Der Kreidemann

  • Der Hörverlag
  • Erschienen: Januar 2018
  • 14
  • London: Michael Joseph, 2017, Titel: 'The chalk man', Originalsprache
  • München: Der Hörverlag, 2018, Seiten: 6, Übersetzt: Devid Striesow
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Carola Krauße-Reim
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2018

Man darf nichts als gegeben annehmen

Ein Plot mit zwei Zeitebenen

Tudor erzählt ihre Geschichte auf zwei Zeitebenen. Der zwölfjährige Ed lebt mit seinen Eltern und Freunden in den 80er Jahren in einer Kleinstadt in England. Hier erleben die Kinder die dramatischen Erlebnisse, die Ed im Jahr 2016 wieder einholen. Durch den ständigen Wechsel zwischen 1986 und 2016 wird von Beginn an eine Spannung aufgebaut, die bis zum Schluss anhält, denn man ahnt, was damals geschah ist noch lange nicht vorbei. Zwar wurden 1986 Lösungen präsentiert, aber die können ja nicht so ganz stimmen, wenn nach 30 Jahren wieder unheimliche Strichmännchen auftauchen. Also, was war falsch an den Lösungen von 1986, und was ist der Auslöser, dass alles 2016 wieder von vorne beginnt?

Ein dramatisches Erlebnis nach dem anderen garantiert Spannung

Auslöser aller Vorkommnisse ist der schwere Unfall auf dem Jahrmarkt 1986. Ed lernt dabei Mr. Halloran kennen, seinen neuen Lehrer. Der ist anders als seine Kollegen, nicht nur, weil er Ed wie einen Erwachsenen behandelt, sondern auch, weil er aufgrund einer Pigmentstörung schneeweiße Haut und Haare hat. Er bringt Ed und seine Gang auf die Idee, mit Hilfe der geheimen Kreide-Strichmännchen-Sprache zu kommunizieren. Und schon ist ihm sein Spitzname sicher: Der Kreidemann.

Doch kaum setzten sie die Idee in Taten um, passieren am laufenden Band schreckliche Dinge. Es gibt Abschiede, Drohungen, Missbrauch, Schlägereien, Verletzte und Tote. Und immer spielen die Strichmännchen eine Rolle. Das ganze gipfelt im Auffinden der zerstückelten Mädchenleiche durch Ed und seine Freunde.

Doch der Albtraum setzt sich 2016 fort und fesselt den Leser aufs Neue. Wieder spitzen sich die Ereignisse zu. Der Leser kommt gar nicht zum Verschnaufen, so klatscht Tudor ihm die Spannung um die Ohren. Ständig fragt man sich, "wie passt das jetzt wieder ins Bild?" und zack - schon wieder ein Zwischenfall. Ständig gibt es Kehrtwendungen, die alles was sicher scheint zu Nichte machen. Im Laufe der Geschichte kommen Dinge ans Licht, die bis dahin rätselhafte Ereignisse erklären, aber gleichzeitig neue Frage aufwerfen. Durch die zwei Zeitebenen und die ständige Dramatik schafft es die Autorin, den Leser bei der Stange zu halten - und zwar vom ersten bis zum letzten Satz.

Ed - ein ziemlich ungewöhnlicher Protagonisten

C.J. Tudor lässt die Geschichte von Ed erzählen - also aus der Sicht eines Zwölfjährigen. Eine ungewöhnliche Perspektive für einen Thriller. Aber Tudor schafft es hervorragend, sich in die Psyche eines Heranwachsenden hinein zu versetzen. Geheimnisse haben, Verbotenes ausprobieren, Eifersucht und Rivalität, aber auch Spiele, Radfahren und von morgens bis abends zusammen Dinge erleben. Freunde sind enorm wichtig, wobei scheinbar ewig währende Freundschaften von einem Tag auf den anderen vorbei sein können.

Fat Gav, Hoppo, Metal Mickey und Nicky, das einzigste Mädchen, sind Eds Freunde. Ed selber ist eher der Ruhige, der Außenseiter in der Gruppe. Er sammelt Dinge, allen möglichen Kram, den er manchmal auch stiehlt.

Als Erwachsener, 2016, ist Ed immer noch ein verschrobener Einzelgänger. Inzwischen Lehrer, lebt er weiter im Haus seiner Kindheit, allein, bis auf seine Untermieterin und seine Sammlung. Die hat inzwischen so enorme Ausmaße angenommen, dass seine Erinnerungskisten ein ganzes Zimmer füllen. Seine Einsamkeit betäubt Ed mit zu viel Alkohol, seine Angst vor der erblichen Alzheimer-Krankheit kann er nicht betäuben. Von seinen Freunden sind ihm nur Fat Gav und Hoppo geblieben.

Dass der Protagonist die Geschichte erzählt, ist schon eine prima Idee, dass er es teilweise aus der Sicht eines Zwölfjährigen tut ist genial. Der Leser muss sich in die Psyche eines Kindes versetzten, quasi zurück in die eigene Kindheit gehen, um Ed und seine Gang zu verstehen. Sobald der erste Switch von 1986 zu 2016 kommt, fragt man sich, was aus den Kindern geworden ist, und warum sie so geworden sind.

Auf der einen Seite die Kinder, auf der anderen die Erwachsenen

Nicht nur die Welt der Kinder ist Teil des Geschehens, auch die Erwachsenen und ihre Sicht der Dinge tragen zum tragischen Sommer 1986 bei. Die Welt der Erwachsenen wird von Tudor genauso flüssig erzählt, wie die der Kinder. Die Probleme ähneln sich und sind doch andere. Hoppos Mutter kämpft mit der Armut und Fat Gavs Eltern müssen ihren Wohlstand zelebrieren. Eds Mutter ist Ärztin in einer Abtreibungsklinik, Nickys Vater Pfarrer. Da sind Spannungen vorprogrammiert. Doch die Probleme der Erwachsenen werden aus der Sicht des Kindes Ed geschildert, und so bleiben sie nebulös und klären sich teilweise erst 30 Jahre später.

Viele kleine Lösungen führen zur Großen

Die zahlreichen Ereignisse im Sommer 1986 und kurz danach werden Schritt für Schritt aufgedröselt. Jede einzelne Lösung ist ein Puzzleteil, das zum Verständnis der ganzen Geschichte beiträgt, und zum Schluss in der Auflösung des Mordes an dem Mädchen mündet. Dabei greift eins ins andere, alles wird verwoben, manchmal auch nur andeutungsweise, und heraus kommt ein Ende, dass so nicht vorherzusehen war, aber genial ist. Wie Eds Vater sagte: "Man darf nichts als gegeben annehmen".

Ein Thriller der Extraklasse

Ich bin ja immer skeptisch, wenn ein Buch schon vor dem Erscheinen über den grünen Klee gelobt wird. Aber hier war das Lob gerechtfertigt. C.J. Tudors Erstlingswerk überzeugt in jeder Hinsicht. Flüssiger Schreibstil, schlüssiger Plot, glaubwürdige Personen und Spannung von Anfang bis Ende. Das einzige, was ich bemängele sind die etwas zu kurz gekommenen Charaktere der Gang. Ich hätte mir gewünscht, etwas mehr von Fat Gav, Metal Mickey, Hoppo und Nicky zu erfahren, um tiefer in ihr Leben eintauchen zu können. Immerhin sind sie für die Geschichte genauso wichtig wie Ed. "Der Kreidemann" ist ein genial konstruierter, extrem spannender Thriller, den man nur in Angriff nehmen sollte, wenn man nichts anderes vor hat, denn man kann ihn nur schlecht aus der Hand legen.

Der Kreidemann

C. J. Tudor, Der Hörverlag

Der Kreidemann

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