Das Verschwinden des Dr. Mühe

  • Penguin
  • Erschienen: August 2020
  • 4

- HC, 240 Seiten

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Thomas Gisbertz
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2020

Beeindruckendes Krimidebüt

Berlin, Juni 1932: Als der angesehene Arzt Dr. Erich Mühe kurz nach Mitternacht noch einmal seine Wohnung in Kreuzberg verlässt, weiß seine Frau Charlotte noch nicht, dass sie ihren Mann das letzte Mal gesehen hat. Dieser verschwindet über Nacht, ohne dass es einen ersichtlichen Grund dafür gibt. Sein Sportwagen wird am nächsten Tag verlassen am Ufer des Sacrower Sees im Südwesten Berlins von einem Gastwirt gefunden. Zunächst sieht alles nach einem Badeunfall aus: Mühe sei nachts zum Schwimmen an den See gefahren und dort ertrunken, eine Leiche wird allerdings nicht gefunden. Routinemäßig übernimmt die Kriminalpolizei die Ermittlungen. Kriminalkommissar Ernst Keller und sein junger Assistent Schneider führen zahlreiche Verhöre mit Nachbarn, Verwandten und Angestellten. Dabei stoßen sie zunehmend auf Ungereimtheiten.

Was ist mit Dr. Mühe geschehen?

Der Fall des verschwundenen Arztes wirkt von Beginn an mehr als rätselhaft. Während seine Frau von einem tödlichen Badeunfall im See ausgeht und wenig um ihren Mann zu trauern scheint, gehen Keller und Schneider zunächst davon aus, dass Dr. Mühe noch am Leben ist. Als sie die Nacht des plötzlichen Verschwindens rekonstruieren, ergeben sich immer mehr Rätsel: Warum hat der Arzt vor Kurzem sein Konto leergeräumt? Mit wem hat er sich nachts in einer verrufenen Kaschemme getroffen? Hat der ehrenwerten Doktor vielleicht ein kriminelles Doppelleben geführt? Oder hatten Charlotte Mühe und ihr Gesangslehrer Hugo Rasch sogar eine Affäre, der Erich Mühe im Wege stand? Mühe hatte zwei hohe Lebensversicherungen abgeschlossen - wurde er deswegen vielleicht getötet? Je mehr sich die Berliner Ermittler in den Fall einarbeiten, umso deutlicher wird, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint…

Biograf und Historiker

Oliver Hilmes wurde 1971 in Viersen am Niederrhein geboren. Nach dem Abitur am Albertus-Magnus-Gymnasium studierte er Geschichte, Politikwissenschaften und Psychologie, u.a. in Marburg, an der Pariser Sorbonne in Paris sowie in Berlin. Er hat mit einer Studie über den Zusammenhang von Antisemitismus und Kritik an der Moderne zum Doktor der Philosophie promoviert. Seit 2002 arbeitet Oliver Hilmesfür die Stiftung Berliner Philharmoniker.

Besonders für seine ausgezeichneten Biografien über Alma Mahler-Werfel, Cosima Wagner, Franz Liszt oder auch Ludwig II. erhielt Hilmes viel Lob in der Presse. Seine Erzählung Berlin 1936. Sechzehn Tage im August wurde 2016 zum gefeierten Bestseller und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet.

Die Idee für seinen ersten Kriminalfall kam Hilmes, als er im Rahmen seiner Recherche zu Berlin 1936 im Berliner Landesarchiv auf die Akten eines realen Cold Case aus der Spätzeit der Weimarer Republik stieß. Auf der Grundlage dieser wahren Begebenheit, angereichert mit fiktionalen Elementen, entführt uns der Autor in das Berlin der 30er Jahre. Auf packende, sehr raffinierte Weise erzählt er von der Suche nach Wahrheit und von den Abgründen der bürgerlichen Existenz am Vorabend der Diktatur. 

Besonderer Kriminalroman

Wer glaubt, dass Oliver Hilmes nur dort weitermacht, wo Volker Kutscher mit seiner Gereon-Rath-Reihe aufhört, der irrt sich gewaltig! Auch wenn die Geschichten beider Autoren in der selben Zeit spielen, so hat Hilmes Debütkrimi seinen ganz eigenen Sound. Dem Autor geht es trotz aller Detailverliebtheit, die das Bild Berlins am Ende der Weimarer Republik für den Leser so lebendig erscheinen lässt, weniger um die deutsche Hauptstadt an sich, sondern vielmehr um die Verflechtung menschlicher Schicksale, die durch ein besonderes Ereignis für immer verbunden bleiben.

Man spürt auf jeder einzelnen Seite die Faszination, die der Autor für das Berlin der 30er empfindet. Der Roman ist bis ins kleinste Detail genauestens recherchiert: sei es der Speisekarteninhalt des Restaurants Aschinger am Moritzplatz, der Preis eines U-Bahn-Tickets zur damaligen Zeit oder die exakte Schilderung der Straßenzüge.

Darüber hinaus erweckt Oliver Hilmes jede seiner Figuren zum Leben - auch wenn sie nur eine zu vernachlässigende Nebenrolle spielen. Dadurch, dass er sich Zeit für wirklich jeden einzelnen Protagonisten seines Romans nimmt, wirken diese nicht wie Abziehbilder, sondern lassen beim Leser eine große Nähe zu. Hinzu kommt, dass zahlreiche Figuren nicht nur reale Personen der damaligen Zeit waren, sondern direkt oder indirekt auch mit dem Verschwinden des Arztes 1932 zu tun hatten. Gleichzeitig konfrontiert Hilmes seine Figuren immer wieder mit zeitgeschichtlichen Ereignissen, die zum Teil auch Einfluss auf die Ermittlungsarbeit haben. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen immer wieder.

Grandioser Autor

Oliver Hilmes ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, dem man einfach gerne zuhört. Dazu gehört auch, dass der Autor vieles mit einem Augenzwinkern schildert und die Aussagen der Figuren oft voller (ungewollter) Ironie sind. Sein Roman ist weit mehr als ein Sittenbild der damaligen Gesellschaft: Rund um das mysteriöse Verschwinden des Arztes thematisiert Hilmes ein Geflecht aus Schuld, Skrupellosigkeit und menschlichen Abgründen. Um alles kreist die Frage, wozu jeder einzelne fähig ist, wenn es um seine persönlichen Ziele geht. Der Roman fesselt durch seinen Erzählstil von der ersten bis zur letzten Seite. Dabei schwankt die Schilderung zwischen auktorialem Erzählstil und polizeilichem Protokoll. Immer wenn man glaubt, endlich das Rätsel um das geheimnisvolle Verschwinden gelöst zu haben, nimmt der Fall eine neue Wendung. Genau hieraus zieht der Roman seinen ganz besonderen Reiz. Der Autor liefert den Beweis, dass ein spannender Kriminalroman auch ohne Brutalität und Gewaltszenarien auskommen kann.

Fazit

Oliver Hilmes gelingt ein fulminantes Krimidebüt. Vor der Kulisse Berlins in den 30er-Jahren überzeugt er auf der Grundlage realer Ereignisse mit einem wendungsreichen Roman, der vor allem durch einen wundervollen Erzählstil und eine liebevolle Figurendarstellung überzeugt. Die zum Teil düstere Atmosphäre durchbricht er dabei immer wieder auf humorvolle Weise. Oliver Hilmes ist ein guter Beobachter der damaligen Zeit, aber auch ein mindestens ebenso großartiger Autor.

Das Verschwinden des Dr. Mühe

Oliver Hilmes, Penguin

Das Verschwinden des Dr. Mühe

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