der Engländer aber von seiner gewohnten Klasse leider weit entfernt. Einzig die 70-jährige Shirley weiß in ihrer Darstellung zu überzeugen. Sie lebt seit dem Tod ihres Mannes mit ihrer Katze Moggins alleine in ihrem Haus. Besuch bekommt sie lediglich von ihrer Tochter Deena - und von ihrem vermissten Sohn Gabe! Dieser hat sich vor neun Jahren von einem Minensuchschiff der British Royal Navy vor der irakischen Küste in die Fluten gestürzt. Seit einem Jahr erscheint er Shirley nun beinahe allabendlich als Geist.

Besorgt wegen der Mordkündigung in den mysteriösen Nachrichten nimmt Shirley Kontakt mit der Polizei auf. Selbstverständlich tut man die Hinweise als Geschwätz einer senilen alten Dame ab. So versucht Shirley auf eigene Faust, den Mord zu verhindern - leider vergeblich. Lediglich Callie, die frühere Freundin von Gabe, die Shirley nach einem leichten Herzinfarkt im Krankenhaus pflegt, schenkt ihr mehr und mehr Vertrauen. Als ein weiterer Mord angekündigt wird - ausgerechnet während ihrer wöchentlichen Strickrunde -, setzen die beiden alles daran, dem Täter eine Falle zu stellen. Doch dies hat fatale Folgen.

Von allen guten Geistern verlassen

Während die erste Hälfte des Romans spannend und klug konstruiert ist, baut McGeorge plötzlich eine Wendung ein, die vollkommen hanebüchen ist und so gar nicht passen will. Die letzten gut 200 Seiten sind eine regelrechte Sinnverweigerung. Die Handlung wird ab diesem Zeitpunkt von Seite zu Seite immer obskurer. Das bis dahin gut ausbalancierte Spannungsverhältnis zwischen Mystery und Kriminalhandlung bricht in sich zusammen. Die Figuren werden überzogen und zunehmend unglaubwürdiger in ihrem Auftreten und Handeln dargestellt. Seine negativen Höhepunkt erreicht der Thriller zum Ende hin, wenn das absurde Motiv des Täters aufgedeckt wird. Leider wird die wirklich gute Grundidee, die sich über 200 Seiten wunderbar trägt, so überraschend einfach und gleichzeitig sinnfrei aufgelöst, dass man sich als Leser nur wundern kann.

Fazit

Chris McGeorge hat mit seinen bisherigen Roman bewiesen, welch großes Talent in ihm steckt. Leider kann er dies in seinem aktuellen Thriller lediglich in der ersten Hälfte unter Beweis stellen. Was dann folgt, ist leider großer literarischer Nonsens, da die Auflösung seines Clous krachend scheitert. Bleibt zu hoffen, dass dies nur ein Ausrutscher war und der Autor mit seinem nächsten Thriller wie in die richtige Spur findet.

Escape Time

Chris McGeorge, Droemer

Escape Time

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