Der Fremde

  • Heyne
  • Erschienen: Juni 2022
  • 1

- Übersetzung: Melike Karamustafa

- Originaltitel: "The Damage" (zuvor unter dem Autorennamen Regan Rose als "A Kindness")

- Paperback, Klappenbroschur

- 430 Seiten

Der Fremde
Der Fremde
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Sabine Bongenberg
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2022

Realistische Darstellung

Die heile Welt von Tony und Julia Hall wird auf einen Schlag bis ins Mark erschüttert: Nick, Tonys jüngerer Bruder, wurde in einem Hotelzimmer brutal vergewaltigt. Die Polizei ermittelt und dank aufmerksamer Zeugen können sie alsbald einen Verdächtigen ausmachen. Der aber scheint sich nicht als Tatverdächtiger oder überhaupt als Täter zu fühlen – er ruft eine Öffentlichkeitskampagne ins Leben, die nicht nur seine Unschuld belegen sondern vielmehr auch noch zeigen soll, dass Nick ein durchgeknallter Verleumder ist. Julia und Tony müssen hilflos zusehen, wie sich die Situation um ihr Familienmitglied zusehends zuspitzt und wie sich sein Ansehen in der Öffentlichkeit wandelt. Die Frage dabei ist aber die – wie lange wollen sie diesem Treiben hilflos zusehen?

Wer schützt die Opfer?

Die US-amerikanische Autorin Caitlin Wahrer beschreibt in ihrem Roman „Der Fremde“ wie eine Familie, die, wie alle, Stärken und Schwächen aufweist, durch ein Sexualverbrechen erschüttert wird. Der nach deutschem Recht erwachsene Nick, der sich aber in den USA in vielen Bundesstaaten nicht einmal ein Bier bestellen darf, wird von einem anderen Mann vergewaltigt. Für konservative Menschen – und die soll es auch in den USA geben – treffen zwei Problemfelder aufeinander: Es sind einerseits die brutale Erfahrung von Gewalt, der erzwungene Geschlechtsverkehr, und andererseits die Homosexualität des Opfers. Diese Umstände führen natürlich dazu, dass ein Opfer eines solchen Verbrechens seine Identität geheim halten möchte und umso größer muss sein Entsetzen sein, wenn diese öffentlich gemacht wird. Caitlin Wahner schildert hier nüchtern, wie eine Familie an diesen Problemen zu zerbrechen droht.

Ruhiger und langsamer Erzählfluss

Im großen Feld der Kriminalliteratur überrascht mich der recht einfache Plot ehrlich gesagt schon ein wenig. Es gibt viele Autoren, bei denen kann es nicht blutig genug sein und jeder Mörder ist ein Massenmörder und hat – salopp formuliert – und grob geschätzt, eine Publikumsreihe aus dem Müngersdorfer Stadion auf dem Gewissen. Insoweit ist es ungewohnt, dass Wahrer sich zwar einem Kapitalverbrechen widmet, dass es aber bei diesem einen bleibt. Die Autorin nimmt sich im Anschluss an die Tat die Zeit, die Geschichte ruhig und durchdacht zu erzählen. Sie berichtet auf zwei Zeitschienen von den Ermittlungen der Polizei, der Arbeit an der Traumabewältigung der Familie und auch von den Problemen, die schon vor dem Verbrechen bestanden. Ein spannender „Whodunnit“ wird hier nicht erzählt. Der Täter ist so wie meistens im richtigen Leben eine Zufallsbekanntschaft. Auf dieses Tempo muss man sich einlassen, der Erfolg ist ein gut konstruierter durchdachter Roman mit einer letzten überraschenden Wendung. Ich möchte aber dennoch betonen, dass das nicht jedermanns Sache ist und einiges erschien mir auch ein wenig zu zäh, zu belanglos und mit seinen Problemen auch vielleicht ein wenig zu „amerikanisch“.

Fazit

Caitlin Wahrer erzählt eine neue Geschichte aus der Me-too-Debatte, eine neue Täter-Opfer-Umkehrung aber auch vom neuen Widerstand einer zerrissenen Familie. Einiges hätte sicher gekürzt werden können, dennoch wirkt vieles in seiner Einfachheit vertraut und zeigt, dass Terror und Schrecken überall eindringen können.

Der Fremde

Caitlin Wahrer, Heyne

Der Fremde

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