Jack the Ripper - Anatomie einer Legende

  • Militzke
  • Erschienen: Januar 2017
  • 0
  • Leipzig: Militzke, 2017, Seiten: 304, Originalsprache
Jack the Ripper - Anatomie einer Legende
Jack the Ripper - Anatomie einer Legende
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2017

Serienkiller (nie erwischt) = Geburt einer Legende

London stand 1888 im Bann des Rippers. (Vermutlich) nur ein Mann hielt eine Mehrmillionen-Stadt in Atem, obwohl er die Grenzen des Slumviertels Whitechapel nicht überschritt; eine kluge Entscheidung, da Jack the Ripper auf diese Weise vor allen jene bedrohte, für dessen Schicksal die Reichen und Mächtigen sich kaum interessierten. Zudem waren sie selbst offenkundig nicht bedroht, was stets eine Bremse darstellt, wenn es darum geht, Probleme - hier die gleichzeitige Ausgrenzung und Ausbeutung der Unterschicht - wurzelnah anzugehen.

Wer war Jack the Ripper überhaupt? Man weiß faktisch nichts über ihn. Die Kriminalistik steckte 1888 selbst in London, der womöglich fortschrittlichsten Metropole ihrer Epoche, noch tief in den Kinderschuhen. Somit war niemand auf einen Verbrecher wie Jack the Ripper vorbereitet - zwei Punkte, die Hendrik Püstow und Thomas Schachner in den Kapiteln "Prolog" (S. 7-12) und "London, 1888" (S. 13-20) knapp aber prägnant herausarbeiten.

Selbst über die Zahl seiner Morde herrscht Uneinigkeit. Der "Kanon" listet fünf Bluttaten auf, die dem Ripper angelastet werden. Wie die Verfasser belegen, ist nicht einmal diese Tatsache' gesichert. Deshalb stellen sie im Groß-Kapitel "Die Mordserie" (S. 21-165) nicht nur fünf, sondern sechs Mordopfer vor. Hat der Ripper schon drei Wochen vor Mary Ann Nichols, die in der Nacht vom 30. auf den 31. August 1888 ihr Ende fand, eine Frau namens Martha Tabram umgebracht? Die Intensität des Angriffs spricht dagegen, doch ist es möglich, dass der Ripper noch übte'. Die rasant ansteigende Kurve der verübten Gewalt, mit der er auf seine Opfer eindrang, passt ins Bild eines Serienkillers, der sich allmählich hocharbeitet', bis das Ergebnis seiner Attacken den kranken Wunschvorstellungen gleichkommt.

Püstow & Schachner stellen diese sechs Morde, ihre Vorgeschichten und die Ermittlungen ausführlich dar. Sie lassen zeitgenössische Quellen sprechen, die den Schrecken unmittelbar und die Tatumstände zeitnah beschreiben. Die zahlreichen Vermutungen, Trugschlüsse und medialen Übertreibungen werden aufgeführt und auf ihre Bedeutung untersucht. Dabei kommen in der "Ripper-Forschung" liebgewonnene und tradierte Fakten' auf den Tisch, die sich im Licht einer nüchternen Betrachtung oft als Wunschdenken, Irrtümer oder Lügen erweisen.

Im Groß-Kapitel "Die Verdächtigen" präsentieren Püstow & Schachner 20 Männer, die schon damals oder später für Jack the Ripper gehalten wurden. Auch hier geizen sie nicht mit biografischen Fakten, die oft schwierig zu ermitteln waren, weil es sich meist um Menschen aus der Unterschicht handelt, die kaum nachprüfbare Zeugnisse hinterließen. Wiederum hält sich das Autorenduo strikt an die Tatsachen, was dazu führt, dass niemand definitiv als Jack the Ripper identifiziert werden kann. Warum dies so ist, verdeutlicht eine Liste am Ende jeder Verdächtigen-Biografie: Stichwortartig werden hier die wichtigsten Argumente für und wider die Ripper-These wiederholt.

Wie tief die Autoren in die Materie eingestiegen sind, zeigt die ausführliche Liste ihrer Quellen (S. 275-294). Viel Grundsätzliches wurde im Original überprüft, was angesichts der oft wüsten Theorien' und Ringschlüsse, die in mehr als einem Jahrhundert der "Ripperologie" entwickelt wurden, für klare Sicht und die Erkenntnis sorgt, dass eine endgültige Entlarvung wohl ausbleiben wird. Abgeschlossen wird dieses Buch durch ein Personenregister (S. 295-297), ein Literaturverzeichnis (S. 298-301) und ein Bildverzeichnis (S. 302).

Ein irrer Killer wird zur "Legende"

Er hat - und nicht einmal das steht felsenfest - nur' fünf Menschen umgebracht. Trotzdem ist "Jack the Ripper" praktisch ein Synonym für "Serienmörder" geworden. Mehr noch: Der Ripper stieg zu einem modernen Mythos auf, der an die Seite prominenter Unholde wie Dracula, Mr. Hyde oder Dr. Mabuse rückte. Dass der Ripper im Gegensatz zu ihnen tatsächlich existiert hat, trennt ihn nicht von den genannten Schauergestalten, denn Jack besitzt kein Gesicht: Er wurde nie gefasst, nie nachträglich identifiziert. Auf diese Weise bleibt er auf ewig ein schauerliches Mysterium.

Daran arbeiteten die Medien bereits, als der Ripper noch aktiv war. In den seither verstrichenen Jahrzehnten hat sich daran nichts geändert; im Gegenteil: Immer neue "Ripperologen" klopfen die (recht wenigen) gesicherten Fakten ab, graben verborgene Informationen aus und weben daraus ihr eigenes Bild der historischen Ereignisse. Die unzähligen Wissenslücken ermöglichen das lebhafte Hin- und Herschieben oft isolierter Tatsachen; als Füller und Kleber dienen Fälschungen, Fehler und Spinnereien.

Immer wieder berichten Püstow & Schachner von abenteuerlichen und aberwitzigen Schlussfolgerungen, die keineswegs der Vergangenheit vorbehalten bleiben. Wenn sie den Verdächtigen Walter Sickert vorstellen, fehlt selbstverständlich nicht der pseudo-wissenschaftliche Amoklauf der Thriller-Autorin Patricia Cornwell. Sie ist seit Jahren besessen vom Glauben, den deutsch-englischen Maler als Ripper entlarvt zu haben. Mehrere Dollarmillionen hat sie sich ihre Nachforschungen kosten lassen, Sickert-Gemälde und Möbel gekauft und zerlegt, um noch nach mikroskopischen Hinweisen zu fahnden, die sie zur Formel Sickert = der Ripper addiert. Obwohl Cornwell eklatante Deutungsfehler nachgewiesen wurden, ist sie weiterhin davon überzeugt, den Richtigen gefunden zu haben: 15 Jahre nach "Portrait of a Killer: Jack the Ripper, Case Closed" (2002; dt. Wer war Jack the Ripper? Portrait eines Killers) veröffentlichte sie (zeitgleich mit diesem Buch) "Ripper: The Secret Life of Walter Sickert" (2017).

Galerie der Ripper

Püstow & Schachner wagen sich nicht auf allzu brüchiges Eis. Sie bleiben auf dem Boden konkreter Tatsachen, die spannend genug sind. Das bedeutet nicht, dass die Autoren genüsslich bzw. publikumswirksam Jacks Morde ins Zentrum stellen. Auch hier beschränken sie sich auf nüchterne Fakten - und (falls vorhanden) jeweils ein oder zwei Tatort- oder Seziersaal-Fotos. Selbst der CSI-gestählte Leser dürfte mir zustimmen, dass diese leicht verschwommenen Schwarzweiß-Bilder ausreichen, um zu diesem Schluss zu kommen: Jack the Ripper war kein genial-attraktiver Hannibal Lecter, sondern schlicht entsetzlich in seinem Mord- und Schnetzelwahn. Doch ihn schützt der zeitliche Abstand. Es gibt keine Zeitzeugen mehr, die den realen Horror fassbar machen können. Zudem tötete Jack in der "viktorianischen Ära", die heute gern romantisiert wird und ein trivialkulturelles Eigenleben entwickelt hat, das der historischen Realität nur oberflächlich entspricht.

Jack the Ripper. Anatomie einer Legende erschien erstmals 2006 und wurde 2008 sowie 2017 nicht nur neu aufgelegt, sondern ergänzt und erweitert. Es gibt hierzulande nicht gerade viele Darstellungen, die über die blutigen Elemente der Ripper-Saga hinausgehen. Püstow & Schachner ist ein (deutsches) Standardwerk gelungen, das sich an die Fakten hält. Dass dabei liebgewonnene Ripper-Identitäten - sogar Queen Victorias Sohn Prinz Albert soll das Skalpell geschwungen haben - gleich scharenweise über Bord gehen, ist keineswegs ein Verlust.

Blicke über den Buchrand

Wenn man Kritik üben muss, dann an der ein wenig zu weit getriebenen Sachlichkeit. Nicht der Text ist das Problem, sondern die biedere bis langweilige Präsentation. Das Layout ist geradezu leserabschreckend hausbacken. Die durchaus gut ausgewählten Fotos - sie zeigen u. a. Tatorte, zeitgenössische Flugblätter, Zeitungsausschnitte, einige Briefe, die der Ripper angeblich persönlich geschrieben haben soll, sowie (falls vorhanden) Porträts der Verdächtigen - weisen bestenfalls eine durchschnittliche Wiedergabequalität auf, was keineswegs immer auf die Vorlage zurückgeht.

In diesem Punkt kann das Internet helfen. Mit-Autor Schachner selbst hat 2000 die Website www.jacktheripper.de online gestellt. Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Informationen hochgeladen. Darunter sind alte Fotos, Pläne oder Originalquellen, die direkt eingesehen werden können. (Wem dies nicht ausreicht, lade www.casebook.org, das "Casebook: Jack the Ripper". In seinem Geburtsland widmet man sich dem Ripper erwartungsgemäß mit besonderer Vehemenz.)

Ebenfalls unglücklich wirkt das abrupte Ende. Als der letzte Verdächtige vorgestellt ist, bricht das Buch ab. Es gibt keine zusammenfassende Wertung, die Fakten sollen offensichtlich für sich sprechen. Was außerdem fehlt, ist eine echte Rechtfertigung für den Cover-Aufdruck "Update 2017". Freilich sind das Klagen auf hohem Niveau: Vergleicht man Jack the Ripper. Anatomie einer Legende mit dem Gros der "True-Crime"-Sachbücher, deren Autoren eher malträtieren als informieren, sind Püstow & Schachner unbedingt auf der sicheren Seite!

Jack the Ripper - Anatomie einer Legende

True-Crime: Die Realität ist härter, Militzke

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