35 Tote

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Januar 2013
  • 1
  • Bogotá, Colombia: Alfaguara, 2011, Titel: '35 muertos', Originalsprache
  • Berlin: Suhrkamp, 2013, Seiten: 545, Übersetzt: Marianne Gareis
35 Tote
35 Tote
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Matthias Kühn
87°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2013

Chronik eines angekündigten Niedergangs

 

 

Während auf dem Grill Fleisch, Würstchen und Maiskolben brutzelten, redeten sie über Kolumbiens Geschichte oder, genauer gesagt, über die Reihe von Tragödien, Ungerechtigkeiten und unvorhergesehen Ereignissen, die, wie sie meinten, Kolumbiens Geschichte darstellte.

 

Die Geschichte Kolumbiens ist ein hard-boiled-Krimi, der vor Blut trieft. Was mir auf Anhieb zu Kolumbien einfiel, bevor ich dieses Buch in die Finger bekam, setzte sich aus diesen Komponenten zusammen: Tragik, Blut, Poesie und Hinterhalte, Drogenkrieg, Pablo und Andrés Escobar, Carlos Valderrama, und in Sachen Literatur natürlich der alles überragende Gabriel García Marquez; heute gilt Fernando Vallejo als einer der bedeutendsten Stilisten Lateinamerikas. Auf dem Gebiet des Krimis sind vor allem Jorge Franco und Santiago Gamboa zu nennen (Gamboas Krimikomödie Verlieren ist eine Frage der Methode bekam auf der Krimi-Couch volle 100°). Jetzt kommt ein weiterer Name hinzu: Sergio Álvarez.

Blutige Geschichte und Geschichten im Überfluss

Wie die meisten Bücher aus diesem Kontinent, in denen Polizeiapparat, Kriminelle und viele Leichen auftauchen, ist auch 35 Tote im strengen Sinne kein Kriminalroman. In einem Land wie Kolumbien, das von Drogenbaronen, korrupten Politikern und einer korrumpierten Polizei regiert wird, dürfte kaum ein reiner Unterhaltungskrimi entstehen können. Dazu sind Geschichte und Gegenwart einfach zu blutig und zu ernst; wenn dann noch ein Autor daherkommt, der sein Land aus dem Exil in Spanien betrachtet, kommt eine – für mich – wohltuende europäische Komponente in den Text: So beweist dieses Buch, wie viele deutsche Exilromane, dass ein Blick von außen das Innere eines Landes in all seiner Brutalität viel besser enttarnen kann.

35? Hunderte von Toten!

35 Tote, das klingt zwar reißerisch – ist aber völlig untertrieben; schon auf den ersten Seiten gibt es weit mehr als 35 Tote: Da wird ein Bandit zur Strecke gebracht, der sich ordentlich wehrt und eine ganze Menge an Leuten mit sich in den Tod nimmt. Dieser Botones ist mit seinem ausgewachsenen Blutbad für die Geburt des Protagonisten verantwortlich – das ist der klassische Einstieg in einen Schelmenroman. (Dass der Junge irgendwann den Don Quichote liest, ist da ein kleiner Hinweis auf die eigene Literaturtradition.) Es ist das Jahr, in dem auch der Autor geboren wurde: 1965. Zeugung und Geburt stehen also unter einem schlechten Stern, und das macht sich schnell bemerkbar. Die Mutter stirbt bei der Geburt, der Vater verfällt der Flasche und nimmt sich bald das Leben. In Szenen, wie man sie von Cervantes, Dickens oder gar Grimmelshausen kennt, wird der Junge von der Tante adoptiert und aufgezogen:

 

Was bedeutet adoptieren?, fragte mich Quique. Keine Ahnung. Klingt nach Krankheit, meinte er. Ich bin nicht krank. Wer weiß, bestimmt ist es eine ganz seltene Krankheit. Bestimmt, antwortete ich und verstummte.

 

Die Tante, eine Lehrerin, wechselt ständig die Liebhaber und lebt zwischenzeitlich mit dem Jungen in einer Kommune, die von einem "reichen Onkel" finanziert wird – in einem Land, in dem eigentlich immer eine Art Bürgerkrieg tobt und wo Freunde und Liebhaber einfach mal verschwinden. Mal tauchen sie wieder auf, mal werden sie mit Folterspuren im Leichenschauhaus entdeckt.

Hier zeigt sich schnell, dass Àlvarez mit dem magischen Realismus, der für die erste erfolgreiche Welle lateinamerikanischer Literatur und vor allem für seinen Landsmann García Marquez stand, nichts am Hut hat.

Ein ganz normales Leben im Zeichen des Blutes

Álvarez belegt, ohne dabei auch nur ein einziges Mal parabelhaft zu werden, dass jemand, der 1965 in Bogotá zur Welt kommt, von Blut umgeben ist. Ob es an den eigenen Händen klebt, an den Händen von Verwandten und Freunden, oder ob es ohne großes Zutun im eigenen Haus fließt, spielt dabei keine Rolle. Die Fronten verlaufen überall, manchmal innerhalb einer Familie. Auch wenn viel über Politik, soziale Verhältnisse und die Möglichkeit einer friedlichen Zukunft diskutiert wird: Keine der Figuren in 35 Tote durchschaut wirklich die Zusammenhänge. Wie soll man auch das diffuse Wirrwarr aus Polizei, Militär, Guerrilla und privaten Armeen entschlüsseln können? Das bei der Tante lebende Waisenkind ist hier ein erstklassiger Kniff, denn der beobachtet aus seiner "Traumwelt", wie er sagt, mit seiner einfachen Weltsicht ein komplexes System, das sich aus seinen Beschreibungen zu einem halbwegs klaren Mosaik zusammenfügt. Bogotá, nein, ganz Kolumbien ist ein Schlachtfeld, und dieser Junge mit seinen eigentlich universellen Erlebnissen, Streichen und kleinkriminellen Anwandlungen bewegt sich auf diesem Feld in einer naiven Normalität. Wie die meisten Jungs liebt er Musik und Mädchen, und er steht dabei in einem ganz normalen Konflikt zwischen seinen Freunden und der jeweils Angehimmelten.

Verbrecher aus verlorener Ehre

So pendelt der Protagonist also zwischen Überfällen, Kiffereien, Tanzabenden, Trinkgelagen, Sex und politischen Aktivitäten hin und her, um schließlich dort zu landen, wo er niemals hinwollte – nein, mehr wird hier nicht gesagt. Álvarez lässt seinem Helden keine Chance, womit er wieder einen äußerst klassischen Kniff wählt, der seit der Barockliteratur immer wieder auftaucht – und den Schiller auf den Punkt brachte: Der betrogene Betrüger wird ohne Schuld gezeigt; seinen Weg bestimmt er nicht selbst. Es geht nur darum: Wie kann es dazu kommen? Und das wird absolut plausibel und witzig aufgezeigt. Im manchmal fatalen Bestreben jedoch, den Tag zu genießen und nicht an morgen zu denken, wird diese These durchaus auf den Kopf gestellt.

So ist 35 Tote also gleichzeitig Bildungsroman, Anti-Bildungsroman, Schelmenroman und Krimi. Wie gesagt, magisch-realistisch ist das bei allen burlesken Wendungen nicht. Allerdings: In die Reihe der knallharten, knochentrockenen Romane aus dem Kontinent, in denen die Gewalt im Vordergrund steht, passt 35 Tote ebenfalls nicht.

Musikalisches, rhythmisches Erzählen

Erzählt wird 35 Tote aus verschiedenen Perspektiven. Die Ich-Erzähler wechseln sich ab, manchmal wird man auf falsche Fährten gelockt und weiß erst nach einer Weile, wem man da zuhört. Diese Vielstimmigkeit, mit der Álvarez den Hauptstrang immer wieder unterbricht, lässt das Mosaik strahlen – manchmal allerdings war es mir zu viel und schien mir fast schon beliebig. Überflüssig ist allerdings kein Wort, denn der angenehme Ton, der Humor und die Qualität der denkwürdigen Episoden fallen nie ab. Ein wichtiges Motiv ist dabei die Musik: Nicht nur hat die Sprache einen herrlichen, kraftvollen Rhythmus – zur Übersetzung komme ich noch –, viele Sänger und Sängerinnen kommen zu Wort; es lohnt sich, Songs der erwähnten Künstler laufen zu lassen: Boleros, Cumbia- und Vallenato-Nummern, Salsas; es gibt schließlich so genannte Sozial-Radiosender im Internet, die einem da einen Überblick verschaffen: Die kubanische Salsa-Königin Celia Cruz oder Héctor Lavoe aus Puerto Rico geben den perfekten Soundtrack zu 35 Tote.

Im Nachwort gesteht der Autor übrigens, dass er es nur privatem Glück verdankt, den Roman dann doch beendet zu haben. Alles schien ihm auszuufern. So hat 35 Tote eine gewisse Unfertigkeit, vor allem im Hinundher der Erzählstimmen. Aber das ist nicht schlimm, im Gegenteil: Diese Unfertigkeit hat ihren eigenen Reiz.

Übersetzt wurde 35 Tote von Marianne Gareis, und die ist eine wirklich herausragende Übersetzerin. Selbst die derbsten Passagen, ganz egal, ob es um Sex oder Gewalt geht, tragen diese poetische Grundstimmung. Ob aus dem Spanischen oder Portugiesischen: Was Marianne Gareis überträgt, ist lesenswert.

35 Tote

Sergio Álvarez, Suhrkamp

35 Tote

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