Der letzte Polizist

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2013
  • 2
  • Philadelphia: Quirk, 2012, Titel: 'The last policeman', Seiten: 335, Originalsprache
  • München: Heyne, 2013, Seiten: 350, Übersetzt: Peter Robert
Der letzte Polizist
Der letzte Polizist
Wertung wird geladen
Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2013

Der Cop, sein Fall & der Weltuntergang

Knapp ein halbes Jahr bleibt der Menschheit, bis der gewaltige Asteroid "Maia" auf der Erde einschlagen wird. Der Impakt wird den Planet in seinen Grundfesten erschüttern und die Zivilisation zerstören. Gegenmaßnahmen sind nicht möglich, den Menschen bleibt nur das Warten auf den Weltuntergang. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Während so mancher endlich verwirklicht, wovon er bisher nur geträumt hat, suchen andere das Heil in der Arbeitsroutine. Zu ihnen gehört der junge und eifrige Detective Henry Palace, der für die Kriminalpolizei der Kleinstadt Concord, US-Staat New Hampshire, arbeitet. Er ist einer der letzten echten Cops, denn die Hoffnungslosigkeit zeigt Wirkung: Wie die meisten Organisationsstrukturen des Landes droht auch die Polizei sich aufzulösen.

Der Fund von Peter Zell, der sich in der Toilette einer Imbissbude erhängt hat, soll deshalb als Selbstmord festgestellt und zu den Akten gelegt werden. Doch Palace weigert sich; ihm kommt das Ende des Mannes, der für eine Versicherungsgesellschaft tätig war, verdächtig vor, obwohl die – oberflächliche – Obduktion keine Spuren von Gewalteinwirkung ergab. Ihn stimmt misstrauisch, dass er in Zells Wohnung eine lückenlose Dokumentation der "Maia"-Katastrophe findet, die Zell mit kryptischen Anmerkungen und Berechnungen ergänzt hat.

Palace wirbelt Staub auf, als er feststellt, dass Zell merkwürdigen Umgang pflegte. So galt ausgerechnet der Drogendealer J. T. Toussaint als sein bester Freund. Dessen Befragung endet fatal, da übereifrige Polizisten ihn bei der Festnahme erschießen. Palace muss sich auf Indizien stützen, doch seine Zeit wird knapp: Die zunehmend diktatorische US-Regierung will die Polizei zu einer reinen Ordnungsmacht degradieren. Mordermittlungen soll es nicht mehr geben. Palace weigert sich, den Fall Zell aufzugeben. Dazu gesellt sich privater Ärger: Offenbar hat seine jüngere Schwester Umgang mit Terroristen, die den Staat verdächtigen, für wenige Auserwählte eine geheime Zuflucht auf dem Mond einzurichten …

Der Tod und der Apfelbaum

"Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute ein Apfelbäumchen pflanzen!" Der markige Spruch wird dem für seine entsprechenden Äußerungen berühmten Theologen Martin Luther in den Mund gelegt; gesagt hat er es mit ziemlicher Sicherheit nicht. Ungeachtet dessen fasst dieser Leitsatz perfekt zusammen, was den "letzten Polizisten" Henry Palace antreibt: Während die Welt um ihn herum in Scherben geht, setzt er fort, was er immer tun wollte: Palace klärt Verbrechen auf!

Dieses Ziel eint eigentlich die Ermittler jenes Subgenres, das "Cop-Krimi" genannt wird. Es geht um die von Amtswegen verpflichtende Suche nach einem Schuldigen. Dem stehen dramaturgisch wirkungsvoll gewaltfreudige Spießgesellen, begriffsstutzige Vorgesetzte und korrupte Politiker bzw. das durch Unglück. Alkohol- oder Drogensucht aus der Bahn geworfene Privatleben des Polizisten entgegen.

Kaum zu glauben, doch Ben Winters findet einen neuen Dreh, um die Fahndung zu erschweren: Selbst wenn Henry Palace den Mörder stellt, wird dieser höchstens sechs Monate für seine Übeltat büßen. Schlimmer noch: Im Grunde interessiert sich die Justiz nicht mehr für die Festsetzung und Bestrafung von Mördern, was kaum wundert, da buchstäblich das Ende der Welt naht.

Die meisten Zeitgenossen des Henry Palace sind daher nicht mit seinem Pflichteifer geschlagen. Das schließt die Kollegen im Revier ausdrücklich ein. Sie sind in der Regel nur noch im Dienst, weil der Staat weiterhin Löhne zahlt und die schönen (und/oder verbotenen) Dinge des Lebens nur gegen Bargeldzahlung auf dem Schwarzmarkt erhältlich sind. Ansonsten harren sie mehr oder weniger gefasst sowie möglichst untätig auf ihren Posten aus.

Das lästig gut laufende Zahnrad im Getriebe

Palace hat seinen eigenen Weg gefunden, sich auf die Apokalypse vorzubereiten. Es ist kein simples Pflichtgefühl, das ihn leitet, sondern eine tief empfundene Liebe zur Polizeiarbeit, die einer Mission gleicht. Sie wird nun nicht nur durch die typisch störrischen Verdächtigen, sondern auch durch die besonderen Umstände erschwert.

Wie könnte die Alltagsrealität einer vom Untergang bedrohten Welt aussehen? Winters klammert Science-Fiction-Elemente aus. Er schreibt die Realität der Gegenwart fort und lotet mögliche Veränderungen aus. Dabei geht er behutsam vor, was die Intensität der Schilderung steigert: Weder Hightech noch Bürgerkriegs- oder Zombiegetümmel lenken von diesem nackten Fakt ab: In sechs Monaten ist Schluss!

Immer wieder muss Palace die schockstarre Gleichgültigkeit durchdringen, die sich epidemisch ausbreitet und eine ansonsten funktionstüchtige Zivilisation lähmt: Tatsächlich bleibt die Welt ja intakt, bis der Asteroid einschlägt. Es sind die Menschen, die vorher aufzugeben beginnen. Das große Sterben könnte bereits vor dem eigentlichen Ende beginnen, weil der Mensch in die Zukunft blickt, statt sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.

Der große Betrug vor dem Ende

Eine Ausnahme bildet die sogenannte Führungselite. In einem zweiten Handlungsstrang schildert Winters, wie sich die USA in eine Diktatur zu verwandeln beginnen. Zunehmend mit Gewalt bemüht sich die Regierung, die Ordnung aufrechtzuhalten. Militär und bald auch Polizisten werden zu Erfüllungsgehilfen. Unter Aufweichung und Ignorierung von Menschenrechten werden Kriminelle nach inzwischen bewährtem Muster als "Terroristen" abgestempelt, die man ohne Verteidigung einkerkern oder hinrichten kann.

Dahinter wird allmählich eine erschreckende Wahrheit deutlich: "Maia" kann nicht gestoppt werden, aber womöglich missbrauchen die Reichen und Mächtigen ihre Privilegien, um sich eine Enklave zu schaffen, in der sie und ihre Familien die Apokalypse bequem überdauern können. Die Bürger werden in Schach gehalten, damit sie nichts davon bemerken: Der Rückzug hinter die Burgmauer wird reibungsloser funktionieren, wenn seine Günstlinge nicht in einen Bürgerkrieg verwickelt sind.

Winters beschränkt sich diesbezüglich auf Andeutungen. Palaces Schwester Nico gehört zu denen, die über entsprechende Informationen verfügen. Sie offenbart sich in einem Epilog-Kapitel, das der Auflösung des Mordfalls Zell folgt, und bereitet die Fortsetzung vor. Henry Palace kehrt zurück, denn der Autor plant eine Trilogie um den "letzten Polizisten".

Wie vor den Kopf geschlagen

Henry Palace ist kein sympathischer Zeitgenosse. Er ist unsensibel und wirkt in seiner selbstgewählten Mission gefangen. Faktisch nimmt er es den Menschen übel, dass sie sich ihren Todesängsten hingeben, statt ihn bei seinen Ermittlungen zu unterstützen. Darin liegt ein Gutteil persönlicher Ablenkung: Palace hat seinen Weg gefunden, die Zeit bis zur Apokalypse nicht nur totzuschlagen.

Autor Winters konstruiert – natürlich – eine zusätzliche Privat-Tragödie, die Palace nachdrücklich prägt. Er hat seine Eltern durch Mord und Selbstmord verloren. Schwester Nico verfügte nicht über Henrys Stärke (oder seine Engstirnigkeit), weshalb sie in die Kriminalität abdriftete. Der Bruder beschäftigt sich ungern mit den Problemen der Restfamilie. Er will Polizist sein und ordnet dem buchstäblich sein Gesamtleben unter.

Offen bleibt, ob Winters dies tragisch meint. So teilt es sich dem Leser nur bedingt mit. Stattdessen meint man zwischen den Zeilen ständig einen Vorwurf zu lesen: Warum sind die meisten Menschen dort schwach, wo Henry Palace dem schwindenden Leben einen Sinn abringt? Es bleibt abzuwarten, ob ihm ein Sinneswandel bevorsteht, wenn ihm bewusst gemacht wird, welche gesetz- und morallosen Schweinereien sich jene leisten, in deren Diensten er steht. Der Konflikt ist vorgezeichnet, denn auf keinen Fall wird Palace seinem Ermittlungsdrang eindämmen können. Deshalb wächst die Spannung, wie es im zweiten Teil der Trilogie weitergehen: mit dem letzten Polizisten und mit dem Ende der Welt.

Der letzte Polizist

Ben Winters, Heyne

Der letzte Polizist

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Der letzte Polizist«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

Krimi-Couch Redakteur Dr. Michael Drewniok öffnet sein privates Bücherarchiv, das mittlerweile 11.000 Bände umfasst. Kommen Sie mit auf eine spannende und amüsante kleine Zeitreise, die mit viel nostalgischem Charme, skurrilen und amüsanten Anekdoten aufwartet. Willkommen bei „Dr. Drewnioks mörderische Schattenseiten“.

mehr erfahren