Ihr letzter Blick

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 2015
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  • London: Constable & Robinson, 2014, Titel: 'Believe no one', Originalsprache
  • München: Goldmann, 2015, Seiten: 512, Übersetzt: Claudia Franz
Ihr letzter Blick
Ihr letzter Blick
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2017

Dem Bösen hartnäckig im Genick

Nur ein Zufallsfund enthüllt, dass im südlichen US-Staat Oklahoma ein Serienkiller umgeht, der sich auf alleinstehende Mütter mit einem Kind "spezialisiert" hat. Seine Opfer foltert er systematisch und mit grausamem Erfindungsreichtum zu Tode, die Leichen "entsorgt" er, indem er sie in Flüsse wirft oder in einsamen Wäldern begräbt.

Wahrscheinlich wäre der Mörder noch lange dank sorgfältiger Spurentilgung davongekommen, denn er beschränkt sich auf Menschen, die am Rand der Gesellschaft ein Leben in Armut, Hoffnungslosigkeit und Kleinkriminalität führen. Doch der aktuelle Leichenfund erregt das Interesse von Detective Chief Inspektor Kate Simms, einer schottischen Kriminalistin, die just an einem Austauschprogramm teilnimmt, das englische und US-amerikanische Polizisten wechselseitig mit den Ermittlungsmethoden und Kriminaltechniken der Kollegen vertraut machen soll.

Was als kriminalistische Übung begann, enthüllt nach und nach eine Mordserie, die bereits mehrere Mütter und Kinder das Leben kostete. Örtliche Polizeibeamte und FBI-Agenten intensivieren ihre Ermittlungen, während Simms durch ihren Mentor Nick Fennimore unterstützt wird, der eigentlich als Forensiker für die Polizei im schottischen Aberdeen tätig ist aber derzeit ein Buch in den USA vorstellt und gern bereit ist zu helfen, zumal Fennimore eine heimliche, derzeit nicht erwiderte Liebe zu Simms hegt.

Viele Sackgassen und Enttäuschungen warten auf ein Team, das sich weder dadurch noch durch überbehördliche Intrigen und Machtspiele von der lange nur schwachen Fährte ablenken lässt. Allmählich gibt es Ergebnisse - und die beunruhigende Erkenntnis, dass der Killer nicht allein "arbeitet": Ein dominanter "Führer" leitet ihn aus sicherer Entfernung an. Doch der Mörder ist unzufrieden und bricht aus. Er will endlich so töten, wie es ihn und nicht seinen "Partner" befriedigt. Wütend verlässt dieser sein Versteck, um den abtrünnigen Helfershelfer zu bestrafen. Dieser hat derweil ein neues Mutter-Kind-Paar in seine Gewalt gebracht, was die Ermittler unter zusätzlichen Erfolgsdruck setzt ...

Wölfe, Schafe - und Hütehunde

Ein ideenarm covergestaltetes Taschenbuch, das in einer Flut ähnlich gesichtsloser Bände verschwindet, landet nach kurzem Blick auf die ebenfalls nichtssagende bis abschreckende Inhaltsangabe trotzdem auf dem SUB dieses Rezensenten, gerät ihm nach vielen Wochen irgendwie in die Hände - und entpuppt sich als kleine Offenbarung! Solche Momente werden rar, je länger man liest und dabei lernt, dass Unterhaltung sich wiederholt - und zwar in deprimierend kurzen Zyklen - sowie von Routinen bestimmt wird. Hinzu kommt eine Tendenz, Handlung durch plotfremde Elemente aufzuschwemmen. Im modernen Kriminalroman drehen sich diese meist um die privaten Befindlichkeiten der Hauptfiguren; nicht gerade selten scheint das Verbrechen nur Feigenblatt für eine ganz normale Schnulze zu sein.

Ihr letzter Blick bietet dagegen klassische Kost im modernen Gewand. Hier steht die Kriminalistik im Vordergrund, während das Zwischenmenschliche auf seinen Platz verwiesen wird und im Hintergrund bleibt. Das ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Emotionen. Sie bleiben jedoch auf den Plot konzentriert, statt ihn zu beherrschen oder gar zu erwürgen (vgl. Elizabeth George, Tana French, Ann Granger u. viel zu viele andere). Dies mag darin begründet sein, dass "A. D. Garrett" ein Autorenpaar darstellt, dessen eine und offensichtlich keineswegs nur beratende Hälfte eine ausgewiesene Forensikerin ist, die sich im modernen Ermittleralltag auskennt.

Margaret Murphy - die andere Hälfte - war gut beraten, sich auf die daraus resultierende Realität einzulassen. Die gern in Seifenschaum badende Fraktion der Leser/innen mag gerade dies kritisieren, während jene geplagten Seelen, die sich nach einem "richtigen" Krimi sehnen, die relativ nüchterne Schilderung grausamer Taten bei ebenso sachlicher Darstellung der Ermittlungen voller Freude registrieren. Gerade die Zurückhaltung schürt den Schrecken, statt ihn durch ungebremste Dramatik ins Groteske zu übersteigern. Fans brachialer Folter-Pornos, wie beispielsweise Chris Carter sie förmlich zelebriert, dürften ebenfalls nicht auf ihre Kosten kommen, obwohl Garrett keineswegs abblendet, wenn sich Psychopath Will mit einem aktuellen Opfer beschäftigt. Doch Garrett gelingt es, dies als ausdrücklich böse herauszustellen und dem Täter sämtlichen Glanz zu rauben: Hier ist kein genialer Hannibal Lecter am Werk. Tatsächlich sind Will und Fergus jämmerliche Wichte.

Keine Jagd, sondern eine Fahndung

Auf der anderen Seite bleiben echte Geistesblitze ebenfalls aus. Die Ermittler sind im besten Fall motivierte und gut ausgebildete Spezialisten, die einfach ihren Job machen. Der stellt sich deshalb als scheinbar endlose Kette falscher Schlüsse und vergeblicher Suchen dar, während die Fahndung voranschreitet: so langsam, wie es logisch ist in einem Fall, der zunächst nur rudimentäre Indizien freigibt.

Deshalb ist es ebenfalls überzeugend, dass Fahndungs-Hightech in dieser Hinsicht lange kaum Fortschritte ermöglicht. Garrett schließt CSI-Magie aus. Die dort oft wie Wunder wirkenden Instrumente und Methoden sind nur so gut wie die Menschen, die sich ihrer bedienen - und die sind trotz guter Vorsätze fehlbar. Garrett verdeutlicht es u. a. durch die ins Geschehen einfließende Nutzung einer Vielzahl potenziell faktenschaffender Datenbanken, die jedoch nicht allein ihr Wert, sondern auch ihre mangelnde Verknüpfung auszeichnet: Konkurrenzdenken ist ein limitierender Faktor, der mangelhaftem Fahndungsgeschick mindestens zur Seite steht. Eifersüchtig hüten Institutionen, die zusammenarbeiten sollten, ihr Wissen oder wissen nicht einmal von anderen Informationsschätzen, weil die Medien der Gegenwart zwar Kontinente aber nicht zwangsläufig Behörden miteinander verbinden. Hinzu kommt immer wieder ein pervertiertes, auf Kosten und Nutzen - in dieser Reihenfolge - zentriertes "Denken", das es als Erfolg feiert, wenn Geld nicht ausgegeben, sondern zurücküberwiesen wird.

Mit Sheriff Launer bringt Garrett eine Figur ins Spiel, die in der Ermittlungsarbeit primär das Sprungbrett in eine politische Laufbahn sieht und nicht davor zurückscheut, die Medien als Instrument der eigenen Karriereplanung zweckzuentfremden, während fähige Kolleginnen und Kollegen ausgenutzt und als potenzielle Konkurrenten niedergehalten werden. Auch solche Praktiken ermöglichen es Will und Fergus ihre Mordserie fortzusetzen, obwohl sie wissen, dass man ihnen auf die Schliche gekommen ist: Es dauert einfach zu lange, bis ihnen die Verfolger bedrohlich im Nacken sitzen.

Dann ist das Ende nahe - ein Ende, das nur bedingt als dramatisches Finale inszeniert wird, in dem sich Ermittler und Täter im Duell messen. Stattdessen sterben Will und Fergus quasi zwischen den Zeilen. Ihren Schrecken haben sie da längst verloren: Zwar benötigt der Fahndungsapparat Zeit, um in Fahrt zu kommen, aber sobald dies geschehen ist, nageln das Ermittlerteam und seine Helfer die Mörder systematisch und spannend fest. Nicht einmal die bandübergreifende Suche nach Fennimores vor Jahren entführungsbedingt verschwundenen und womöglich noch lebenden Tochter kann die Vorfreude auf einen weiteren Fall mäßigen.

Ihr letzter Blick

A. D. Garrett, Goldmann

Ihr letzter Blick

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