Die Zeit, die bleibt

  • Tropen
  • Erschienen: Februar 2019
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Jörg Kijanski
55°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2019

Paranoia und die Erfindung der Langsamkeit

In einem Münchener Klinikum kämpft sich der Rechtsanwalt Ewart Colver zurück ins Leben, nachdem er bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt wurde. Doch was heißt hier eigentlich Unfall, schließlich fuhr das Fahrzeug geradewegs auf ihn zu. Es muss ein Mordattentat gewesen sein, welches mit jenem Vorfall von vor rund sechs Jahren zusammenhängt. Damals traf in Bremerhaven ein Frachtschiff aus Kolumbien ein, voll beladen mit Banen, aber auch mit reichlich Drogen und einem toten Somalier.

Colver, damals noch für eine Versicherung tätig, war als Gutachter involviert und so muss er in das Fadenkreuz der Drogenmafia geraten sein. Aber warum sechs Jahre später? Und wäre ein Verkehrsunfall unter Alkohol- oder Drogeneinfluss nicht eine ebenso wahrscheinliche Erklärung? Colver steigert sich immer mehr in seine Wahnvorstellungen, die ihn letztlich mit der Realität konfrontieren…

Element of Crime lassen grüßen

„Finger weg von meiner Paranoia, die war mir immer lieb und teuer“ singen Element of Crime, und das könnte der Soundtrack zu dem Roman sein. Ein Protagonist, der überall Gespenster sieht, wo gar keine sind. Währenddessen erzählt Thomas Palzer in seinem neuen Roman „Die Zeit, die bleibt“ in einem zweiten Erzählstrang, die Geschichte von Shenja Orlov, der als Jugendlicher im Moskau des Jahres 1997 lebt. Die Auswirkungen der von Michail Gorbatschow eingeleiteten Perestroika und damit der Umbruch des gesamten sowjetischen Systems haben sich längst bemerkbar gemacht.

Doch während einige davon profitieren, gehören andere, wie Shenjas Eltern, zu den Opfern des neuen Systems. So träumt auch Shenja von der guten alten Zeit, von einem starken Russland, sogar von Stalin und flüchtet in die Traumwelt des Darknet, wo er sich bei „Volk ohne Raum“ mit Gleichgesinnten austauscht.

„Manchmal fragte er sich, ob seine Ängste vielleicht nur einer Einbildung entsprangen. Vielleicht gab es ja gar niemanden, der ihm nach dem Leben trachtete? Vielleicht reimte er sich das alles bloß zusammen, weil sein Denkapparat immer für alles ein Motiv benötigte. Schließlich musste selbst ein sogenannter blinder Zufall gar nicht blind sein, sondern konnte einen Grund haben und mathematischen Gesetzen unterworfen sein. Dass sein Unfall nur ein Unfall gewesen sein könnte, der besonders unglücklich verlaufen war – mit diesem Gedanken wollte er sich ebenso schlecht anfreunden wie die Polizei. Aber manchmal ließen sich die Gründe für das, was ein Mensch getan hatte, einfach nicht bestimmen. Manchmal steckte schlichtweg nicht mehr dahinter als Absurdität.“

„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“, der aus dem Jahr 1976 stammende Bestseller des Kommunikationswissenschaftlers und Psychotherapeuten Paul Watzlawick gibt ein stückweit das Credo des Romans vor. Anders als bei vorgenanntem Bestseller treffen hier psychotische Schübe und Wahnvorstellungen aller Art aufeinander, wobei die Angst des Protagonisten vor Verfolgung immer mal wieder schleichend in die Handlung einfließt. Diese ist über weite Strecken recht langatmig, zumal die beiden Erzählstränge zunächst erkennbar nichts miteinander gemein haben.

Die „Auflösung“ folgt verständlicherweise erst am Schluss. Bis dahin heißt es durchhalten, denn der sehr überschaubare Spannungsbogen, der erst im letzten Drittel ein bisschen Tempo aufnimmt, mäandert sich träge zur Zielgeraden. So kann es schon mal über fünfzehn Seiten dauern bis der Besuch einer Tanzschule sein Ende findet oder sich über zehn, zwanzig (oder waren es mehr) Seiten ziehen, bis Shenja seiner Freundin ein Geschenk „besorgt“ und später überreicht. Beides hätte man weglassen oder zumindest auf wenige Seiten reduzieren können, aber dann wäre das ohnehin überschaubare Buch wohl unter die 200-Seiten-Marke gerutscht.

„Während er angestrengt kaute, fragte er sich, ob es zwischen den Erdnüssen irgendeinen Zusammenhang gab, der erklärte, warum sie alle sich ausgerechnet jetzt und gleichzeitig in seinem Mund befanden und von seinen Zähnen zermalmt wurden.

Kausalzusammenhänge waren immer willkürlich hergestellt.“

Fazit:

Wer sich nicht vor Längen im Handlungsablauf scheut und in eine teils surreal anmutende Welt wahnwitziger Abgründe blicken möchte, der darf einen Versuch wagen. Was ist Wahrheit, was ist Wahn und was passiert, wenn beides aufeinandertrifft? Der Leser bleibt am Ende, dem Thema angemessen, irritiert zurück.

Die Zeit, die bleibt

Thomas Palzer, Tropen

Die Zeit, die bleibt

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