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  • Atrium
  • Erschienen: August 2019
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Sabine Roth (Übersetzung)

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Almut Oetjen
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2019

Den Apparat von innen heraus stärken und seinen Erhalt über die Generationen hinweg sicherstellen

Als „Kage no kisetsu“ wurden im Verlag Bungeishunjū in Tokio 1998 vier Novellen Hideo Yokoyamas veröffentlicht, deren Übersetzung es bei riverrun in England unter dem Titel „Prefecture D“ gibt. Die Titel der vier englischen Fassungen sind Season of Shadows, Cry of the Earth, Black Lines und Briefcase. Season of Shadows und Black Lines wurden von Sabine Roth aus dem Englischen ins Deutsche übertragen und sind nun unter dem Titel „2“ erhältlich.

Wie in dem umfangreichen Roman „64“, der 2018 bei Atrium erschien, spielen auch die zwei lose miteinander verbundenen Geschichten in der Präfektur D. Sie sind mehr an den Protagonisten, ihrem Beziehungsgeflecht und den persönlichen Spannungen in der strengen Hierarchie des Polizeiapparates interessiert als am Kriminalfall. Präfektur D ist irgendwo in einer Gebirgsregion gelegen. Weitere Angaben gibt es nicht. Manche der Protagonisten sind bereits aus „64“ bekannt.

In der ersten Geschichte, Zeit der Schatten, bearbeitetInspektor Shinji Futawatari aus der Verwaltungsabteilung das jedes Frühjahr anstehende Transferpuzzle, eine Art Versetzungskarussell, das nicht nur positive Kriterien, sondern auch Fehltritte und die Wahrscheinlichkeiten, dass diese durch die Presse publik gemacht werden, berücksichtigt. Futawatari soll strukturelle Veränderungen in der Präfektur durchführen, die insbesondere ältere Mitarbeiter in arbeitsarmen Ruhepositionen betreffen. Vor allem soll er einen älteren Polizeioffizier, den populären Michio Osakabe in den Ruhestand schicken. Der weigert sich jedoch zu gehen. Als Futawatari herausfinden will, warum Osakabe Widerstand leistet, erfährt er, dass dieser seit langer Zeit obsessiv an einem Fall arbeitet, in dem es um einen Serienvergewaltiger geht. Bevor er in den Ruhestand geht, will Osakabe den Fall, in den er persönlich involviert scheint, unbedingt noch aufklären. Futawatari arbeitet daran, auch dieses Puzzle zu lösen.

In der zweiten Geschichte, Schwarze Linien, erfährt Tomoko Nanao, Gruppenleiterin in der Verwaltungsabteilung und für die 48 Polizistinnen in der Präfektur verantwortlich, dass eine ambitionierte und vielversprechende junge Kommissarin aus der Spurensicherung, Mizuho Hirano, überraschend nicht zum Dienst erschienen ist. Nanao macht die Kollegin ausfindig und findet heraus, dass sie Opfer in einer perfiden Korruptionsgeschichte ist.

Kollegen aus Tokio bekommen traditionell einige Stellen

Die Polizisten aus der Präfektur machen sich nicht viele Illusionen über ihre Karriereentwicklung, weil ein paar der besten Stellen traditionell mit Leuten aus Tokio besetzt werden. Weitere Probleme sind die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass der Arbeitgeber und der Job über der Familie stehen muss, dass man sein Gesicht wahren muss und wenig Spielraum hat, auf seine Gesundheit zu achten. Der durch Stress im Beruf bedingte plötzliche Tod, Karōshi genannt, wird ausdrücklich thematisiert, einschließlich seiner Folgen für Hinterbliebene.

Es ist interessant, zu erfahren, wie das Leben junger Polizisten und Polizistinnen, die nach ihrer Ausbildung fünf Jahre nach Geschlechtern getrennt in Wohnheimen leben müssen, durch hierarchische Beziehungen bestimmt wird. Oder dass innerhalb weniger Stunden, nachdem eine Polizistin nicht zum Dienst erschienen ist, eine Kontenabfrage durchgeführt werden darf, um zu erfahren, ob sie eventuell einen größeren Geldbetrag abgehoben hat. Und schließlich, wie nicht nur die größere Korruption das Leben der Menschen bestimmen kann, sondern, mehr noch, eine Art Mikro-Korruption den Alltag durchsetzt.

Autor gibt einen exquisiten Einblick in die Spannungsfelder eines Polizeiapparats

In beiden Geschichten gerät die mit der Klärung eines Personalproblems beschäftigte Hauptfigur in einen bürokratischen Ablauf, der sich zu einem innerpolizeilichen und öffentlichen Skandal auszuwachsen droht. Insoweit Kriminalfälle vorkommen, sind sie in sich von sekundärem Charakter, mit Blick auf das narrative Zentrum, den Polizeiapparat, jedoch von Bedeutung. Der Autor beschäftigt sich sehr mit Detailfragen und vermittelt einen exquisiten Einblick in die Spannungsfelder, die einen solchen Apparat bestimmen. Man bekommt zudem den Eindruck, die japanische Polizei sei mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der öffentlichen Sicherheit.

Die Geschichten stammen aus den 1990er Jahren. Ihre Entstehung fällt in eine Zeit, in der international der systemanalytische Zugriff auf Organisationen an Bedeutung gewann. Das Vorgehen von Shinji Futawatari und Tomoko Nanao besteht aus der Triade Problembestimmung, Strategieentwicklung und Umsetzungsversuche. Die Problembestimmung erfolgt in Form einer Analyse von Störgrößen im bürokratischen Ablauf. Es wird viel nachgedacht, infrage gestellt, Hypothesen werden unmittelbar oder nach Gesprächen formuliert und überprüft, verworfen, bestätigt oder unter Verwendung neuer Informationen weiterentwickelt. Das hört sich etwas trocken an, ist aber auf bedrückende Weise spannend erzählt.

Inhaltlich markieren die Geschichten eine erhebliche Abweichung vom konventionellen Kriminalroman, behandeln sie doch nicht Themen wie die Vorbereitung und die Aufklärung von Verbrechen. Stattdessen steht im Mittelpunkt der Erzählungen der Polizeiapparat als bürokratische Organisation. Diese ist bestimmt durch beschränkte Karrieremöglichkeiten, eine strenge Hierarchie, die Ausnutzung von Macht und Sexismus. Die Behandlung dieser Themen erfolgt analytisch feinsinnig und mit einigem Tiefgang, was angesichts der relativen Kürze der Texte erstaunlich ist. Das Buch enthält ein Namensverzeichnis und ein Glossar, beides hilfreich für die Lektüre.

Fazit:

Hideo Yokoyamas Novellenband „2“ erzählt über das Innenleben einer Polizeipräfektur. Die Fragen, warum ein älterer Polizeioffizier sich weigert in den Ruhestand zu gehen, und warum eine junge, bislang als zuverlässig bekannte Polizistin plötzlich nicht mehr zum Dienst erscheint, werden wie prozedural aufzuklärende Kriminalfälle behandelt. Dabei erfahren wir eine Menge über die japanische Gegenwartsgesellschaft, zumindest um die Wende zum Millennium.

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Hideo Yokoyama, Atrium

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