Die himmlische Tafel

  • Liebeskind
  • Erschienen: Januar 2016
  • 1
  • München: Liebeskind, 2016, Seiten: 431, Übersetzt: Peter Torberg
Die himmlische Tafel
Die himmlische Tafel
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Michael Drewniok
95°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2016

Die Wurzeln des selbst gesäten Bösen

Dass die USA in diesem Jahr 1917 in den Ersten Weltkrieg eingetreten sind, spielt für die Mehrheit der Menschen im Grenzbereich der Bundesstaaten Georgia und Alabama keine Rolle. Sie wissen meist nicht einmal, wo Deutschland überhaupt liegt, und es interessiert sie nicht, denn sie führen ihren persönlichen Überlebenskampf "daheim", wo Elend, Unwissenheit und Ausbeutung den Lebensalltag ebenso nachdrücklich wie Rassismus, Gewalt und Tod prägen.

Perfekte Vertreter dieser Hinterwäldler sind die Jewetts, die sich auf kargem Pachtboden abschuften und trotzdem bitterarm und hungrig bleiben. Unterhaltung bietet den Brüdern Cane, Cob und Chimney nur ein zerfledderter Groschenroman, der die Abenteuer des Banditen "Bloody Bill Bucket" schildert. Als Vater Pearl eines Tages tot umfällt, beschließt das Trio, dem Elend zu entfliehen und "Bloody Bills" Vorbild zu folgen. Aber die Gangster-Realität ist wenig glamourös, zumal die Brüder ihre kriminelle Unfähigkeit durch Waffengewalt ausgleichen müssen. Bald säumt eine Leichenschar unglücklicher Raubopfer und ungeschickter Kopfjäger den Weg der "Jewett-Bande", wie sie die begeisterte Presse nennt. Die Brüder entwischen immer wieder, denn das Land ist riesig und die Kommunikation schlecht.

Während sie ahnungslos zu Staatsfeinden aufsteigen, überqueren die Jewetts die Grenze nach Ohio. Dort hadert der Farmer Ellsworth Fiddler mit seinem Schicksal. Erst hat er sich von einem Trickbetrüger ausnehmen lassen, nun ist Sohn Eddie verschwunden; womöglich hat er sich als Soldat anwerben lassen. Fiddler wächst die harte Arbeit über den Kopf, weshalb er nicht nachfragt, wer die drei jungen Männer sind, die sich für eine Weile auf seiner Farm einquartieren und ihm dort zur Hand gehen. Doch in der nahen Stadt kursiert ein Steckbrief, der nicht nur Fiddler die wahre Identität seiner "Gäste" enthüllt, weshalb es schließlich zum Showdown kommt.

Brutalität und Brutalisierung des Alltags

Nein, ein klassischer Thriller oder Kriminalroman ist Die himmlische Tafel sicher nicht. Trotzdem ist das Verbrechen allgegenwärtig in dieser Geschichte, die nicht nur oder vor allem von drei Möchtegern-Räubern erzählt. Zur weit ausgreifenden Handlung gehören irgendwann auch ein Gelegenheitsmörder, ein Serienkiller, lynchwütige Vigilanten und vor allem vom Leben ausgelaugte und verrohte Menschen, die nur ansatzweise über Gesetzestreue oder gar soziale Kompetenzen verfügen, weil sie sich diese einfach nicht leisten können.

Selten gelingt es einem Schriftsteller, alltägliches Elend und die daraus erwachsenden Folgen so klar und drastisch zu veranschaulichen wie Donald Ray Pollock. Kritiker suchen und finden verführerisch rasch eine Erklärung in seiner Autorenbiografie: Pollock war selbst über Jahrzehnte Teil jenes Arbeiterproletariats, das er so gekonnt vorstellt.

Die Verklärung der Not nach dem Vorbild der "Waltons" ist Pollock sichtlich ein Dorn im Auge. Man kann alles ertragen, solange die Familie zusammenhält? In den USA schafft es jeder, wenn er sich nur genug anstrengt? Auf mehr als 400 Seiten widerlegt Pollock diese und andere verlogene Binsenweisheiten, bis dem erschöpften Leser der Schädel dröhnt. Der Autor gönnt ihm (und ihr) keine Schonung. Hat man gerade eine der unzähligen Episoden verdaut, in denen Pollock Bildungsmangel, Unterdrückung und Brutalität in Szene setzt, folgt gleich die nächste groteske, bitterböse Wendung.

Drei Ausbrecher auf Todeskurs

Die Jewetts bestreiten zwar viele Buchseiten, sind aber nur im ersten Drittel die Hauptfiguren dieser Geschichte. Wir lernen sie als Blut-&-Bodensatz der Gesellschaft kennen, die zusätzlich durch ihren Vater drangsaliert werden: Nach einem quasireligiösen Erweckungserlebnis ist Pearl Jewett davon überzeugt, dass der Weg zur "himmlischen Tafel" und damit zur Erlösung nur über Leid und Entbehrung führt, was unter Pollocks geschickter Feder Horror-Qualitäten erreicht: Wird ein Mikrokosmos aus Plackerei und Hunger durch Fanatismus und Wahn weiter aufgeheizt, kann eine Explosion nicht ausbleiben. Die Jewetts sind nicht die geborenen Kriminellen und Unholde, zu denen sie die Presse abstempelt. Ohne Bildung und Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer zermürbenden Armut gestalten sie ihre Zukunftspläne ausgerechnet nach dem Vorbild eines Groschenromans, dessen Verfasser sich einst aus Verzweiflung die Kehle durchgeschnitten hat - eine der bissigen Anekdoten, mit denen Pollock niemals geizt.

Nachdem sich Pollock zunächst auf den Werdegang' der Jewetts als Räuber und Mörder konzentrierte, weitet er den Blick zu einem "Backwood"-Panorama, das er mit zahlreichen bizarren Gestalten besetzt. Die Handlung verliertfasert breit aus, ohne an Wucht oder Unterhaltungskraft zu verlieren. Lange dominieren zwei voneinander unabhängige Stränge die Handlung. Neben den Jewetts ist es Farmer Fiddler, dem Pollock seine Aufmerksamkeit schenkt. Er ist eine Art Gegenentwurf zu den Brüdern, denn obwohl auch er ohne eigenes Verschulden in Existenznot gerät, sucht Fiddler nie den Ausweg im Verbrechen, wofür ihn das Schicksal = Autor Pollock mit einem "Happy-End" belohnt, für das allerdings manches Opfer gebracht werden muss.

Im letzten Romandrittel verschwinden die Jewetts und Fiddler zeitweise in einem Figurenpersonal, das so niederträchtig, bemitleidenswert, hinterlistig, hirnlos, gemein, dumm, desillusioniert, betrogen und widerwärtig ist, dass sich die Bluttaten einer Gangsterbande ihrem Treiben beinahe spurenlos einfügen. Die vollständige Abwesenheit jeglicher Wertung unterstreicht die Unmittelbarkeit des Geschehens. Der Leser kann und soll selbst seine Schlüsse ziehen.

Dummheit und Stolz

Die quasi dokumentarische Schilderung verzichtet auf jede Rührseligkeit. Elend und Tod kommen rasch und sicher über viele Figuren. In ihrer kleinen Welt rechnen sie damit, denn Hunger, Armut, Krankheit und Tod sind allgegenwärtig dort, wo so etwas wie ein soziales Netz nicht existiert und Solidarität ein Fremdwort ist. Wen es erwischt, hat eben Pech gehabt, weil er nicht fleißig genug oder so dumm wie Fiddler war, der sich sein sauer verdientes Geld von einem Betrüger abnehmen ließ.

Auch die Jewetts schurigeln zeitgenössisch selbstverständlich die "Neger", denen es ein halbes Jahrhundert nach dem Bürgerkrieg, der höchstens nominell der Sklaverei ein Ende bereitete, eher noch schlechter als vor 1865 geht. Sie werden betrogen, unterdrückt, "zum Spaß" gedemütigt oder verprügelt und gelyncht, selbst wenn kriminelles Tun ihrerseits nur eine Vermutung ist.

Diese schwarzen "Mitbürger" stehen sogar noch unter dem "white trash", den höchstens ein wirren Stolz auf eingebildetes weißes Übermenschentum eint:

 

"Die größte Enttäuschung seines bisherigen Lebens war, nun ja, sein bisheriges Leben; und wie so viele andere weißen Nichtsnutze, glücklose Einfaltspinsel und von Verfolgungswahn geplagte Irre war auch er davon überzeugt, dass die schwarze Rasse die Schuld an seinem jämmerlichen Versagen trug" (S. 264)

 

Kann man es prägnanter auf den Punkt bringen sowie gleichzeitig aufdecken, wo die Trump-eltiere der aktuellen US-Gegenwart wurzeln?

Grauen und Komik

Eine weitere Zuspitzung erfährt das Geschehen durch den knochentrockenen und rabenschwarzen Humor, den Pollock ihr unterhebt (und der dank einer sorgfältigen Übersetzung die Eindeutschung überstanden hat). Der bittere Schrecken hat - zumal für jene, die nicht von ihm betroffen sind - oft eine komische Seite. Sie zu betonen ist ein probates Mittel der Verstärkung: Wer über etwas lacht, das faktisch nicht lustig ist, wird von sich selbst überrascht, erschrickt und kommt ins Grübeln. Auf diese Weise lassen sich auch komplexe Sachverhalte ohne langatmige Erklärungen darstellen.

Auch in dieser Hinsicht macht Pollock keine Kompromisse. Da seine Geschichte 1917 spielt, macht er gleich noch eventuellen Heldenverklärungen den Garaus. Wer seinen Weg in das vom Verfasser beschriebene Armeelager findet, erfährt eine "Ausbildung", die das Individuum zum kadavergehorsamen Kanonenfutter herunterschleifen soll. Worum es in diesem Weltkrieg geht, wissen selbst jene, die ihn mit Soldaten füttern, entweder nicht, oder es ist ihnen gleichgültig, solange sie nicht an die Front müssen.

Der Wahnsinn hat nicht einmal Methode. Pollock lässt den Zufall ebenso blind wie blindwütig toben. Verbrechen, Recht und Gerechtigkeit: In seiner Welt besitzen sie eigentlich keine Berührungspunkte. Sie ist die Hölle auf Erden; das war sie, das ist sie, und das wird sie bleiben, daran lässt Pollock keinen Zweifel. Dies lesend zu verfolgen, ist anstrengend aber unterhaltsam und niemals langweilig. Es mag der Stoff sein, aus dem Albträume sind, doch es ist auch die Stimme einer Vernunft, die dort Erklärungen liefert, wo man Lügen, Leugnen und Verdrängen womöglich zum Regierungsprogramm erheben wird.

Die himmlische Tafel

Donald Ray Pollock, Liebeskind

Die himmlische Tafel

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