Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia

  • DuMont
  • Erschienen: Januar 1998
  • 3
  • Palermo: Sellerio, 1996, Titel: 'I delitti di via Medina-Sidonia', Seiten: 291, Originalsprache
  • Köln: DuMont, 1998, Seiten: 371, Übersetzt: Monika Lustig
  • München: Goldmann, 2000, Seiten: 318
Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia
Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia
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Wolfgang Reuter
70°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2003

Ein wortgewaltiger, selbstironischer, witziger Monolog eines unverbesserlichen Altachtundsechzigers

Vorhang auf!

Im Scheinwerferlicht erscheint Santo Piazzese, der heutige Alleinunterhalter, auf der Bühne und erzählt eine Geschichte von sich selbst als Lorenzo La Marca.

(Die Kulisse ist ein Bild Lorenzos als Clown, eine Torte in der wurfbereiten linken Hand, darauf ´68 abgebrannte Kerzen...)

Im Folgenden ein kurzer Überblick über Ort und Personen der Handlung mit repräsentativen Originalzitaten des Meisters:

  • Ort der Handlung, sowie aktueller Wetterbericht:
    Palermo in den neunziger Jahren, Anfang Juni. Es ist heiß, der Schirokko bringt die Stadt zum glühen.
  •  

    "Jetzt hatte der Schirokko die Altstadt völlig im Griff und zückte seine Waffe Kaliber 45 Grad Celsius, mit der er jegliche Art von Panzer durchbohrte."

     

     

     

    "Die Saison war in Palermo voll im Gange, was an der hohen Konzentration kartoffelessender Krauts zu erkennen war, die mit phosphoreszierenden Shorts, weißen Unterhemden und schweißabsorbierenden Stirnbändern durch die Straßen marschierten. Sie sahen so aus, als wollten sie mit ihren mächtig gewölbten Bäuchen ganze Panzerwagen in Richtung polnische Grenze verschieben"

     

  • Personen der Handlung:
    • Lorenzo La Marca, Biologe am Institut für angewandte Biologie an der Universität Palermo (Wie übrigens Piazzese selbst), überzeugter Single, alter "Achtundsechziger", Filmliebhaber, Musik- und Literaturkenner.
    •  

      "...ein Ex-Achtundsechziger, gebildet, intelligent, raffiniert, ironisch und selbstbewusst - was haltet ihr von diesem Selbstportrait? Und darüber hinaus bin ich, wenn das Licht von einer bestimmten Seite fällt, beinahe schön, so wie Peter O´Toole in dem Film ´Whats new Pussicat´..."

       

    • Raffaele Montalbani, Freund und ehemaliger Kollege Lorenzos, ausgewandert in die USA, zurückgekehrt nach Palermo als erstes Mordopfer. Sohn des Prof. Ruggiero Montalbani, dem Begründer des Instituts.
    •  

      "Man stelle sich eine Vogelscheuche vor, die amateurhaft aus Resten gebastelt worden ist, des weiteren noch einen wirren, schwarzen Haarschopf, einen zotteligen Bart, und man kleide die Figur im Geiste mit Lagerbeständen von der letzten Fuhre der "San Vincenzo" für die Opfer des Erdbebens im Jahre 1908"

       

    • Darline Campbell, Amerikanerin, Verlobte und Braut Raffaeles, als Witwe hat sie für kurze Zeit ein Verhältnis mit Lorenzo.
    • Michelle Laurent, Gerichtsmedizinerin, hatte vor 10 Jahren ein Verhältnis mit Lorenzo, eine Wiederbelebung desselben verhindert ihre unglückliche Ehe mit dem erlauchten Prof. Benito De Blasi Bosco, ein Chirurg und außerdem Vorsitzender der "Bruderschaft der Ritter der Insel San Giuliano"
    • Vittorio Spotorno, Kommissar im Polizeipräsidium, Freund Lorenzos aus der Studienzeit, verheiratet aus Überzeugung, möchte Lorenzo ständig das Singleleben ausreden.
    • Mitglieder des Fachkollegiums:
    •  

      "So viel Gehirn und keine Knarre"

       

    • Filippo Serradifalco, genannt Fifi, Nachfolger von Prof. Ruggiero Montalbani - der an akuter Leukämie verstorben ist - als Direktor des Fachbereichs Angewandte Biologie.

    •  

      "...er streckte das Kinn vor, wie ein Buddha, der unter Verdauungsstörungen leidet. Sein Gesicht gestattete ihm keine großen Variationen der Mimik. Was mancher auch über Omar Sharif sagte, nachdem er die Rolle des Doktor Schiwago gespielt hatte. Serradifalco verfügte über das gesamte Ausdrucksvermögen einer reifen Birne."

       

    • Mauro de Gregori, Milly Clemente, Giovanni di Maria, Cannarozzo genannt Don Mimi, das Faktotum del Instituts mit lebenslangem Wohnrecht im botanischen Garten, Francesca und Alessandra, zwei Dissertantinnen, Lorenzos Schwester und Schwager samt Kinderschar etc. etc.

      Über alle diese Personen liegen - wie man sich mittlerweile denken kann - ausführliche Beschreibungen Lorenzos vor.

So nebenbei - im wahrsten Sinne des Wortes nebenbei - gibt es auch eine Handlung:

Lorenzo La Marca befindet sich in seinem Arbeitszimmer im Fachbereich, das einen Ausblick auf die städtischen Botanischen Gärten bietet. Als er aus dem Fenster sieht, ist er sich nicht sicher, ob ihm die Hitze oder seine Kurzsichtigkeit einen Streich spielt, denn er glaubt, einen Erhängten am Riesengummibaum zu erkennen. Er verständigt telefonisch Don Mimi, der im Garten wohnt, und der findet tatsächlich eine Leiche, aufgehängt mit einem Elektrokabel am Baum.

Lorenzo benachrichtigt seinen Freund Kommissar Vittorio Spotorno. Zunächst ist die Identität des Toten nicht klar, sein Gesicht ist aufgedunsen und entstellt. Dollarscheine in den Hosentaschen deuten auf einen Amerikaner. Alles sieht nach einem eindeutigen Fall von Selbstmord aus. Doch einzelne Details am Fundort der Leiche lassen Lorenzo daran Zweifeln. Er widmet sich aber zunächst seinem Single-Leben, streift durch Palermo, trifft sich nach 10 Jahren wieder mit Michelle Laurent, der für den Fall zuständigen Gerichtsmedizinerin, bis ihn ein Anruf von Kommissar Spotorno erreicht. Der Tote ist identifiziert, es ist Raffaele Montalbani, ein früherer Freund und Kollege Lorenzos, Sohn des ehemaligen Institutsvorstandes. Er ist vor längerer Zeit in die USA ausgewandert. Was macht er in Palermo?

Lorenzo äußert Spotorno gegenüber seinen Verdacht, dass es sich nicht um Selbstmord handelt, aber die Autopsie ergibt Tod durch Ersticken ohne äußere Verletzungen. Unerwartet trifft bei La Marca ein Brief von Raffaele ein, offensichtlich verspätet und vor seiner Abreise aus den USA geschrieben. Darin kündigt er Lorenzo seine Hochzeit mit der Amerikanerin Darline an und möchte ihn als Trauzeugen haben. Ist das der Brief eines Selbstmordkandidaten?

Schließlich entscheidet sich der Biologe, den Fall in die Hand zu nehmen. Er nimmt Kontakt zu Darline auf, die Raffaele nach Palermo gefolgt ist. Sie ist alles andere als eine trauernde Witwe, und so entwickelt sich ein Verhältnis zwischen den Beiden. Nebenbei erhält er auch einige Informationen zu dem Fall, wie etwa einen Satz Computerdisketten mit Protokollen wissenschaftlicher Arbeiten vom Fachbereich aus den letzten Jahren, außerdem hat Raffaele versucht, ein Messgerät für radioaktive Strahlung zu bekommen und Kontakt zum Institut aufzunehmen. Ist das Mordmotiv im Universitätsbereich zu suchen? Als Lorenzo versucht, seine Ermittlungen in diese Richtung zu lenken, wird er überfallen und niedergeschlagen. Der Täter versuchte offensichtlich, an die Disketten heranzukommen...

Dieses Buch liest sich tatsächlich wie ein wortgewaltiger, selbstironischer, witziger Monolog eines unverbesserlichen Altachtundsechzigers. Lorenzo La Marca, der viel mit seinem Schöpfer Piazzese gemeinsam haben dürfte, spielt die Rolle des überzeugten Single in Palermo, des rhetorisch gewandten Zynikers, des Spaßvogels, der besonders durch seine manchmal wirklich köstlichen, schonungslosen oder überzogenen Kommentare seiner Umgebung, seiner Mitmenschen oder sich selbst auffällt.
Seine täglichen Handlungen sind untrennbar verbunden mit Zitaten und Assoziationen aus Film, Musik und Literatur, kein Zeitungslesen oder Hemdenwechseln ohne passende Filmmusik, keine Dusche ohne ausführlich kommentierten Jazz.

Wenn man sich als Leser in diesem Metier auskennt und Lorenzos Gedanken nachvollziehen kann, dann ist eine wirklich unterhaltsame Lektüre garantiert. Ich hab manchmal einfach drauflosgelacht. Seine Sprache hat immer ein gewisses Niveau, ist oft deftig, witzig, ironisch, manchmal zynisch, gelegentlich scheinen die kaskadenhaft übereinandergeschichteten Geistesblitze kein Ende nehmen zu wollen.

Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten. Denn vor lauter intellektuellem Geblödel muss man sich oft sehr konzentrieren, um den dünnen Faden der Handlung nicht zu verlieren. Und manchmal übertreibt er auch in seiner penetranten Selbstdarstellung, besonders in der Mitte des Buches, wo es Leerläufe gibt und ich schon öfter mal wissen will, wie es eigentlich mit der Geschichte weitergeht.

Ein Beispiel dafür ist der Moment, wo Lorenzo zu Hause niedergeschlagen wird: Allein in dem Zeitraum zwischen dem Schlag auf dem Kopf und seinem Erwachen aus der Ohnmacht, also dort, wo eine Handlung eigentlich etwas Tempo und Action gewinnen könnte, lesen wir erstaunt auf geschlagenen vier Seiten Abhandlungen über John Wayne, Zeus und Pallas Athene, Lorenzos Schulzeit, William Holden, das Unterbewusste, Toby Peters, und die Schlacht von Austerlitz.

Bei so viel Übereifer im Zitieren passiert aber auch so mancher Faux Pas:

 

"Bei den Klängen des Harfenquartetts von Bartok, gespielt vom Takacs-Quartett, überflog ich die L´Ora..."

 

Doch das sog. "Harfenquartett" ist das op.74 von Beethoven, und nicht von Bartok.

 

"...Coltrane legte sich mit Naima ins Zeug... und er spielte wirklich, als ginge es um sein Leben."

 

Hier ist wohl "Naima" von "Giant Steps" gemeint, ein poetisches, lyrisches Stück Musik (Naima ist der Name von Coltranes Frau), vornehmlich getragen von Wynton Kelly am Piano und einem bemerkenswerten Bass von Paul Chambers. Coltrane spielt nur zu Beginn und am Schluss eine Melodie aus längeren, ruhigen Tönen. Überhaupt keine Rede davon, dass er spielt, "als ginge es um sein Leben".

Und die CD von Tom Waits heißt nicht "Nighthawks at the dinner", sondern "Nighthawks at the diner".

Nun könnte man sagen, dass ich das ja nicht so eng sehen soll, aber wenn jemand wie Piazzese so eindeutig und vordergründig den Anspruch des Kulturliebhabers und Kunstkenners stellt, so sollte er in dieser Beziehung schon etwas genauer sein. Aber ich bin mir sowieso nicht sicher, ob es irgendetwas gibt, was Piazzese ernst nimmt. Doch vielleicht verstellt er sich ja nur.

Seine Stärke ist das ironisch-satirische Erzählen, seine Fähigkeit als origineller Entertainer. In dieser Beziehung hat das Buch einen großen Unterhaltungswert. Gut und authentisch gelungen sind seine Schilderungen von Palermo, man fühlt sich direkt in die Stadt und ihre Atmosphäre hineinversetzt, auch die Szenen am Land bei seiner Schwester hinterlassen einen lebendigen Eindruck.

Weniger gut ist er dort, wo es um den Aufbau und Fortschritt einer hinreichend spannenden Handlung im Sinne eines Kriminalromans geht. Die Lösung der ganzen Geschichte ist nicht wahnsinnig originell. Aber vielleicht interessiert ihn das auch gar nicht so besonders.

(Vorhang. Applaus. Einzelne Buhrufe von den Stehplätzen. Ein leises da Capo von der Galerie.)

Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia

Santo Piazzese, DuMont

Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia

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