Das Haus der Verlassenen
- Heyne
- Erschienen: März 2019
- 1
Carola Fischer (Übersetzung)
Hochspannung ohne Thriller-Etikett
Sam, Mitte 20, ist Journalistin und auf der Suche nach der ganz großen Story, um ihrer finanziell misslichen Lage zu entfliehen. Ein mysteriöser Brief einer jungen Frau weckt ihr Interesse – auch, wenn er vor mehr als 60 Jahren geschrieben wurde. Mit wachsendem Eifer verfolgt sie diese Spur – nicht ahnend, dass sie dadurch ein dunkles Kapitel aus dem England der 50er Jahre aufdeckt, und sogar ihre eigene Familie in Gefahr bringt …
Gleich vorweg: Ein typischer Krimi oder Thriller ist Emily Gunnis‘ Erstling „Das Haus der Verlassenen“ nicht. Trotzdem mangelt es diesem Buch in keiner Weise an Spannung.
Beruhend auf wahren Begebenheiten
Die Thematik, die im Mittelpunkt des Romans steht, beruht auf ebenso realen wie traurigen Begebenheiten. Obwohl St. Margaret‘s, so der Name des titelgebenden Hauses der Verlassenen, ein fiktiver Ort ist, existierten in Großbritannien und Irland nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Heime für ledige Mütter und ihre Kinder - dem einen oder anderen vielleicht auch als „Magdalenenheime“ ein Begriff. Es war an der Tagesordnung, die hochschwangeren Frauen, die von ihren Familien verstoßen wurden, buchstäblich bis zum Umfallen schuften zu lassen. Nach der Geburt nahm man den jungen Müttern oft die Kinder weg und vermittelte sie an adoptionswillige Paare. In den Anmerkungen der Autorin zum Schluss des Buches wird deutlich, wie sehr sie dieses Thema beschäftigt und wie intensiv sie dafür recherchiert hat.
Die Perspektive der Geschichte pendelt zwischen den Fünfzigerjahren und dem Jahr 2017 hin und her. Emily Gunnis beschreibt die Zustände in dem von Nonnen gnadenlos geführten Heim mit schmerzhafter Präzision. Auch die gesellschaftlichen Umstände, die dazu führten, dass unverheirateten schwangeren Frauen kaum eine Wahl blieb, als Obdach in einem dieser Heime zu suchen, werden von der Autorin unmissverständlich nachgezeichnet.
Albträume und Fieberfantasien im Angesicht des Todes
Und – wie bereits erwähnt – auch die Spannung bleibt nicht auf der Strecke. Mehrere rätselhafte Todesfälle umspannen den gesamten zeitlichen Bogen, wie der des Geistlichen Pater Benjamin, dessen Leiche nach einigen Jahren im unterirdischen Tunnelsystem von St. Margaret’s aufgefunden wird. Die letzten Momente der Sterbenden im Angesicht des Todes, die in der Vergangenheit allesamt Schuld auf sich geladen haben, zeichnet Emily Gunnis so bildhaft nach, dass sie jedem Gruselfilm zur Ehre gereichten. Luzid anmutende Albträume und Fieberfantasien sind das Letzte, das die Täter von damals vor ihrem Ende sehen. Die Geister von damals kehren noch einmal zu ihnen zurück, bevor die Todgeweihten ihren letzten Atemzug tun.
Einst prachtvolles Anwesen, heute Ruine
Das Setting des Romans verstärkt den Gruselfaktor zusätzlich, denn das einst so prachtvolle Heim St. Margaret’s im ländlichen Sussex ist inzwischen nur noch eine Ruine, deren Abriss kurz bevorsteht. Ein Blick auf das großartige Cover genügt schon, um die Bilder im Kopf des Lesers in Gang zu setzen.
Fazit:
„Das Haus der Verlassenen“ hat viel Potenzial für eine Verfilmung. Aber selbst wenn daraus nichts wird, gelingt es Emily Gunnis mit ihrer großartigen Art des Erzählens spielend, ihre Leserinnen und Leser zu fesseln. Obwohl man „Das Haus der Verlassenen“ auf den ersten Blick nicht in die Schublade „Spannungsliteratur“ einsortieren kann, spreche ich mit sehr gutem Gewissen eine absolute Empfehlung für dieses Buch aus.
Emily Gunnis, Heyne
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