Runen

  • Aufbau
  • Erschienen: Januar 2011
  • 1
  • Reykjavík: Skrudda, 2009, Titel: 'Rúnagaldur', Seiten: 313, Originalsprache
  • Berlin: Aufbau, 2011, Seiten: 412, Übersetzt: Richard Kölbl
Runen
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Michael Drewniok
65°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2013

Thors Hammer und Himmlers Zahnstocher

Der todkranke isländische Heimatforscher Höskuldur Steingrímsson schießt sich eine Kugel in den Kopf. Die Tragödie wird zum Skandal, denn er trägt eine alte Uniform der deutschen Waffen-SS. Nicht nur Melkorka Steingrimsdóttir, Höskuldurs Enkelin und eine bekannte Fernsehjournalistin, war dieser Teil der großväterlichen Vergangenheit bisher unbekannt.

Höskuldur hinterlässt ihr ein Tagebuch. Es beschreibt seine Suche nach einem Schatzhort der nordischen Götter, die der alte Mann stets für real gehalten hat. Drei Runensteine weisen angeblich den Weg dorthin, wo unglaubliches Wissen, ewiges Leben und mächtige Waffen – darunter der Hammer des Gottes Thor – auf den Finder warten. "Reichsführer SS" Heinrich Himmler war so beeindruckt, dass er Höskuldur 1944 die Runensteine suchen ließ und ihn später mit einem U-Boot nach Island schickte.

Mit an Bord waren zwei hochrangige SS-Offiziere, die in Nordamerika Übeltaten für Nazi-Deutschland einfädeln sollten. Sie hörten sich Höskuldurs Geschichten mit Interesse an und haben sie nie vergessen. Mehr als sechs Jahrzehnte ruhte die Suche, denn Höskuldur hat die Höhle der Götter nie gefunden.

Melkorka wittert eine Story. Da sie auf Höskuldurs Unterlagen zurückgreifen kann, beginnt sie eigene Nachforschungen. Allerdings bemerkt sie, dass sie sich auf ein riskantes Spiel eingelassen hat, als zwielichtige Gestalten sie beschatten und erste Leichen auftauchen. Außerdem hat Höskuldur die eigentliche Karte zum Hort nicht überliefert, sondern sie an einem sehr exotischen Ort in Deutschland versteckt. Dorthin macht sich Melkorka auf – und zieht dabei einen wahren Rattenschwanz hochkrimineller Elemente hinter sich her …

Odin & Thor, Hitler & Himmler, Hinz & Kunz

Die globale Jagd nach historischen Rätseln ist ein abenteuerliches Bemühen, das Robert Langdon oder Indiana Jones gern für Kinosesseldrücker und Couch-Kartoffeln übernehmen, die ihr Freizeitvergnügen lieber ein wenig ruhiger angehen lassen. Die Rezeptur ist erfreulich einfach: Die Handlung erschöpft sich weitgehend in der Auflösung chiffrierter Mysterien, die den Helden jeweils eine Station weiterbringen. In der Regel mischt sich (mindestens) eine zweite Gruppe schurkischer Herkunft ein. Gut und Böse treffen sich im Finale am Ort des endlich gelüfteten Geheimnisses, das spektakuläre Begleiteffekte – Erdbeben, lebendig werdende Tote, Monsterwächter – beisteuert.

Während die Dan-Brown-Schule die Kaderschmiede genannter Schurken im Vatikan vermutet, dem deshalb klammheimliche Munkel-Orden in Serie entspringen, verlassen sich andere Autoren auf die guten (bzw. zuverlässig bösen), alten Nazis. Mit ihrer völlig spinnerten aber nichtsdestotrotz mit enormem Aufwand betriebenen ´Ahnenforschung´ haben sie den Nährboden für obskure Mythen selbst bereitet. Vor allem Heinrich Himmler, der ebenso mächtige wie intellektuell schlichte "Reichsführer SS", hat in der Tat von versunkenen ´altnordischen´ oder ´altgermanischen´ Reichen geträumt, die er unbedingt wissenschaftlich nachgewiesen sehen wollte.

Der dafür getriebene Aufwand hätte eine echte Herausforderung verdient. Wenigstens die Thriller-Autoren sind dankbar: Die krude Mischung aus Fiktion und ausgedachter ´Realität´ ist ein Mist, auf dem zumindest die pure Unterhaltung ausgezeichnet gedeiht. Elias Snæland Jónsson demonstriert es uns mit einem Garn, das mustergültig jene Elemente vereint und zusammenrührt, die leichtverdauliche aber gut verkäufliche Bestseller für die Verkaufstische moderner Buchhandelsketten kennzeichnen.

Skandinavisch ist irgendwie immer gut

Noch ein Bonuspunkt: Jónsson stammt aus Island! Die Insel gehört zur Sphäre des skandinavischen Thrillers, der vor allem im Deutschland post Henning Mankell beinahe kultische Verehrung genießt. Wer einen Stift halten kann im hohen Norden, sollte es deshalb mit einem Roman versuchen!

Island ist noch aufregender weil exotischer, denn dort gibt es Geysire & Vulkane und gleich daneben Eis & Schnee. Das Meer ist rau, der Nordpol nahe, und wenn man die Augen schließt, meint man die ursprünglich hier beheimateten Wikinger über die Felshänge stürmen zu hören. Monatelang geht die Sonne nicht unter, weitere Monate lässt sie sich nicht blicken. Hinzu kommen erfreulich blutrünstige Mythen, die sich ausgezeichnet trivialisieren und zum Zwecke der Unterhaltung ausbeuten lassen.

Autor Jónsson ist kein Mann für raffinierte Effekte. Er steigt sogleich grell mit einem selbstmordenden Alt-Nazi ein, der sich in voller SS-Uniform nach Walhalla begibt. Auch sonst sind die alten Bösewichte noch rüstig und erstaunlich zahlreich. Sie haben ihren "Führer" in Treue fest überlebt und die Kriegsniederlage 1945 finanziell gut ausgestattet im Untergrund überstanden. Dort haben sie wirkmächtige Geheimgesellschaften gegründet, die im 21. Jahrhundert soweit sind, die Erschaffung eines "Vierten Reiches" in Angriff zu nehmen. (Wenn man "Runen" liest, wundert es nicht, dass aus dem Weltenreich "Germania" nichts geworden ist. Offenbar waren die Nazis hauptsächlich damit beschäftigt, Schätze aller Art zu rauben und Geheimverstecke zu entwerfen, statt sich auf den Krieg zu konzentrieren.)

Globale Kinderspiele aller Art

Jónsson begeht einen verständlichen aber kapitalen Fehler: Er hat sich intensiv in die Mythentümelei der Nazis eingelesen und daraus ein gewaltiges Rätsel konstruiert. Letztlich geht es um das ewige Leben, ultimative Weisheit und unüberwindliche Waffen. Bereits deren Verursacher, die zeitgenössischen ´Ur-Arier´ – die es tatsächlich nie gegeben hat –, bemühten sich, diesen Hort zu verbergen. Nazi-Forscher Höskuldur versucht das mit einer wahren Flut geheimer Tagebücher und Karten noch zu toppen.

Überaus aufwändig und bisweilen umständlich detailliert zeichnet der Autor sowohl das Verstecken als auch das Entschlüsseln nach. Richtig ist es, wenn er dabei die Realhistorie nur als Spielfeld benutzt. Das entschuldigt zudem echte Klopfer, die auf unzureichenden Recherchen sowie Verständnisfehlern beruhen. Diese unterlaufen Jónsson öfter, wenn er durchaus reale Nazi-Umtriebe schildert und dabei Hörensagen für Tatsachen nimmt.

Dem Leser schwant etwa in der Buchmitte Böses: Die ersten Mysterien werden enthüllt – und entpuppen sich als laue Lüftchen im Wasserglas. Vom Aufbau einer spannenden, straffen Abenteuergeschichte hat Jónsson ohnehin wenig Ahnung. Die Handlung wird zunehmend mit beliebigen Episoden gestreckt. Wieso lässt der Autor Melkorkas Söhnchen aufwändig entführen, um es dann lange vor dem Finale wieder zu retten? Dieser Ereignisstrang ist gänzlich überflüssig – und er bleibt in seiner Sinnarmut nicht allein.

Irgendwann ist klar, dass sich Jónsson wie ein Autor der TV-Serie "Lost" verhält: Er türmt Geheimnis auf Geheimnis, ohne sich darum zu kümmern, ob und wie er diese irgendwann aufklären kann. Der Götterhort ist ein gutes weil trauriges Beispiel: Bevor auch nur ansatzweise deutlich werden kann, was dort wartet, stürzt die Höhlendecke ein. Das ist kein dramatisches Finale, sondern eine faule Ausrede.

Die Erde ist manchmal eine Scheibe

Ins Zentrum seiner Geschichte stellt Jónsson die heute typische Heldenfrau: selbstbewusst, selbstbestimmt, klug, wunderschön, beruflich erfolgreich, privat mit Mr. Right verheiratet und Mutter eines hübschen Babys. Die Liste einschlägiger Klischees ist damit längst nicht erschöpft. So wächst Melkorka, eine militär- oder geheimdienstferne Durchschnittsfrau, in der Krise problemlos über sich selbst hinaus, erklettert hohe Berge, taucht in tiefe Meereshöhlen und was des Unsinns mehr ist.

Begleitet wird sie dabei von ebenso konturflachen Pappfiguren beiderlei Geschlechts. Für das triviale Abenteuer geht das in Ordnung. Peinlich wird es, wenn Jónsson – anscheinend getrieben von einem pädagogischen Impetus – die Machenschaften des "Dritten Reiches" verdammen will und seine Figuren mit zitternder Stimme politisch korrekte Mahnreden halten lässt. Runen hat nie die Klasse, um solchen Tiefgang zu verkraften. Deshalb wirkt jene Schluss-Szene, in der Melkorka Opas böses Erbe im Atlantik versenkt, nicht dramatisch, sondern theatralisch und lächerlich.

Der eher auslaufenden als aufgelösten Handlung folgt ein Epilog, mit dem der Verfasser einen grandiosen Finaltwist versucht; grandios ist dieser freilich nur in seinem Scheitern. Es bleibt die bedrohliche Ankündigung einer Fortsetzung, der es vorbehalten bliebe, jene Fäden aufzugreifen, die Jónsson einfach loslässt, weil ihm außer dem Wort "Ende" nichts mehr eingefallen ist.

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