Stumme Zeugen

  • Scherz
  • Erschienen: Januar 1964
  • 4
  • London: Collins, 1955, Titel: 'Scales of justice', Seiten: 255, Originalsprache
  • Bern; Stuttgart; Wien: Scherz, 1964, Seiten: 188, Übersetzt: Alix König [Die schwarzen Kriminalromane 206]
  • München: Goldmann, 1987, Seiten: 186
  • München: Goldmann, 1995, Seiten: 186
Stumme Zeugen
Stumme Zeugen
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2021

Zwei tote Forellen neben doppelt ermordetem Mann

Swevenings in der Grafschaft Barfordshire ist eines jener Dörflein, in denen die Zeit spätestens seit dem Tod von Queen Victoria stehengeblieben zu sein scheint. Im Schatten von Schloss Nunspardon hat sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg jene ländliche Hierarchie erhalten, in der dem Adel - hier repräsentiert durch Lord und Lady Lacklander - weiterhin uralte Privilegien zugebilligt werden.

Schaut man hinter die Fassaden, relativiert sich das heimelige Bild: Sir Harold liegt im Sterben, sein Sohn George ist ein aufgeblasener Hohlkopf, und Enkel Mark geriet in Ungnade, weil er Arzt geworden ist. Nur vorgeblich vornehm sind auch die unmittelbaren Nachbarn: Commander Syce streitet mit Oberst Cartarette und schießt meist betrunken seinen Bogen ab, Octavius Danberry-Phinns Sohn Ludovic hat sich vor Jahren als Landesverräter eine Kugel in den Kopf geschossen. Cartarettes zweite Gattin ist ein Flittchen, in das sich George Lacklander verguckt hat, während Mark Cartarettes Töchterlein Rose umwirbt.

Auf dem Totenbett übergibt Sir Harold Cartarette seine Memoiren, die für einen Skandal sorgen, aber auch ein altes Unrecht wiedergutmachen würden. Kurz darauf liegt der Oberst mit eingeschlagenem Schädel am Ufer des Flüsschens Chyne; offenbar hat er wieder einmal „dem Alten“ nachgestellt - einer riesigen Forelle, die neben seiner Leiche gefunden wird.

War Cartarettes Tod Folge eines schnöden Streits zwischen allzu eifrigen Anglern? Das Geflecht sorgfältig gehüteter Geheimnisse entwirren soll Chefinspektor Roderick Alleyn, der mit seinem Assistenten Inspektor Fox nach Swevenings reist und dort nicht nur den Mord, sondern die rätselhafte Wanderlust gleich zweier toter Forellen aufklären muss …

Postkartenidyll mit scharfen Ecken

Mit Stumme Zeugen, dem 18. Roman mit ihrer ständigen Hauptfigur Roderick Alleyn, stellt Autorin Ngaio Marsh unter Beweis, dass sie Agatha Christie durchaus das Wasser reichen kann. Sie legt einen „Landhaus-Krimi“ vor, der dem Genre nicht nur alle Ehre macht, sondern gleichzeitig mit ihm spielt, indem sie dessen Konventionen bis zum Bersten mit einschlägigen Klischees füllt, ohne es zum Knall kommen zu lassen.

1955 war die Ära des klassischen englischen Whodunits, der die einfallsreich-elegante Entlarvung eines Übeltäters in den Mittelpunkt stellte, eigentlich vorbei: Das Umfeld hatte sich verändert, die historische Realität dafür gesorgt, dass die soziale Rangordnung auch oder gerade auf dem Land ins Wanken geraten war. Vorüber war die Ära adliger Großgrundbesitzer, die auch politisch und juristisch das Heft in der Hand hielten. Hohe Steuern einer ‚sozialistischen‘ Regierung sorgten dafür, dass ‚Herren‘ und ‚Damen‘ nicht länger auf Kosten ihrer Untertanen ein vornehmes, alltagsfernes Dasein führen konnten.

Ngaio Marsh leugnet diese Gegenwart nicht, sondern arbeitet sie in eine Krimi-Idylle ein, die sich mehr und mehr in Lug und Trug auflöst und schließlich in einem Mord gipfelt. Genial ist die Einleitung: Bezirksschwester Kettle überschaut Swevenings vom Gipfel eines Hügels und erfreut sich seiner Postkarten-Schönheit. Schon jetzt zeigen sich erste Brüche; sie werden sich bald auftun und dabei Tiefen erreichen, in denen es als Kontrast zur pastoralen Szenerie zwischenmenschlich hässlich gärt.

Dicker Fisch und vertuschte Vergangenheit

Was charakterisiert ‚echten‘ Adel? Lady Hermoine Lacklander stellt absichtlich provokant diese Frage und legt in der Diskussion mit einer eher romantisierenden Schwester Kettle eine bemerkenswerte Klarsicht an den Tag. Die Lady ist das Bindeglied zwischen dem „British Empire“ und dem modernen, nur noch dem Namen nach großen Britannien. Im Gegensatz zum törichten Sohn weiß sie, dass ihre Zeit vorbei ist, sobald die letzte Bastion adliger Rechtfertigung fällt: die Vorbildfunktion! Skandalfrei und unerschütterlich soll der Adel den sozialen Frieden vorleben; eine Aufgabe, an der schon wieder eine Generation der Lacklanders gescheitert ist, wie sich im Laufe der aktuellen Ermittlung herausstellt.

Der Versuch, dies zu vertuschen, ist einer der Stränge der krimitauglich verzwirbelten Handlung, die weder mit scheinbaren, tatsächlich lesertäuschenden ‚Hinweisen‘ noch den genretypischen Verschrobenheiten sowie knochentrocken-schwarzem Humor geizt. („‚Wie wunderbar klar es heute Abend ist!‘ Schwester Kettle war entzückt. ‚Alles sieht so unheimlich nahe aus - wie zum Greifen! Als könnten Sie Lady Lacklander von hier aus einen Pfeil in den Rücken jagen, nicht?‘“- Schon ist der aber, aber disziplinlos mit Pfeil und Bogen hantierende Commander Syne als später Verdächtiger markiert!) Für ratloses Entzücken sorgt darüber hinaus eine tote Forelle, die sich später sogar verdoppelt und für das „Cozy“-typische Element der unterhaltsamen Realitätsferne sorgt.

Ins Kuschel-Krimi-Ambiente passen weiterhin ein wunderlicher Witwer, der mit seinen zahlreichen Katzen spricht, eine blässlich-behütete Maid, die ihr überfürsorglich-besitzergreifender Bräutigam ungeschickt vor der Qual einer Morduntersuchung ‚schützen‘ will (was ihn zumindest latent in Verdacht geraten lässt), eine ‚erfahrene‘ = verworfene Frau, die sich auf dem aus ihrer Sicht tatsächlich platten Land langweilt, und natürlich die lokale Polizei, die sich erleichtert den aus der Stadt anreisenden Spezialisten unterordnet, weil sich ihre kriminalistische Kompetenz auf die Zügelung betrunkener Bauern und Arbeiter beschränkt.

Regeln einer untergehenden Welt

Chefinspektor Alleyn und Inspektor Fox sind Kollegen und Freunde; sie eint ihre kriminalistische Ausbildung und langjährige Erfahrung. Dennoch müsste Fox als alleiniger Ermittler in Swevenings am ausgestreckten Arm einer zwar schwindenden, aber weiterhin präsenten Oberschicht verhungern. Dass ein Mord geschehen ist, stellt für die Lacklanders eher ein tragisches Ärgernis dar. Für sie steht die Gefahr der offiziellen Bloßstellung im Vordergrund und bestimmt ihr Handeln, das ganz selbstverständlich offensives Verschweigen fallrelevanter Tatsachen beinhaltet. Alleyn und Fox wissen es, die Lacklanders machen keinen Hehl daraus. Man müsste und könnte sie wie ‚normale‘ Menschen dem Gesetz unterwerfen, doch Fox denkt nicht einmal daran.

Wieso auch, wo es doch eine verhältnismäßige Lösung gibt? Roderick Alleyn ist selbst Mitglied einer adligen Familie. Seinen Titel nutzt er nicht, doch die vornehmen Familien wissen sämtlich über ihn Bescheid. Ihm öffnen sich Türen, die Fox verschlossen bleiben. Alleyn weiß es zu nutzen, er gilt als ‚Insider‘, der ‚versteht‘, was „Ehre“ bedeutet, weshalb man ihm schließlich die peinliche Wahrheit über Sir Harolds folgenschweres, viel zu lange gehütetes Geheimnis verrät. (Sir Georges blamables Treiben offenbart sich dagegen von selbst, was das düstere Urteil seiner Mutter über den Niedergang des Adels bestätigt.)

Ngaio Marsh erfüllt schließlich auch die wichtigste Pflicht des klassischen Rätsel-Krimis: Alle Rätsel werden gelüftet, doch die Auflösung nimmt plötzlich eine unerwartete Richtung und enthüllt einen Tathergang, der sich aus dem geschilderten Verlauf ergibt, den die Autorin hinter behutsam gezündeten Nebelkerzen verborgen hielt. Der Twist funktioniert, obwohl ihm Originalität abgeht - ein verschmerzbares Manko angesichts der Tatsache, wie unterhaltsam man insgesamt überlistet wurde!

Fazit

Sein 18. Mal führt Polizist Roderick Alleyn in eine musterhafte englische Krimi-Provinz. Autorin Ngaio Marsh hat ihre Figuren jederzeit im Griff, der Plot läuft wie auf (kunstvoll verschlungenen) Schienen, Genre-Klischees werden genutzt und dabei spielerisch übertrieben sowie sämtliche Rätsel (plus ein finaler Überraschungs-Twist) gelöst: Krimi-Klassik auf höchstem Niveau!

Stumme Zeugen

Ngaio Marsh, Scherz

Stumme Zeugen

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