Farbenblind

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2015
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  • New York: Berkeley, 2014, Titel: 'Colorblind', Seiten: 368, Originalsprache
  • München: Heyne, 2015, Seiten: 432, Übersetzt: Heike Schlatterer
Farbenblind
Farbenblind
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Michael Drewniok
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2016

Farbsinniges Ermittlerhirn als Lügendetektor

Nachdem ihr ehemaliger Vorgesetzter sie geschwängert hatte, war Jenna Ramey im Guten von ihm sowie vom FBI geschieden. Sie ist nun als forensische Psychologin für das Police Department von Orlando im US-Staat Florida tätig. Privat lebt sie mit Vater, Bruder und Töchterlein als Großfamilie zusammen, denn die Rameys sind vorsichtig geworden, nachdem der Vater die Psychopathin Claudia geheiratet hatte, die ihre Familie später ausrotten wollte. Jenna hatte sie aufgrund einer besonderen Gabe entlarvt: Wahrnehmungen werden vor ihrem inneren Auge von Farben begleitet, die sie zu deuten gelernt hat. Auf diese Weise kann Jenna Lügen und Ausflüchte recht zuverlässig erkennen.

Ex Hank Ellis und das FBI kehren in ihr Leben zurück, als sich Serienkiller Isaac Keaton nach einer wahren Mordorgie freiwillig festnehmen lässt. In seinem Größenwahn beginnt er in der Haft sein größtes Spiel': Der ihm hörige Tathelfer Sebastian Waters ist auf freiem Fuß und damit beschäftigt, nach Keatons Anweisungen ein Massaker vorzubereiten. Doch der Killer hat noch weitere Eisen im Feuer. So manipuliert er Thadius Groding, den verzweifelten Vater eines früheren Opfers, bis dieser zur Waffe greift und auf der Suche nach dem Mörder seiner Tochter Amok läuft. Außerdem hält Keaton irgendwie Kontakt zu Claudia Ramey, die auf ihre Chance lauert, der Gefängnisklinik zu entkommen, um sich an Jenna zu rächen.

Immer wieder messen sich Jenna und Keaton, der das Spiel' genießt. Er sichert seinen Vorsprung, indem er von der Zeitnot profitiert, unter der seine Jäger leiden. Gut getarnt rüstet Waters sich für einen mörderischen Tag X, während Groding eine Leichenspur hinterlässt. Die Medien werden aufmerksam, der Druck auf das FBI wächst. Nur wenige Spuren - oft von Keaton getürkt - versprechen Hinweise. Zusammen mit dem einfüßigen Ex-Cop Yancy Vogul begibt sich Jenna auf eine Jagd, an deren Ende nicht nur Keaton, sondern auch Claudia auf sie wartet ...

Farben, Gefühle und Deutungen

Es ist wahrlich schwierig, heute ausgerechnet im Genre des Killer-Thrillers ein Garn zu spinnen, das sich nicht nur in blutigen Details erschöpft, während die Handlung selbst als reine Jagd dargestellt wird, an deren Ende die Konfrontation zwischen Ermittler und Mörder steht; diese findet selbstverständlich als Chaos statt, die dem Übeltäter die Zeit lässt, sich seiner Untaten zu brüsten bzw. ausführlich davon zu berichten, bevor ihn doch die gerecht Strafe ereilt (oder er wider alle Wahrscheinlichkeit entkommt, um sich für eine Fortsetzung zu positionieren).

Auch Colby Marshall fand keinen Weg, der sie um diese Plot-Klischees herumgeführt hätte. Also stellt sie sich der Herausforderung, indem sie die einzigmögliche Alternative wählt: "Farbenblind" ist ein Thriller, der die Variation des Bekannten zum Programm erhebt. Der Leser sieht förmlich, wie die Autorin sich bei jeder Wendung überlegt, wie sie ausgelaugte Formeln zumindest beleben kann. Ihre Trefferquote ist hoch genug, um eine an sich stabile aber wenig überraschende Story unterhaltsam anzureichern. An einigen Stellen übertreibt es Marshall allerdings, wobei das enorme Tempo einer Handlung, die auf dem Weg ins Finale an Geschwindigkeit sogar noch zulegt, den Sprung über diverse Logiklöcher samt gelungener Landung auf der Gegenseite ermöglicht.

Positiv ist in diesem Zusammenhang die zurückhaltende Schilderung jener synästhetischen Koppelung normalerweise separierter Sinnesreize zu werten, mit der Hauptfigur Jenna Ramey ihre Ermittlungen unterstützen kann. Marshall konstatiert nüchtern und damit genau so glaubwürdig, wie es im Rahmen eines Unterhaltungsromans nötig ist, dass Stimmungen, Gedanken und Äußerungen sich in Jennas innerem Auge als Farben widerspiegeln, die sie hinter die Hirn-Kulissen ihres Gegenübers blicken lassen. Selbstverständlich funktioniert dieser angeborene Lügendetektor nicht perfekt, weshalb Schreckgestalten wie Keaton, Claudia & Co. trotzdem ihr Unwesen treiben können.

Nie ist die Bahn frei für eine perfekte Jagd

Perfektion ist bekanntlich langweilig. Also stellt auch die Jagd nach einem Serienkiller eine Kette kleinerer und größerer Irrungen & Wirrungen dar. Hinzu kommen Kompetenzrangeleien, denn zum modernen Thriller gehört, dass ehrgeizige Ermittler in vorgesetzter Stellung lieber der Politik und den Medien dienen, während sie die Arbeit fachlich kompetenten aber geknechteten Untergebenen überlassen, die sie zusätzlich unter Druck setzen.

Einmal mehr weicht Colby einschlägigen Klischees aus, indem sie Jenna Ramey zwar eng mit dem FBI zusammenarbeiten lässt, sie dem behördeninternen Querelen aber gleichzeitig enthebt: Jenna ist inzwischen freiberuflich tätig. Zudem legt ihr der frühere und aktuelle Kollege Hank Ellis keine Steine in den Weg, sondern akzeptiert und unterstützt sie. Auf diese Weise kann sich Jenna auf ihre Arbeit konzentrieren, die kompliziert genug ist: Faktisch muss sie einer vierfachen Fährte folgen. Isaac Keatons Spiel' bezieht drei weitere Komplizen ein, die entweder an seinen Marionettenfäden tanzen oder von ihm aktiviert ihren eigenen irren Plänen folgen.

Der Leser muss sich konzentrieren, um im Gewirr der Mörder die Übersicht zu behalten. In diesem Punkt verzettelt sich Colby, obwohl man ihr zugestehen muss, dass sie die Fäden letztlich schürzen und zu einem Finalknoten verknüpfen kann. Dass die Glaubwürdigkeit dabei ebenso auf der Strecke bleibt wie zahlreiche Kleinstrolche und Pechvögel, ist kein Beinbruch: Ein Thriller muss unterhalten. Eventuelle Übertreibungen und Fehler werden verziehen, wenn sie wie in unserem Fall diesem Ziel dienlich sind.

Die Last des Lebens

Der moderne Kriminalroman ist in eine gefährliche Schieflage geraten: Oft scheint das Privatleben vor allem weiblicher Ermittler im Mittelpunkt zu stehen, während das geschilderte Verbrecher eher eine Beilage darstellt. Die Suche nach Mr. Right wird von ständigen Rückschlägen und Enttäuschungen begleitet, die schnulzig ausgewalzt werden. Auch über verbandelten Ermittlern mit Familie ergießt sich eine Seifenflut zwischenmenschlicher Probleme, während irgendwo der nur noch vorgebliche Unhold ungeduldig darauf wartet, dass er sich endlich auch wieder am Spiel beteiligen kann.

Colby mag nicht auf das Private, Persönliche verzichten - muss sie auch nicht, denn sie hat begriffen, dass solche Exkurse das Figurenprofil vertiefen, hält damit aber inne, bevor sie den Tatbestand des Handlungsersatzes erfüllt. So bleibt Jenna Ramey trotz böser Kindheit, Muttersorgen und Herzeleid als Profilerin und "moderne Frau" gerade deshalb überzeugend, weil sie mehr zu bieten hat als "Chick-Lit"-Trivialitäten.

Für ihren Roman hat Colby intensiv recherchiert, worüber sie in einem sehr ausführlichen Nachwort Auskunft gibt. Mag sein, dass ihre Schilderung des Falls Isaac Keaton deshalb manchmal allzu didaktisch wirkt. Auf der anderen Seite ist die Abwesenheit jener behaupteten Genialität, die vor allem die Populärkultur dem Soziopathen nachsagt, erfreulich. Keaton ist kein Hannibal Lecter; man verfolgt seine Schlichen fasziniert und erschrocken, wird ihn aber niemals (heimlich) bewundern. Ebenfalls gelungen sind die Nebenfiguren. Vor allem der allein schwache Sebastian Waters, der die Nähe zum "Leitwolf" Keaton als Katalysator benötigt, um seinem Größenwahn zu frönen, ist nicht der typische = eindimensionale Bösewicht, dessen möglichst grässliches Ende der Leser ungeduldig erwartet.

Gesetze der Serie

Die glatte Hülle dieses Thrillers wird dort dünn und durchscheinend, wo Colby Grusel-Mutter Claudia auftreten lässt. Sie hat bei nüchterner Betrachtung wenig in dieser Geschichte verloren. Man fragt sich außerdem, wieso gerade Claudia und Isaac zueinanderfinden konnten. Hier werden Plot-Mechanismen deutlich: Colby hat Keaton, den Zentral-Finsterling, absichtlich in Haft wandern lassen. Ihn von dort flüchten zu lassen, ist ihr zu riskant; es würde gar zu unwahrscheinlich wirken.

Damit fällt Keaton jedoch für die finale Konfrontation zwischen ihm, dem Bösewicht, und Jenna als Vertreterin des Guten aus. Weder Waters noch Thadius Groding haben das Format, in diese Bresche zu springen. Deshalb wird Claudia aktiviert, die als Mutter, Großmutter und Gattin UND Serienkillerin noch dämonischer wirkt. Nichtsdestotrotz fällt die Konfrontation vor allem durch die Geschwätzigkeit der Kontrahentinnen auf. Zu schlechter Letzt taucht Claudia unter: Wenn die Fortsetzung folgt, wird sie Colby sicherlich bei Bedarf aus der Mottenkiste holen, denn die Autorin hat sich die viele Arbeit schließlich nicht nur für diesen einen Roman gemacht.

Dieses Konzept belegt deutlich, dass sich eine Serie anschließen soll. Ein gutes Indiz sind romanüberlappende Ereignisstränge; hier ist nicht nur Claudia ein verbindendes Element. Auch Yancy Vogul steht als Jennas potenzieller Lebensgefährte; um seinen Kuschel-Faktor zu erhöhen, ist er nicht nur verständnisvoll, sondern hat auch einen Fuß verloren, womit Colby - durchaus Profi - den Beschützerinstinkt ihrer weiblichen Leserschaft aktiviert. In der Tat hat Colby die Jenna-Ramey-Serie inzwischen mehrfach fortgesetzt: Es gibt schlimmere Erfolgsgeschichten im Krimi-Genre, dem - es sei noch einmal gesagt - Seifenschaum schlimmer schadet als allzu karges Handwerk!

Farbenblind

Colby Marshall, Heyne

Farbenblind

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