Der geheimnisvolle Mr. Hyde

  • Rütten & Loening
  • Erschienen: November 2021
  • 2

- OT: Hyde

- aus dem Englischen von Wolfgang Thon

- TB, 400 Seiten

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Michael Drewniok
65°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2022

Zwei feindliche Seelen in einem überforderten Hirn

Mitte der 1880er Jahre ist Captain Edward Henry Hyde Superintendent der Edinburgh City Police und als solcher verantwortlich für ein kleines Heer von Ermittlern, die in der schottischen Metropole Kapitalverbrechen aufklären sollen. Die Deduktion ist noch keine Wissenschaft, sondern oft ein Glücksspiel. Unfähige Mitarbeiter, Korruption, Aberglaube: Hyde steht recht allein mit seiner Methode, dem jeweils untersuchten Verbrechen auf den Grund zu gehen.

Hyde ist mit einer gewaltigen Statur und einem Gesicht geschlagen, das den Kriminellen Respekt einflößt, aber auch sonst Furcht erzeugt. Darüber hinaus leidet er unter ‚Anfällen‘, die seinen Geist, jedoch nicht den Körper lähmen. Wenn Hyde ‚erwacht‘, hat er keine Ahnung, was er in den Stunden seiner ‚Abwesenheit‘ getan hat.

In Edinburgh treibt ein Mörder sein Unwesen, der seine Opfer auf grausige Weise ausstellt. Eine „Banshee“ geht um, munkelt man in der Bevölkerung. Hyde ist ein Kind der Aufklärung und lehnt das Übernatürliche ab. Stattdessen fürchtet er selbst hinter den Untaten zu stecken, obwohl ihn sein behandelnder Arzt und Freund Dr. Porteous diesbezüglich beruhigt. Nur: Kann Hyde ihm trauen?

Die Situation spitzt sich zu, denn die Tochter eines reichen Geschäftsmanns verschwindet, irische Nationalisten rühren sich im Untergrund, ein obskurer Orden sorgt für Aufsehen. Über allem schwebt düster der „Dekan“, böser Genius und Anführer einer geheimen Macht, die uralte ‚Götter‘ in die moderne Gegenwart zurückrufen will …

Schotten-Morde nie ohne Schotten-Spuk

Beginnen wir mit dem Erfreulichen: „Der geheimnisvolle Mr. Hyde“ ist ein solider Historienkrimi, der sämtliche Zutaten jenes Rezeptes enthält, das dieses Genre zu einem Publikumsrenner macht. Der Schauplatz ist Edinburgh, die hoch im Norden der britischen Hauptinsel gelegene Stadt mit ihrer reichen, wüsten und krimitauglichen Historie, in der die 16 Morde der „Auferstehungsmänner“ William Burke und William Hare (1827/28) keineswegs das einzige düstere Kapitel darstellen.

Der Spuk-Faktor wird von Verfasser Craig Russell überreich bedient. Zudem spielt diese Geschichte etwa 1885 und damit in einer Zeit, als der ‚moderne‘ Mensch endgültig die Fesseln des Aberglaubens abstreifte, aber dessen Schrecken noch kannte. Auch Hyde ist vertraut mit den unheimlichen Gestalten der schottischen Folklore, die er in seiner Kindheit ihrer traditionellen Wucht kennengelernt hat.

Hinzu kommen die Absonderlichkeiten der nur vorgeblich „aufgeklärten“ Moderne. Russell nutzt sie zum Ausbau seiner unheimlichen Atmosphäre. So wird die noch junge Fotografie u. a. genutzt, um in einer Ära hoher Jugendsterblichkeit tote Kinder möglichst ‚lebendig‘ vor die Kameralinse zu setzen. Ebenfalls gilt es als möglich, die Geister Verstorbener im Rahmen einer Séance heraufzubeschwören.

In den schattigen Winkeln des Menschenhirns

In das ausgehende 19. Jahrhundert fällt die Geburtsstunde der modernen Psychologie. Geisteskrankheit galt zuvor als Fluch und Peinlichkeit; die Betroffenen verschwanden hinter dicken Mauern, wo sie nicht behandelt, sondern ‚ruhiggestellt‘ = malträtiert wurden. Russell lässt Samuel Porteous als Pionier der neuen Wissenschaft auftreten und konfrontiert ihn mit den Schwierigkeiten eines Forschers, der viele Fragen hat, aber noch weitgehend im Dunkeln tappt.

Der Schriftsteller Robert Louis Stevenson (1850-1894) griff das Thema literarisch in seiner 1886 entstandenen Schauernovelle „The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ auf. Die Geschichte eines Arztes, der dank eines selbst entwickelten Mittels seine bisher sorgsam unterdrückten Triebe auslebt und dabei vor keiner Übeltat zurückschreckt, wurde zu einem Mythos, der seither multimedial immer wieder aufgegriffen wird.

Russell reiht sich ein und bedient die auch in der Kriminalliteratur präsente Vorstellung vom ‚unschuldigen‘ Täter, der unter einer gespaltenen Persönlichkeit leidet und Verbrechen begeht, an die sich die ‚gute Seite‘ nicht erinnert. Die daraus resultierende Unsicherheit ist hilfreich, wenn man falsche Spuren legen möchte. Ist Edward Hyde die „schwarze Bestie“, die durch das nächtliche Edinburgh tobt?

Rätsel über Rätsel, und der Wahnsinn regiert

Auf den Spuren von Stevenson entfesselt Russell eine Serie schauriger Ereignisse, die in der Schattenzone zwischen Realität und Phantastik spielen. Selbst als der Verfasser sich entschieden hat, mag er nicht gänzlich von dieser publikumswirksamen Ambivalenz ablassen. Auf diese Weise lädt er die Stimmung auf und lenkt recht von einer Frage ab, die sich die Leser allmählich stellen: Was wird hier eigentlich verzapft?

Das Finale bringt plausible Aufklärung, aber auch Ernüchterung. Jenseits des Theaterdonners erzählt Russell eine recht simple Geschichte, die dadurch vorangetrieben wird, dass wir mit immer neuen Rätseln konfrontiert werden. Natürlich wollen wir wissen, was hinter dem Ganzen steckt, nur: Viel ist es im Hinblick auf den betriebenen Aufwand nicht. Vor allem das actionreiche Finale setzt auf bewährte bzw. abgegriffene Effekte. Die Entscheidung treffen die Leser. Sie fragen sich außerdem wie dieser Rezensent, ob die Figuren trotz ausführlicher Charakterisierungen nicht flach wirken; dies gipfelt in der allzu üblich gewordenen Klischee-Rolle der Callie Burr als kluge, sich im Haifischbecken männlichen Chauvinismus‘ selbstbewusst tummelnde, durch Geburt zusätzlich ‚stigmatisierte‘, aber natürlich schöne Frau, die den „einsamen Wolf“ Hyde aus seiner Männerhöhle lockt.

Muss die Hauptfigur übrigens Edward Hyde heißen/sein? Aus der Story ergibt sich diese Notwendigkeit nicht. Schon die umständliche Rahmenhandlung - der (fiktive) Hyde trifft seinen (realen) Freund, den Schriftsteller Stevenson, - deutet darauf hin, dass sich Russell den Mythos dienstbar machen wollte. Dass er nicht Dr. Jekyll, sondern den normalerweise in die Rolle des Bösewichts gedrängten Edward Hyde ins Zentrum stellt, ist nur bedingt originell.

Fazit

Solider, aber trotz oder gerade aufgrund eines wahren Overkills spuk- und wahngetränkter Orte und Ereignisse durchschnittlicher Historienkrimi, dessen aufwändig heraufbeschworene Schauerstimmung sich final weitgehend auflöst; spannend, aber nicht spektakulär sowie offenbar als Start einer möglichen Serie konzipiert.

Der geheimnisvolle Mr. Hyde

Craig Russell, Rütten & Loening

Der geheimnisvolle Mr. Hyde

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